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Erlebnisqualität die Tellability des Narrativen begründet.

      Aus werkinterner Perspektive wird Erzählwürdigkeit auch an der Realisierung inhaltlicher Narreme festgemacht. Diesen Weg geht Ehlers lesetheoretischer Ansatz. Für sie ist erzählwürdig, was in einer Erzählung aus dem Alltäg­lichen heraustritt:

      Das Erzählen setzt dort ein, wo das Kontinuum von Alltagserfahrungen unterbrochen wird, um hervorzutreiben, wofür es keine Einordnung gibt: das Neue oder das Besondere. Je nach Wahrnehmung lassen sich Phänomene, die zum erzählerischen Antrieb werden, als neu, besonders fremd oder anders kategorisieren. Ereignisse, die nicht einordbar sind, sich dem kanonischen Wissen, dem Regelhaften und Konventionalisierten entziehen, besitzen eine Signifikanz. (Ehlers 1998: 199)

      Erzählenswert in diesem Lichte ist das, was die Leserinnen und Leser irritiert, was sie zur Reflexion auffordert. Ehlers geht über die werkinterne Perspektive hinaus, indem sie Erzählwürdigkeit auch aus deren Perspektive definiert. Um das Neue oder das Besondere zu würdigen, müssen die Rezipierenden ihr Wissen über den der Erzählung zugehörigen Kulturraum aktivieren. Nur so können sie verstehen, „was jeweils die Basis des Alltäglichen und Bekannten ist und was innerhalb einer Kultur als neu oder besonders und somit für erzählenswert gilt“(a.a.O.).

      Für Jerome Bruner ist sind ebenfalls die in Geschichten dargestellten Alltagserfahrungen erzählenswert, weil sie, um Aufmerksamkeit zu erregen, das Besondere brauchen (1997: 64)1. Das Besondere steckt für Bruner im Durchbrechen dessen, was in einer Kultur als kanonisch gilt. Die Erzählwürdigkeit von Geschichten besteht für ihn darin, dass individuell und gesellschaftlich relevante Konflikte als menschliche Dramen so dargestellt werden, dass sowohl dem Kanonischen als auch dem Durchbrechen des Kanonischen Sinn und Bedeutung verliehen wird. Bruners kulturpsychologisches und Ehlers lesetheoretisches Konzept treffen sich dort, wo die Sinngebung letztlich durch die Interpretationsleistung der Rezipierenden erfolgt. Beide Konzepte sind für das interkulturelle Lernen anhand literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht von Relevanz.

      Zur Erzählwürdigkeit auf werkinterner Ebene trägt auch die den syntaktischen Narremen zuzurechnende thematische Einheitsstiftung (Wolf 2002a: 50) bei. Die Zentrierung auf eine die gesamte Erzählung leitende Problematik schafft als ‚roter Faden‘ der Erzählung inhaltliche Kohärenz. Viele Märchen beziehen aus diesem Phänomen ihren Kanon-Status. Sie stehen – prototypisch – für anthropomorphe Verhaltensweisen wie Neugier, Verführung, Schlauheit usw. Dieser Aspekt von Erzählwürdigkeit kann von den Rezipierenden im Fremdsprachenunterricht zur Unterstützung des Verstehens genutzt werden. Diesen Aspekt verstärkt m. E. ein weiteres syntaktisches Narrem, die Teleologie, die der formal-erzähllogischen Einheitsstiftung zuzurechnen ist. Mithilfe dieses Narrems kann die Abfolge der Handlungen und Geschehnisse so gestaltet werden, dass die Rezipierenden entdecken, worauf die Handlung abzielt, und damit in emotionale und / oder intellektuelle Spannung versetzt werden.

      Beim mündlich-fiktionalen Erzählen im Fremdsprachenunterricht wird als ein wichtiger werkexterner Faktor der Lernstand der Lerngruppe zu beachten sein. Aber auch das Alter der Lerngruppe, aktuelle Modeerscheinungen, bisher erworbene literarische Kompetenzen der Lernenden u.a.m. sind zu bedenken. Für die empirische Untersuchung interessant ist die Wechselwirkung zwischen werkexternen und werkinternen Faktoren. So ist es möglich, dass die Lernenden die Erzählwürdigkeit der gehörten Geschichte übereinstimmend auf Seiten der inhaltlichen Narreme sehen, während die Lehrkraft eher auf die qualitativen Narreme bei der Textauswahl setzt. Möglich ist auch eine individuell unterschiedliche Wahrnehmung und Beurteilung innerhalb der Lerngruppe.

      Als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Erzählwürdigkeit ergeben sich weitere narrationsspezifische Aufgaben für die Akteure der narrativen Interaktion. Die Lehrkräfte als Erzählende haben die Aufgabe, die Erzählwürdigkeit der ausgewählten Geschichte auf werkinterner Ebene aus ihrer Perspektive zu definieren, diese in Beziehung zu dem von ihnen erwarteten Rezeptionsverhalten der Lernenden zu setzen und die Erzählwürdigkeit der Geschichte in ihrer Performance zum Tragen zu bringen. Die Lernenden als Zuhörende haben die Aufgabe, in der direkten Kommunikation Erzählwürdiges wahrzunehmen und dessen Erscheinungsformen für das individuelle Verstehen zu nutzen.

