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denn „alle Einzelabschnitte werden als Handlung in der Zeit geschildert“4. Ovids zeitliche Vorstellung stimmt mit anderen Autoren, wie z.B. Nonnos, nicht überein.

      Bevor diese Textstelle analysiert wird, muss man wissen, dass Ovid ein Meister der ‚Abweichung‘ ist: Er versucht die Erwartungen des Lesers zu überraschen, vor allem wenn es um einen Leser doctus geht, der die übliche Tradition dieses Mythos gut kennt. Hershkowitz bemerkt richtig: „A major deviation occurs in the way madness appears and is used in the Metamorfosis, in which ‘standard’ scenes of epic madness, such as that exhibited in the Athamas and Ino episode, are rare, while scenes where madness should occur but does not, such as the Ajax episode, are much more frequent“5.

      Die Passage, die ausführlich auf den folgendenen Seiten untersucht wird, besteht im Wesentlichen aus Athamas’ und Inos Geschichte. Die letzte Szene, nämlich die der Versteinerung oder der Verwandlung in Tiere der sidonischen Gefährtinnen von Ino, findet sich in keiner anderen literarischen Quelle und wird in dieser Untersuchung als ein Anhang der echten Geschichte von Athamas und Ino gesehen. Die Haupttextstelle besteht aus verschiedenen Szenen.

       1’) Inos Prahlerei (416–419)

      Bacchus hat in ThebenTheben triumphiert; Pentheus hat sogar sein Leben verloren, indem er zu verhindern versuchte, dass sich der neue Gott in der Stadt durchsetzte: Semeles Sohn wird in Böotiens Hauptstadt verehrt. Unmöglich zu übersehen ist die enge Verbindung bei Ovid zwischen Bacchus und Theben und, im Hintergrund, zwischen Bacchus und Ino; Theben ist zweifellos die Stadt des neuen Gottes.

      In Bezug auf das Wort numen vom Ausdruck memorabile … | numen (416–417), der an das memorabile numen von Verg. Aen. IV 94VergilAen. IV 94 erinnert, muss man Acht geben, dass es Leseweisen gibt, die nomen statt numen haben6.

      Bacchus ist der Sieger, Ino sein Herold. Sie wird beauftragt, die Heldentaten ihres göttlichen Neffen zu verkünden7. Damit richtet sie sich allerdings gegen ihren anderen Neffen Pentheus und ihre Schwester Agave, Pentheus’ Mutter. Anderson meint, „Ino is presented as guiltless“8, obwohl sie an Pentheus’ Tod9 mitgewirkt hat. Diese Beschreibung Inos verursachte beim Leser der Antike eine unterschwellige Furcht und Misstrauen: Ino sündigt aus ὕβρις10. Wenn man übermütig prahlt, man fühle kein Leiden11, löst dies die traurigen künftigen Ereignisse aus. Es sieht so aus, als ob Ino nicht klar sei, dass sie einer großen Gefahr ausgesetzt ist, aber „Ovid hat das Schicksal der Cadmus-Tochter Ino bereits III 313 kurz angedeutet“12. Der Wortschatz beider Erzählungen verknüpft sich eng, wie z.B. im Wort matertera (Met. III 313 – IV 417OvidMet. III 313 – IV 417) zu sehen ist.

       2’) Junos Schmerz (420–431)

      Juno sieht Ino13. Bernbeck ist folgender Meinung: „Wie in der Aeneis (134ff, VII 286ff.VergilAen. VII 286) ist das die Einleitung zu einem Monolog, der gemäß der traditionellen epischen Technik in einem Entschluß gipfelt und den Anstoß für das kommende Geschehen gibt“14. In der Tat, nachdem sie Ino gesehen hat, spricht die Göttin mit sich selbst; möglicherweise deutet Ovid das berühmte Selbstgespräch Junos in Aen. I 37ffVergilAen. I 37 an, das genau mit den Wörtern haec secum15 beginnt. Im Gegensatz zum Geschehen in ThebenTheben erkennt JunoJuno Bacchus nicht und nennt ihn de paelice natus (422). Juno ist hassHasserfüllt, weil sie sich als vertrieben, machtlos und gedemütigt betrachtet.

      Drei Gründe gibt es für Inos Hybris und Junos Bitterkeit:

       A) Inos Kinder: Das ist ein neues Motiv16, das man nicht aus Ovids Text herauslesen kann; es scheint aus Niobes Geschichte zu stammen.

       B) Athamas’ Ehe: Schwierig zu erkennen ist, worin der Grund der Hybris liegt17. Bömer18 selbst meint treffend, dieser Stolz auf ihre Kinder und ihren Mann „ist im allgemeinen kein strafwürdiges Vergehen“19.

       C) Die Erziehung einer Gottheit: Dies ist das echte Motiv von Junos ZornZorn und Inos Prahlerei. Bernbeck denkt, dass Ovid mit der Reihenfolge der Gründe und ihrer Bedeutsamkeit spielt: „Erst danach nennt er die Motive für Junos Zorn, dazu noch in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Bedeutsamkeit“20.

