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(prototypische) Makrostruktur narrativer Diskurseinheiten rechnen und mich dabei auf das von Larivaille (1974: 387) entwickelte und von Reuter (1991: 46)5 aufgenommene schéma quinaire mit den fünf großen Etappen stützen.

      Ebenfalls zu den syntaktischen Narremen werde ich die von Becker (2013a) im Rekurs auf Boueke / Schülein (1991) entwickelte Kategorie des Planbruchs zählen. Der Planbruch bewirkt im Gegenzug zum Prinzip der Teleologie, „daß der ursprüngliche ‚Plan‘ der Aktanten durch ein nicht zu erwartendes Geschehen durchbrochen wird.“ (2013a: 37) Im Zusammenwirken von Zielorientheit des Geschehens und der damit verbundenen Aufgabe des Helden, Hindernisse zu überwinden, sieht Becker „ein Kriterium zur eindeutigen Definition der Erzählung.“ (a.a.O.) Zum Prinzip der Spannung, die durch Hindernisüberwindung, Planbruch, Erwarten der Lösung hervorgerufen wird, gehört für Becker als weiteres Merkmal des Narrativen die Affektmarkierung – Textelemente, die die Emotionalität der Geschichte hervorbringen. Dazu gehören u.a. die Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen und die emotionale Bewertung der Ereignisse durch den Erzähler.

      Die Kategorien des Planbruchs und der Affektmarkierung können durch die von Ahrenholz (2006b: 95, 106) im Rekurs auf das Quaestio-Modell entwickelten Kategorien der Haupt- und Nebenstrukturen ergänzt werden. In diesem narrationstheoretischen Bezugsrahmen gilt als Hauptstruktur das Handlungsgerüst der Geschichte, das „prototypische Rückgrat des Narrativen“ (Wolf 2002a: 46). Als Nebenstrukturen werden die den „Kern des Narrativen“ (a.a.O.: 45) erweiternden Elemente wie z.B. Beschreibungen von Figuren, Stimmungen, Gefühlen angesehen. Nebenstrukturen stellen wie die Prinzipien der Teleologie und Kausalität typische, aber nicht notwendige narrative Narreme dar.

      Die Unterscheidung von Haupt- und Nebenstrukturen wird in die Liste sowohl der inhaltlichen als auch der sytaktischen Narreme aufgenommen: als Erweiterung des ‚prototypischen Rückgrats des Narrativen‘ und als Beispiel zur Herstellung semantischer Kohärenz. In dieser Funktion werden sie im Kontext der Erarbeitung von Kriterien zur Analyse produktiver Narrativierungsleistungen eine wichtige Rolle spielen.

      3.1.2 Funktionen des Prototypen: Illustration und Operationalisierung, Stimulus und Gradmesser des Narrativen

      Der Prototyp des Narrativen übernimmt im intermedialen Erzählmodell vier wichtige Funktionen, die auch im Kontext meiner Studie relevant sind.

      1 Auf der Ebene der Darstellung des Modells übernimmt der Prototyp als „beste[r] Vertreter einer Kategorie“ (Bußmann 2008: 560) illustrierende Funktion. In dieser Funktion nutzt Wolf das Märchen vom ‚Ritter Blaubart‘ (2002a: 43-53). Er setzt das Märchen und mit ihm das episch-literarische Erzählen als Prototypen des Narrativen1. Anhand einer funktionalen Analyse des Märchens zeigt er, dass die o. g. qualitativen, inhaltlichen und syntaktischen Narreme die prototypischen Merkmale des Erzählens darstellen. Eine vergleichbare Funktion übernimmt in meiner Studie die Analyse des Märchens Le conte des échanges, das den beiden von mir exemplarisch untersuchten Erzählstunden als Basistext zugrunde liegt (Kap 9.1).

      2 Auf der Ebene der Konzeptualisierung dient der Prototyp der Operationalisierung (Wolf 2002a: 43) der Basiselemente des erzähltheoretischen Modells. Er schafft damit die Verbindung zwischen der theoretischen Modellierung und dem konkreten Text. Dieses Vorgehen ergibt sich aus der kognitionstheoretischen Vorannahme, dass die Narreme sich als prototypische Strukturelemente in konkreten inhaltlichen Elementen der Textebene manifestieren.

      3 Auf der interaktionellen Ebene zwischen den Rezipierenden und der Erzählung übernehmen die als prototypische Strukturelemente identifizierten Narreme die Funktion von Stimuli des Narrativen, die von den Rezipierenden wahrgenommen werden können. Sie leisten damit die Verbindung vom Text zu den Rezipierenden, indem sie letztere dazu bringen, das kognitive Schema des Narrativen zu aktivieren und für sich abzurufen.

      4 Da im kognitionstheoretischen und transmedialen Ansatz von der Graduierbarkeit des Narrativen ausgegangen wird, übernimmt der Prototyp auf konzeptioneller Ebene zusätzlich die Funktion eines Gradmessers des Narrativen.

