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poetischer Mittel, mit denen der (jugendliche) implizite Leser auf Augenhöhe angesprochen wird. Eine andere Variante der Ansprache der Adressatinnen und Adressaten ist die der Doppeladressierung, bei der Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen als Adressatinnen und Adressaten in den Text eingeschrieben sind5. Dazu werden Vertextungsmittel eingesetzt, die unterschiedliche Lesarten erlauben, z.B. eine Lesart auf der Handlungsebene (für die kindliche Leserschaft) und eine auf der tieferen Bedeutungsebene (für die Erwachsenen). Auf diese Weise werden für alle Adressatinnen und Adressaten ästhetische Angebote bereitgehalten, die die realen Leserinnen und Leser je nach Interesse und literarischer Kompetenz wahrnehmen.

      Die meisten, einem breiten Publikum bekannten europäischen Volksmärchen in der Fassung ihrer Sammlerinnen und Sammler des 19. Jahrhunderts werden heute als Texte der Kinder- und Jugendliteratur gelesen, wenn sie nicht in einer besonderen textuellen oder medialen Bearbeitung, z.B. als Comic oder Musical, vorliegen. Dasselbe gilt für das Genre Album. Deshalb kann das Erzählen von Märchen oder von Zaubergeschichten ein kommunikatives Problem zwischen Erzählenden und einem – zumindest im Unterricht der Sekundarstufe I – nicht mehr kinderliterarischen Publikum darstellen. Die empirische Untersuchung der Erzählstunden wird herausarbeiten, ob und mit welchen Mitteln eine Kommunikation auf Augenhöhe zustande kommt.

      3.5 Mündlich-verbales Erzählen (4): ästhetische Konzeption fiktionaler Diskurse zwischen zwei Mündlichkeitsformen

      Die Recherche des Potenzials mündlich-verbalen Erzählens wird durch die Frage nach der ästhetischen Konzeption des fiktionalen narrativen Diskurses fortgesetzt. Leitgedanke ist, dass die mediale Mündlichkeit der narrativen Vermittlungsform ‚Erzählperformance‘ die ästhetische Konzeption des Diskurses wesentlich beeinflusst. Deshalb werden zunächst die Charakteristika der mündlichen Erzählsituation benannt (Kap. 3.5.1) und anschließend Merkmale der Anpassung des Erzähldiskurses an die mündliche Erzählsituation herausgearbeitet. Sie bestehen in der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Erzähldiskurses (Kap. 3.5.3).

      3.5.1 Die Medialität der mündlichen Erzählsituation

      Die mündliche Kommunikation von Erzählungen kann von der schriftlichen Kommunikation im Wesentlichen anhand von zwei Faktoren unterschieden werden. Der eine Faktor besteht in der direkten Form der Kommunikation, der zweite in den strukturbildenden Merkmalen der als Medium aufgefassten Mündlichkeit.

      In der direkten Form, der face-to-face-Kommunikation, stehen sich die Kommunikationspartnerinnen und -partner ohne vermittelnde Instanz gegenüber. Es handelt sich um eine

      […] elementare Konstellation, in der (mindestens) zwei Aktanten miteinander kommunizieren. Beide haben an einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum teil, worauf sich der Ausdruck ‚face to face‘ mit Blick auf die wechselseitige visuelle Wahrnehmung bezieht. Die Hervorhebung der visuellen Wahrnehmung lässt den Ausdruck besonders zur Bezeichnung nonverbaler Kommunikation geeignet erscheinen. Übertragen auf die akustische Wahrnehmung, bezeichnet er aber auch insgesamt die für die Sprechsituation kennzeichnende gleichzeitige Präsenz von Sprecher und Hörer (Diskurs), die bei vermittelteren Kommunikationsformen (Text) aufgegeben ist. (Ehlich 2007: 5)

      In der Hier-und-Jetzt-Situation (Bühler 1965: 102) sind die Kommunikationspartnerinnen und -partner gleichzeitig präsent und kommunizieren über dasselbe räumliche und zeitliche Zeigfeld. An der direkten Kommunikation ist die Körperlichkeit der gleichzeitig präsenten Partnerinnen und Partner beteiligt: Auge, Ohr, Stimme, Bewegung, Gesichtsausdruck, Stimmung, Gefühle. Damit sind mehrere Zeichensysteme im Spiel, neben dem verbalen das akustische und das visuelle.

      Strukturbildende Merkmale des Mediums Mündlichkeit sind die Linearität der Produktion und Rezeption, die Irreversibilität und Flüchtigkeit des Gesprochenen (Zollna 1999: 14).