      Bömer zufolge „läßt sich auch das Verhalten der Ino nicht mit dem der Niobe vergleichen (VI 146ff. OTIS 322f.)“21, weil, obwohl Juno sich so brutal verhält wie im Fall von Leto, Ovid hier nur die Ungerechtigkeit der Götter, Wächter der universellen Ordnung, zeigen und den Zorn der eifersüchtigen Juno betonen will. Bömer hat Recht: Ino preist Bacchus und beleidigt Juno nicht22.

      Jupiters Frau beklagt sich laut und deutlich über dieses letzte Motiv: Bacchus ist Junos echter Schmerz23. Die Göttin zählt die schon erfüllten Heldentaten von Bacchus, den sie nie nennt24, auf: Die Verwandlung der maionischen Schiffer25 (Met. III 582–691OvidMet. III 582–691); Pentheus’ Tod durch seine Mutter Agave (Met. III 511–581OvidMet. III 511–581); den WahnsinnWahnsinn der drei Minyaden (Met. IV 1–54OvidMet. IV 1–54). Sie klagt über viele ungerächte Schmerzen: Es sieht so aus, als ob Jupiters Frau nur die Macht zu weinen hätte26. Bömer meint, „die Klage über die eigene Machtlosigkeit und die stärkere Macht der anderen (posse, potentia, potestas) gehört als Topos zu Reden dieser Art, speziell zu Reden der Iuno“27. Aber Junos Charaktereigenschaft ist nicht nur von hilflosem Weinen geprägt, sondern auch von zielstrebigem Handeln.

      Dann spricht JunoJuno einen Schlüsselsatz für die Entwicklung der Passage aus: ipse docet quid agam28 (426). Und was sonst hat Bacchus bis jetzt gemacht, als Kadmos’ Tochter, den Minyaden und den tyrrhenischen Piraten den WahnsinnWahnsinn zu schicken? Wenn es einen Zweifel gab, verdeutlicht Juno selbst ihr Ziel: die Macht des furor zu verwenden (427). Nach Ovid scheint es, dass der Wahnsinn als Bestrafung mit Bacchus geboren wurde und diese Figur den anderen Göttern zeigt, wie sie diese Macht für ihren Vorteil nutzen können. Auffällig ist, dass Ovid nur für den Wahnsinn von Agave, nur für den Tod von Pentheus das Wort furor29 verwendet; für die anderen Fälle verwendet Ovid das Wort insania, indem er den von Cicero vorgeschlagenen Unterschied30 ignoriert. Zum anderen erinnert der Stachel von Vers 430 (stimulus) eher an Io. Die Folgen des furor hat Juno an Pentheus gesehen. Die Frage stellt sich, warum Ino hinter Agave nicht her sein sollte. Bernbeck fragt sich, ob die verborgene Andeutung auf Agave auf den zukünftigen Tod eines der Kinder von Ino hinweist, und er erläutert: „Das wäre ja mehr eine StrafeStrafe für den Sohn als für Ino!“31. Meiner Meinung nach ist es eine deutlich größere Bestrafung für eine Mutter, ihre Kinder unbewusst zu töten, als wenn sie selbst von fremder Hand umgebracht würde.

      Merkwürdig ist, dass das letzte Wort von Junos Rede Ino ist. Anderson sagt, dass dies bewirkt, „both to make the speech more sinister and to tease the audience’s familiarity with myth“32. Ovid bezeichnet den Zustand Ios als Wahnsinn, die als erste Sterbliche unter dieser Krankheit33 zu leiden hatte; das lateinische Verb stimulo übersetzt das griechische Verb οἰστράω. In Bezug auf cognata … exempla (430), beteuert Haupt, „in freierer Fassung des Gedankens ist adjectivisch gesetzt, was eigentlich durch den substantivischen Genetivus cognatarum oder sororum auszudrücken war“34. Dieser Forscher erklärt, dass der Ausdruck ire per exemplum bzw. exempla alicuius heißt „seinem Beispiel folgen“35.

      Hier gibt es eine Textvariante: In der Handschrift P steht furoribus – diese Leseweise ist m.E. treffend –; das heißt, dass man auf griechisch διὰ μαινῶν verstehen sollte. Die Handschrift N aber bringt sororibus. Dasselbe passiert im Vers 471: furores BMF2gHP (τὸν ̓Αθαμάντα ταῖς μανίαις ἐφελκύσασθαι): sorores NH.

      Schließlich könnte Junos Rede in drei Teile gegliedert werden, wie Bernbeck andeutet; jeder Teil entspricht der Struktur von Junos Selbstgesprächen in Aeneis.

       a) „Zuerst ein Abschnitt, der auf die bestehende Situation Bezug nimmt“36. Der Leser wird an die Ursache von Junos Bitterkeit erinnert, und ihre Klage steht im Text klar und deutlich; die rethorischen Fragen und die Anrufungen sind üblich. Dieser Teil fehlt in den Metamorphosen.

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