      Die Graduierbarkeit des Narrativen impliziert, dass der Prototyp als „Kern des Narrativen“ (Wolf 2002a: 45) ein Maximum an typischen Elementen des Narrativen enthält. Aus diesen Elementen wiederum lässt sich eine Minimaldefinition des Narrativen entwickeln, die dessen Kern auf das Wesentliche so zusammenschmilzt, dass in jedem konkreten Einzelfall entschieden werden kann, was als mehr oder weniger narrativ, was noch als narrativ und was nicht mehr als narrativ bezeichnet werden kann. Diese Minimaldefinition formuliert Wolf wie folgt:

      Erzählen wäre damit […] die Darstellung wenigstens von Rudimenten einer vorstell- und erlebbaren Welt, in der mindestens zwei verschiedene Handlungen oder Zustände auf dieselben anthropomorphen Gestalten zentriert sind und durch mehr als bloße Chronologie miteinander in einem potentiell sinnvollen, aber nicht notwendigen Zusammenhang stehen. (Wolf 2002a: 51)

      Diese Minimaldefinition ist als Klassifizierungsinstrument auch für den Fremdsprachenunterricht geeignet. Auf dieser Basis können die in unterschiedlicher medialer Realisierung hervorgebrachten Produkte der Lernenden, z.B. verbale Erzählungen, Bilder, szenische Darstellungen auf ihre Narrativität hin untersucht werden. Auch der Grad der Narrativität der Produkte kann angegeben werden, denn aufgrund der Nachweisbarkeit der Stimuli des Narrativen in konkreten Werken können einerseits die Nähe und Ferne konkreter Werke oder Werkteile zum Prototypen genauer bestimmt, andererseits auch diejenigen Elemente ausgemacht werden, die den Grad an Narrativität erhöhen. Dazu zählt Wolf „konfliktbeladene und spektakuläre Handlungen“ (Wolf 2002a: 52), „die Konzentration auf spezifische Figuren“ (a.a.O.), „die Situierung der Geschichte in einer abgeschlossenen […] Vergangenheit“ (a.a.O.), „die Klarheit und Eindeutigkeit der Sinn- und Kohärenzbezüge […], ferner die Fiktionalität“ (a .a. O.) und den Gebrauch ästhetischer Gestaltungsmittel. Besonders diese Elemente der Graduierung sind für den Einsatz des Narrativen im Fremdsprachenunterricht interessant, weil sie möglicherweise Einfluss auf den Prozess der Narrativierung durch die Rezipierenden, hier die Lernenden, haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer Rezeption in der Erstsprache diejenigen Werke und diejenige mediale Realisierung, die die meisten Narreme, damit die meisten Stimuli des Narrativen bereit halten, die geringste Narrativierungsleistung der Rezipierenden verlangen, während umgekehrt, die Medien mit der geringsten Anzahl an Narremen, d.h. der geringsten Narrativität, die höchste Narrativierungsanstrengung verlangen. Aber ist das auch in der fremdsprachlichen Rezeption so? Auf diese Frage wird die Analyse der Narrativierungsleistungen der Schülerinnen und Schüler in den Erzählstunden (Kap. 9.2.3, 9.3.3, 9.4) eingehen.

      Um die Nähe und Ferne zum Prototypen und den Grad an Narrativität weiterer Medien geht es Wolf in seinen Ausführungen zur Realisierung des Narrativen im Medium der bildenden Kunst und der Musik. Was die bildnerische Darstellung betrifft, die in der vorliegenden Studie als Narrativierungsleistung der Lernenden eine Rolle2 spielt, so legt Wolf eine Zusammenstellung „potentiell narrativer Bilder“ (Wolf 2002a: 56) vor, zu denen zwei Haupttypen, die Bildserien und Einzelbilder, mit jeweils zwei Untergruppierungen gehören. Auch hier ist die Narrativität der Produkte anhand der Indikatoren des Prototypischen graduierbar. So besitzen Bildserien die Fähigkeit, Narratives darzustellen, Einzelbilder sind eher geeignet, Narratives zu indizieren. Das Medium der (Instrumental-)Musik bietet nach Wolfs Untersuchungen den geringsten Grad an Narrativität, da es lediglich Geschichtenanaloga hervorbringt, also „quasi-narrativ“ (a.a.O.: 96) funktioniert und deshalb von den Rezipierenden die höchste Narrativierungsanstrengung verlangt.

      Das abschließend von Wolf entwickelte Modell des narrativen Potenzials unterschiedlicher Medien (s. Schema 3 in Wolf 2002a: 96) erfasst die von ihm untersuchten medialen Darstellungen des Narrativen und den jeweiligen Anteil an werkinternen Narremen und rezipientenseitiger Narrativierung. Aus dem Modell „ergeben sich drei grobe Typen innerhalb des Skalars zwischen maximaler und minimaler werkseitiger Narrativität“ (a.a.O.): erstens „geschichtendarstellende, genuin narrativ verwendbare Medien“ wie literarisch-episches Erzählen, Drama, Film, in Teilen auch Bildserien, zweitens ein „als narrationsindizierendes […] narrativ verwendbares Medium“ wie das Einzelbild und drittens das „quasi-narrativ verwendbare Medium der (Instrumental-)Musik“ (a.a.O.).

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