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erste Thema dieser kleinen Einleitung zu Ovid ist die Zuverlässigkeit des Textes dieses Dichters: Inwiefern sollen die von Ovid präsentierten Überlieferungen in Erwägung gezogen werden? Lafaye stellt eine offensichtliche Tatsache fest: „Si nous comparons Ovide à certaines œuvres étendues, que nous possédons dans leur intégrité, les différences nous sautent aux yeux, et nous en relevons un grand nombre“1. Selbstverständlich geschieht es nicht in den Textstellen der Grammatiker2, die eher Übereinstimmungs- als Unstimmigskeitspunkte mit der üblichen Version des Mythos von Athamas darbieten. Das ist nicht erstaunlich, denn diese Texte sind normalerweise kürzer als die literarischen und konzentrieren sich infolgedessen auf das Wichtigste, wobei alle Traditionen im Standardfall übereinstimmen, indem sie die Abweichungen der Einzelheiten beiseite lassen. In den umfangreichen Erzählungen, wie z.B. der von Apollodor und Nonnos im Griechischen oder Hygin im Lateinischen, sind die Unterschiede ja offenkundiger.

      Es scheint, dass die Erzählungen bei Ovid, Lafaye zufolge, oft eine Mischung des Materials von drei oder vier früheren Autoren sind: Beos, Nikandros, Parthenios und Theodoros. Es ist ganz klar, dass Ovid nichts ex nihilo geschaffen hat, sondern dass er sich in eine bestehende literarische Tradition eingefügt hat; Lafaye geht weiter: „Ovide n’a pas pu ignorer les poèmes où les Alexandrins avaient chanté des métamorphoses“3. In der Tat kann man diese Vorliebe von Ovid für die Alexandrinischen Dichter in der Detailliertheit der ovidischen Beschreibungen, die die Verwandlung in eine Person, in ein Tier oder in einen Felsen schildern4, bestätigen. Im Mythos von Athamas gibt es ein Paradoxon: Einerseits hält sich Ovid nicht bei der Metamorphose der Sidonien in Vögel auf, andererseits aber beschreibt er bis ins kleinste Detail ihre Umgestaltung in Felsen.

      Lafaye glaubt, „il est probable que des épopées anciennes, telles que le Catalogue des femmes, ou les Théogonies heroïques, ou les Chants de Naupacte, ont exercé une certaine influence sur l’auteur des Métamorphoses“5. Jedenfalls warnt er m.E. treffend vor all den Gelehrten, die bei den lateinischen Autoren ständig einen Imitationsfall des griechischen Musters sehen wollen; gewiss beeinflusste die griechische Literatur stark die lateinische – wer kann das leugnen? –, aber es ist auch richtig, dass diese Literatur unabhängig aufblühte und sich im Laufe der Zeit selbstständig entwickelte; mit anderen Worten, man kann nicht – und darf auch nicht – die lateinische Literatur durch die griechische exklusiv erklären und erläutern.

      Galinsky geht in seinen Behauptungen weiter: „Ovid uses the tradition of most myths only as a framework for his own inventions and elaborations which are determined, besides the principle of reterre idem aliter, by ad hoc purposes without any regard for overall consistency“6. Galinsky rechtfertigt seine These über den Mythos von Athamas in den Metamorphosen folgendermaßen: Der Kern der in diesem Buch genannten I-L-M-Version ist Athamas’ WahnsinnWahnsinn und Inos SprungSprung; „Ovid spends nineteen lines on telling these events (4512–30) and five times as many on telling their antecedents (4416–511), especially Juno’s visit to the underworld“7. Nach dieser Meinung gilt Ovid eher als ein Erfinder als ein treuer Befolger der Tradition; Bernbeck ist auch dieser Ansicht: „Ovid hat in den meisten Fällen den Stoff frei behandelt und sich weit von seinen Vorbildern entfernt“8. Bömer behauptet sogar, „die klassische SageSage interessiere ihn weniger als frei gestaltete Szenen, für die die klassische Sage nur Hintergrund und Motivation abgibt“9.

      Meiner Meinung nach gibt es ja einen Wechsel des Blickpunkts in der Erzählung von Ovid, aber das ist kein ausreichender Grund zu der These, dass Ovid die Tradition für seine eigenen Erfindungen verwendet. Ovid entwickelt einen bis dahin nicht genug vertieften Aspekt, erfindet aber weder Junos ZornZorn noch ihre Rache noch das Zutun der Erinnyen im Mythos von Athamas10. Es ist eigentlich die zweite Kategorie, mit der Castiglioni Ovids persönliche Eigenart in einigen Erzählungen der Metamorphosen erklären will: „Con accenni ad abitudini e particolari di vita romana e con bizzarri scherzi del poeta, oppure con l’aggiunta d’intere parti importanti, che sembrano non essere state trattate affatto dai poeti a lui precedenti“11. Die Hauptkennzeichen der LegendeLegende sind aber ohne relevante Wechsel erhalten; er bricht nicht mit der Tradition, sondern er entwickelt einige Zweige desselben Baumes weiter. Ferner weist Bernbeck auf Folgendes hin: „Aus diesem vielfältigen Material hat Ovid herausgegriffen, was am besten in seinen Zusammenhang paßte und die Verbindung zu den umgebenden Erzählungen verstärkte“12. Dies gilt aber für jeden literarischen Autor.