      3.3 Mündlich-verbales Erzählen (2): fiktionales Erzählen

      Da es sich bei den von den Lehrkräften ausgewählten Erzählungen um fiktionale und schwerpunktmäßig um Märchentexte handelt, wird im Folgenden das Spezifische des fiktionalen Erzählens in Mündlichkeit herausgestellt und vom konversationellen Erzählen abgegrenzt1. Die in der Literaturwissenschaft bis in die 90er Jahre kontrovers diskutierte Frage, ob Fiktionalität als eine Eigenschaft von Texten oder als eine Zuschreibung von Seiten der Rezipierenden zu verstehen ist (Hempfer 2002a: 117), ist auch für meine Studie relevant. Inzwischen besteht Konsens darüber, dass sowohl die Ebene des Textes als auch die der Rezeption zur Definition des Begriffes hinzugezogen werden müssen. Konsens besteht außerdem darin, Fiktionalität als ein ‚Spiel‘ bzw. als ein ‚Als-Ob-Handeln‘ (s. auch Barsch 2004: 181, Klinkert 2004: 30, Hempfer 2002a: 121), als ‚inszenierten Diskurs‘ zu begreifen, der die Wirklichkeit der Existenz der entworfenen Welten vortäuscht, die Rezipierenden aber auffordert, an diesem Spiel mitzuwirken. Das fiktionale Spiel realisiert sich dann, wenn beide Seiten mitspielen – wenn von Seiten des Textes eine „Einladung zum Eintritt ins fiktionale Universum“ (Genette: 1992: 49) und von Seiten der Rezipierenden „das mehr oder weniger stillschweigende Einverständnis“ (a.a.O.: 51) zum Eintritt in die Welt der Fiktion vorliegt. Eine solche Übereinkunft werde ich – in Anlehnung an den pacte auto­biographique und den Romanpakt von Lejeune – als einen pacte de fiction bezeichnen2. Damit der Fiktionalitätspakt funktioniert, braucht es einen Rahmen (z.B. den der öffentlichen Aufführung in der Institution Theater) und es braucht Rezipientinnen und Rezipienten, die sich auf den Pakt einlassen bzw. die Signale der Fiktionalen wahrnehmen können und wollen.

      Einen wichtigen Impuls zur Zusammenführung der textuellen und der pragmatischen Ebene geben Hempfers fiktionstheoretische Überlegungen, die sowohl textinterne als auch textexterne Aspekte der Fiktionalität in den Blick nehmen, so dass Fiktionalität als textstrukturelles und als interaktives Phänomen zwischen Rezipierenden und Text begriffen werden kann. Genau dieser Zusammenhang wird bei der empirischen Untersuchung eine Rolle spielen. Hempfers Ansatz liefert dazu passende Instrumente, indem er zwischen Fiktionsmerkmalen und Fiktionssignalen unterscheidet:

      Fiktionssignale sind kommunikativ relevant und damit notwendig variabel, sie garantieren, daß ein Text von den Rezipienten bei adäquater Kenntnis der zeitgenössisch jeweils gültigen Diskurskonventionen als ein fiktionaler verstanden wird – Fiktionsmerkmale sind demgegenüber Komponenten einer Theorie, die ein solches Verständnis zu rekonstruieren versucht, indem sie explizit die Bedingungen formuliert, die vorliegen müssen, um einen Text als – mehr oder weniger – fiktional einzustufen. (Hempfer 2002a: 119)

      Zentrale Fiktionsmerkmale sind die Doppelung der Sprechsituation in narrativen Texten (durch textexterne und textinterne Sprecherinnen und Sprecher bzw. reale Autorinnen und Autoren und implizite Erzählerinnen und Erzähler), ferner die bereits erwähnte ‚Als-Ob-Struktur‘ (Hempfer 2002a: 120) und eine „auffällige Ausgestaltung der textinternen Sprechsituation“ (a.a.O.). Letztere besteht in der fast unbeschränkten „Verfügungsgewalt über [die erzählte] Welt“ (a.a.O.), wie sie in nicht-fiktionalen Diskursen nicht möglich ist. Die Verfügungsgewalt des textintern Sprechenden äußert sich z.B. in den diversen Möglichkeiten der Perspektivierung und des Ausspielens erzählerischer Allwissenheit. Diese drei Merkmale lassen sich zur Modellierung der mündlich-fiktionalen Kommunikation und zur Abgrenzung des fiktionalen narrativen Diskurses gegenüber dem konversationellen Alltagserzählen nutzen.

      Was das erste Merkmal, die Sprechsituation, betrifft, so sind beim konversationellen Erzählen die mündlich Erzählenden im Augenblick des Erzählens gleichzeitig Autorinnen und Autoren3 und diskursinterne Erzählende ihrer Geschichte. Eine Verdoppelung der Sprechsituation liegt nicht vor. Beim mündlich-fiktionalen Erzählen bleibt der Unterschied zwischen Autorinnen und Autoren und diskursinternen Erzählenden erhalten. Die fiktionale Erzählsituation reguliert sich über den pacte de fiction. Die mündlichen Erzählerinnen und Erzähler

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