      Im Rekurs auf intermediale literaturwissenschaftliche Ansätze (Wolf 2002b: 163-192, Wolf 2002a: 23-104, Rajewsky 2002: 7) kann die narrative Vermittlungsform ‚Erzählperformance‘ als eine medienspezifische Gattung bzw. selbst als Medium aufgefasst werden. Wolf definiert Medium als ein

      […] distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv. Dieses ist in erster Linie durch einen spezifischen (z.B. symbolischen oder ikonischen) Gebrauch eines semiotischen Systems (Sprache, Bild), in manchen Fällen auch durch die Kombination mehrerer Zeichensysteme […] zur Übertragung kultureller Inhalte gekennzeichnet und erst in zweiter Linie […] durch bestimmte technische Medien bzw. Kommunikationskanäle. Medium in diesem Sinne umfasst also die traditionellen Künste mit ihren Vermittlungsformen ebenso wie neue Kommunikationsformen, gleichgültig, ob ihnen – ein ohnehin heute vielfach problematisierter – Kunststatus zuerkannt wird oder nicht.“ (Wolf 2002b: 165)

      Die Erzählperformance stellt dieser Definition zufolge eine narrative Kunstform dar, die in direkter, mündlicher Kommunikation zwischen Erzählenden und ihrem Publikum hervorgebracht wird.

      3.5.2 Mediale Mündlichkeit vs. konzeptionelle Mündlichkeit

      Die Medialität der Mündlichkeit (Kap. 3.5.1 und Kap. 4.2) stellt nur die eine Seite der mündlichen narrativen Präsentationsform dar. Die zweite Seite erschließt sich, wenn man das Phänomen der Mündlichkeit unter konzeptionellem Aspekt aus werkinterner Perspektive betrachtet. Konzeptionelle Mündlichkeit bedeutet im Unterschied zur medialen Mündlichkeit die innertextuell bzw. diskursintern konstruierte Mündlichkeit eines Textes bzw. eines Diskurses. Diese wird erzeugt durch Bezugnahme auf die Merkmale medialer Mündlichkeit1. Der Text bzw. der Diskurs versucht damit, über seine mediale Verfasstheit hinauszuweisen und Gegenwärtigkeit zu simulieren. Das Phänomen der Mündlichkeit unter beiden Aspekten, dem medialem und dem konzeptionellem Aspekt, zu betrachten, ist für die Recherche des Potenzials mündlichen Erzählens und für Analyse der Erzählperformances der Studie aus folgenden Gründen relevant:

      1 Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit stellen unterschiedliches ästhetisches Potenzial für den Fremdsprachenunterricht bereit, das sich vor allem im Zusammenhang nutzen lässt. Während die mediale Mündlichkeit ein breites Spektrum plurimedialer Zeichen zur ästhetischen Gestaltung bereithält, verfügt die konzeptionelle Mündlichkeit nur über monomediale, sprachliche Zeichen. Bei der Realisierung der mündlichen Präsentation der Erzählung als Performance müssen die Zeichen aufeinander bezogen werden, um ihr jeweiliges Potenzial und ihr (aufeinander bezogenes) Gesamtpotenzial zu entfalten. Wie die Beziehung gestaltet wird, hängt von der ästhetischen und pädagogischen Konzeption der Erzählperformance ab.

      2 Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit sind unterschiedlichen Welten zuzuordnen, die im Augenblick der Produktion und Rezeption gleichzeitig gegenwärtig sind. Während die mediale Mündlichkeit Teil der realen Welt ist, wird die konzeptionelle Mündlichkeit künstlich erzeugt. Sie gehört zur ästhetischen Illusionsbildung. Beide Aktionen, das Erzählen in direkter Kommunikation durch reale Erzählende und die Erzählung der Handlung und die Dialoge der Figuren, spielen sich in unterschiedlichen Handlungsräumen ab, dem realen und dem imaginären Raum des Fiktionalen. Die erzählte Geschichte ist immer nur Repräsentation von Zeiten, Orten, Geschehnissen, Handlungen und Dialogen, die sich nicht in der real ablaufenden Zeit abspielen. Und genau das ist der Grund dafür, dass ein Text / ein Diskurs zu Mitteln greift, um die Gegenwärtigkeit seiner Welt mit dem ihm zur Verfügung stehenden verbalen Mitteln vorzutäuschen, d.h. zur Strategie des Mündlichkeitsbezugs zu greifen. Die konzeptionelle Mündlichkeit hält strukturelles Potenzial bereit, um die beiden Welten für die Zeit der Rezeption in eine Beziehung zu bringen, die die Rezeptionsdisposition der Zuhörerschaft steigert. Konzeptionelle Mündlichkeit erzeugt Spannung, involviert die Zuhörer in das fiktionale Geschehen.

      3 Konzeptionelle Mündlichkeit kann in einer weiteren hörerbezogenen Funktion eingesetzt werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Diskurs, der seinen mündlichen Rezeptionsmodus mitbedenkt, anders gestaltet wird als ein ausschließlich zur schriftlichen Rezeption produzierter Text. Der Mündlichkeitsbezug stellt Mittel zur Diskursstrukturierung zur Verfügung, die darauf ausgerichtet sind, den Rezeptionsmodus in Mündlichkeit zu berücksichtigen, d.h. die Prozesshaftigkeit, Flüchtigkeit und Irreversibilität der mündlichen Rezeption (Kap. 3.5.1)

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