      Andererseits ist oft nicht klar, was bei einem Autor Erfindung ist oder nur die Aufnahme einer uns unbekannten Tradition oder Quelle. Richtig ist, dass die Autoren innovieren und erfinden sollen, aber es ist auch sinnvoll, dass sie zumindest am Startpunkt von einer dem Publikum (auch dem gebildeten Publikum seiner Epoche) vielleicht weniger bekannten Tradition ausgehen. Darüber hinaus muss man beachten, was der Kernpunkt des Mythos und was ein späterer Zusatz ist, wie Castiglioni hinweist: „Si può ragionevolmente credere che la situazione prima della leggenda di Ino e Atamante non si restringesse, in una trattazione più ampia, al nudo cenno consueto dei mitografi, come Apollodoro (III, 28 W.) ἀγανακτήσασα δὲ Ἥρα μανίαν αὐτοῖς ἐνέβαλε“13.

      Schließlich muss man m.E. den starken innovativen Anteil Ovids betonen14, er sollte aber nicht als ein Schriftsteller angesehen werden, der total mit der Tradition bricht oder sie für seine eigenen Ziele benutzt. Dieser Meinung ist auch Castiglioni in seinem Kommentar zu den Metamorphosen: „Conviene riconoscere che Ovidio, pure ampliando di tanto l’episodio di InoIno e Atamante, non si metteva in contrasto stridente, nè con l’indole della leggenda nè con le sue possibili trattazioni letterarie“15. Obwohl man zugeben könnte, dass alle Erneuerungen auf Ovids Erfindung zurückgeführt werden können, bleibt diese Innovation doch auf das innere Schema der Erzählung beschränkt. Mit Anderson kann man behaupten, „Ovid tells a story that he has selectively organized from traditional details and personal improvements, to carry his unique stamp“16.

      Interessant ist meiner Meinung nach Galinskys Darlegung, wie Ovid eine Sammlung von Erzählungen vereint; ein Beispiel kann man in Cadmos’ Zyklus sehen: „He states a theme – in this case, the evils befalling Cadmus’ family (3135–9)– and then makes it recur often enough, like a leitmotif, to suggest the underlying unity“17. Nicht alle Geschichten sollten mit diesem ‚leitmotif‘ verbunden werden, auch andere Erzählungen können absichtlich hinzugefügt werden, um die Aufmerksamkeit des Lesers abzulenken18.

      Ein weiteres wichtiges Thema ist, inwiefern Ovid andere Autoren nachahmt. Vergil ist selbstverständlich der Autor par excellence, der als Inspirationsquelle gilt. Der stärkste Einfluss wird in Junos Abstieg zur Unterwelt offenbar. Galinsky zufolge setzt Ovid als Ziel, „to play with motifs from Vergil’s underworld description“19. Bernberck meint, bei der Beschreibung des Tartaros „bildete das VI. Buch der Aeneis den literaturgeschichtlichen Hindergrund“20. Noch kühner formuliert Bömer: „Im Detail ist natürlich der Descensus des Aeneas im VI. Buche Vergils von so bestimmendem Einfluß gewesen, daß bei aller Freiheit, die sich Ovid der klassischen Schilderung Vergils gegenüber wahrt, sowohl der Descensus als auch die Tisiphone-Szene (IV 473ff.) ohne die Bücher VI und VII der Aeneis nicht vorstellbar sind“21. Derselben Meinung ist Castiglioni, der über diese Szene rigoros sagt: „Notevole in lui è l’imitazione da Vergilio“22. Der italienischer Forscher bemerkt diesen Einfluss ganz besonders in Junos Rede vor Tisiphone, die die Göttin, seiner Ansicht nach, sehr ähnlich wie in Verg. Aen. VII 286–322VergilAen. VII 286–322, vortrug: Genauso wie JunoJuno Turnus und seine ganze Familie ruiniert hat, wird diese Göttin Athamas und Inos Haus ins Unglück stürzen; und genauso wie Jupiters Frau Allektos Beihilfe in Aen. VII 323–326VergilAen. VII 323–326 fordert, um Amatas’ (341ff) und Turnus’ (415ff) Sinne zu verwirren, wird sie in Ovids Gedicht zur Unterwelt hinabsteigen, um von Tisiphone zu verlangen, Athamas’ Sinn zu zerstören (Met. IV 471OvidMet. IV 471).

      Es bestehen auch andere Motive, wie z.B. Junos Selbstgespräch. Bernbeck meint, dass es „den beiden Monologen entspricht, die bei Vergil Aeneas’ Irrfahrten und Kämpfe eröffnen (AenVergilAen. I 37. I 37ff. und VII 293ff.)“23. Aber wie Castiglione richtig bemerkt, „metafore di questo genere nella poesia ellenistica avevano il merito facile di dar luogo ad un ampio sviluppo

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