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aber nicht.

      Dann werden die Einwohner der Stadt dargestellt; die Schatten ohne Körper, ohne Blut, ohne Knochen. Die Leere ist der wichtigste Wesenzug des Todes; es sieht so aus, als gäbe es etwas, aber es gibt nichts. Dem Wort exsangues (443) steht die Beschreibung von Tisiphone entgegen: Nicht nur in ihrer Kleidung (blutbefleckter Mantel) und in ihren Komplementen (blutige Fackel), sondern auch im Gifttrank – überall gibt es Blut. Es ist das Leben und die sich von Blut nährende Macht des Bösen.

      Aber leer oder nicht, jeder muss die Pflicht weiter erfüllen, die er auch auf der Erde hatte. Die Rangordnung wird streng respektiert, sogar im Jenseits. Der Tod macht alle ohne Ausnahme im Moment seines Erscheinens auf der Erde gleich; in seinem Königreich bleibt alles, was es war. Bömer erklärt, „es ist eine alte, seit der Nekyia bekannte und verbreitete Auffassung, daß der Tote in der Unterwelt den Beschäftigungen nachgeht, die er auch im Leben ausgeübt hat“69. Und Haupt denkt, Ovid „folgt auch Platon“70 in dieser Ansicht. Ovids Text ist überhaupt nicht revolutionär. Der Ausdruck imi tecta tyranni (444) „is clever, but hardly a subversive allusion to Augustus“71; Augustus lebte eigentlich nie in einem Palast, denn die Domus Augustana et Flauia auf dem Palatin wurden von seinen Nachkommen erbaut. Bömer erläutet, „das wäre wenigstens endlich einmal ein handfester Affront gegen den Kaiser“72 und sicher ist, dass Ovid kein Problem mit dem ‚Pater Patriae‘ haben wollte.

      Juno setzt sich in Bewegung. Wie Bernbeck richtig sagt, unterbricht die Beschreibung der Unterwelt die Handlung unserer Geschichte: „Für volle 15 Verse bleibt der Leser im Unklaren, was Juno tut und was mit Ino geschieht“73. Zum ersten Mal beschreibt ein Schriftsteller den Besuch einer olympischen Gottheit in der Unterwelt; bis jetzt hatten entweder nur die Boten der Götter oder die Helden diesen Wohnort betreten. Dies ist m.W. die wichtigste Neuerung von Ovid in Bezug auf Homer und Vergil: Beide lassen einen Helden (Odysseus – Aeneas) zur Unterwelt hinabsteigen; Ovids Text übertrifft alle, denn er lässt eine Göttin – und was für eine Göttin, Jupiters Frau! – die Unterwelt betreten. Ovid spricht eine deutliche Botschaft aus: Um das Übel zu provozieren, muss man die Grenze der ‚Normalität‘ überschreiten.

      Juno kommt in ‚die den Göttern verbotene Stadt‘, weil sie ein klares Ziel hat: Athamas und Ino den WahnsinnWahnsinn zu schicken. Bernbeck erklärt, warum Juno so deutlich die Erwartungen des Lesers übertrifft: „Als unsterbliche Wesen und Inbegriff des Lebens haben die Götter nichts mit der Welt der Toten gemein, und daher erscheint es unvorstellbar, daß sie das Reich des Todes betreten könnten“74. Darüber hinaus stellt die Unterwelt nicht nur eine Art von den Göttern ‚verbotener Stadt‘ dar, sondern diese müssen sogar vermeiden, in Kontakt mit den Göttern der Unterwelt zu treten: AtheneAthene betritt das Haus des NeidNeids nicht (Met. II 766–767OvidMet. II 766–767) und Ceres kann den Hunger nicht begleiten (Met. VIII 785OvidMet. VIII 785)75.

      Letztlich liegt Ovids Wagemut in der Reise zur Unterwelt selbst, nicht im Gespräch mit den Erinnyen. In der Tat präsentiert auch Vergil Juno, indem sie mit Allekto direkt spricht, ohne Mittelsperson; JunoJuno aber steigt nicht zur Unterwelt hinab, sondern sie ruft Allekto von der Erde aus, damit die Rachegöttin aus dem Tartaros heraufkommt. Für die Römer konnte keiner der superi in die infera hineingehen. Allerdings waren allen die mit der Unterwelt verknüpften Beinamen von Juno und JupiterJupiter bekannt; Bömer erklärt, „wo [wir] im römischen Bereich etwa Iuno inferna oder Iuppiter Stygius begegnen (II 261), handelt es sich um poetische Konstruktionen oder Vorstellungen der Griechen“76. Nach ihm hatten die Griechen seit Aristophanes’ Die Frösche kein Problem damit, dass ein olympischer Gott in die Unterwelt ging.

      Der Anlass der Reise wurde von Ovid selbst ausgesprochen: odia et irae (448). Der HassHass führt unabänderlich zur Hölle. Bömer beteuert, „odia et irae werden hier ohne Rücksicht auf philosophische Differenzierungen (Cic. Tusc. IV 21CiceroTusc. IV 21 odium ira inueterata: Chrysipp. Frg. 397f. SVF III 96fChrysipposFrg. 397f. SVF III 96f von Chrysippos .) poetisch zu einem Hendiadyoin, dem die inhomogene, vielleicht nur äußerlich zur Vermeidung der Synaloephe gewählte Verbindung (IV 341) von Plural und Singular einen besonderen Reiz verleiht“77. Junos Anwesenheit in der Unterwelt ist die fabelhafte Weise, die Ovid gefunden hat, um die ‚Größe‘ des Hasses von JunoJuno zu zeigen: Sie ist zu allem fähig, um ihr Ziel zu erreichen, sogar den Weg und den Ort zu betreten, die kein anderer olympischer Gott vor ihr betreten hatte. Schließlich entspricht die Reise von Jupiters Gemahlin in die Unterwelt dem Maße ihres Hasses und ihres Zorns: Die sind so groß, dass sie die kosmische Ordnung zu brechen wagen.

      Daraufhin bereitet Ovid den Leser auf Junos Rede vor, und zwar durch aufeinander folgende Geräusche von Stimmen, die ihre Ankunft hervorruft. Zunächst ächzt die Schwelle, wie auch Charon seufzte, als Aeneas in das Boot stieg78. Im Gegensatz zu den Schatten der Toten ist Juno nicht gewichtlos. Mit diesem Bild vergleicht Ovid zwei Szenen: genau wie sich die Schwelle der Unterwelt unter Juno bog, so werden Ino und Athamas’ Flügeltore aus Ahorn vor dem Erscheinen von Tisiphones erblassen. Der Unterschied liegt darin, dass die Erinnyen die Göttin erkennen, aufstehen und Juno entgegengehen; Ino und Athamas aber fliehen entsetzt vor Tisiphone.

      Dann bellt Kerberos79 mit seinen drei Mäulern einstimmig80. Merkel zieht die Lektüre von λ3 hinzu: simul. Bei Vergil spielte Kerberos eine bestimmte literarische Funktion: Die Sibylle musste ihn durch eine Honigtorte und mit Zauberkraut ablenken81; bei Ovid, „hat der Vorgang … keine dramaturgische Bedeutung, Iuno nimmt auch von den tres latratus keine Notiz“82. Es sieht so aus, als ob dieses Bild ein Tribut an die Tradition sei83. Zuletzt ruft Juno die Erinnyen.

      Der Leser kommt nun zu einem besonderen Ort, dem Kernpunkt der Unterwelt. Vergil84 hatte den Tartaros als eine Befestigung beschrieben, wo Tisiphone (555) war. Aeneas konnte diesen eigentlich nicht betreten (563), denn er war eine reine Person; Juno, die eine olympische Göttin ist, hat trotzdem kein Problem, um das Innerste des Auernus zu betreten. Da sind die aus Stahl85 gemachten Tore, nicht geöffnet, sondern geschlossen, und die Töchter der Nacht86, die Erinnyen, sind ihre Wächterinnen. Bömer erklärt, „diese ‚Pforte der Unterwelt‘ bedeute seit Homer wie die biblischen ‚Pforten der Hölle‘87 zunächst natürlich die Tore selbst, den Eingang, dann aber auch die Unterwelt überhaupt“88. Anderson behauptet seinerseits, „Ovid turns the traditional Tartarus into a Roman prison“89. Ovid vermeidet das Getöse von Ketten, Geschrei und Seufzern, von dem man in Aen. VI 557–559VergilAen. VI 557–559 lesen kann, aber er unterstreicht das Seufzen der Schwelle durch Junos Anwesenheit. Dies hat einen doppelten Grund; die königliche Aura von JunoJuno und ihre Körperlichkeit.

      In Bezug auf die Erinnyen ist es möglich, dass sie mit den Κῆρες von Hesiod (ThHesiodTh. 217. 217 )90 zu identifizieren sind. Nach Chadwick und Baumbach könnte dieser Name aus dem Mykenischen91 abgeleitet werden. Bömer erklärt, „als Namen der ErinyenErinyen werden, nicht vor der hellenistischen Zeit, Megaira, Teisiphone und Al(l)ekto genannt“92. Aélion93 fragt sich, ob diese nicht die Personifikation eines abstrakten Begriffes seien; sie wurden eigentlich in grauer Vorzeit als die Seelen von ermordeten Personen, die Rache forderten, betrachtet. Die französische Forscherin denkt, „les Erinyes sont les agents personnifiés qui veillent à l’accomplissement d’une volonté, vengeance humaine ou châtiment divin“94. In den homerischen Gedichten sieht es so aus, als hätten die Erinnyen eine doppelte Funktion, nämlich als Vollstreckerinnen der Rache und als Wächterinnen der Rangordnung; deswegen bestrafen sie den Mord innerhalb der Familie bzw. den Eidbruch. ApollonApollon und AtheneAthene schaffen in Aischylos’ Die Eumeniden die alte Pflicht der Erinnyen ab und geben ihnen dafür eine neue: Sie werden die Garantinnen der Gerechtigkeit und des Wohlstands der Stadt AthenAthen. In der lateinischen Epik wird ihnen Juno einen neuen Auftrag geben: Sie werden die Vollstreckerinnen ihrer Rache. Das geschieht offensichtlich in diesem Mythos, denn weder Athamas noch Ino haben jemanden getötet und weder die kosmische noch die soziale Ordnung gebrochen, als sie Dionysos erzogen haben. Und trotzdem beaufragt HeraHera Tisiphone, ihre Rache durchzuführen. Das ist völlig neu.

      Die weibliche Natur der Erinnyen bleibt nicht unberücksichtigt. Padel95 bestätigt, dass der Hades und die Frauen eine unsichtbare und potenziell destruktive Gewalt haben. Aischylos machte sie in dem Stück Die

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