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Gepäck abzuholen. Er traf sich dort auch wieder mit zwei Schweizern, die er im Sommer kennen gelernt hatte. Beide lebten schon mehrere Jahre in den USA, waren aber, wie er selbst, noch nicht zur Ruhe gekommen. «Der Eine hiess Heinrich Thomen154 [und] war gebürtig aus Biberstein, Canton Aargau. Er war kaum von mittlerer Grösse, hatte röthliche Haare und war in seinem Gesicht ein wenig Sommersprossig. Er war ungefähr acht Jahre älter als ich, aber sein Wesen hatte etwas Ansprechendes für mich. Der Andere war aus Kienberg, Canton Soloturn, mit Namen Jakob Ripstein.155 Er war ein grosser, schlanker und schöner Mann mit dunkeln, ein wenig scharfen Augen [und] dunkeln, etwas lockigen Haaren. Er war rasch in seinen Bewegungen, schien lebhaften, aufgeregten Temperamentes und war ebenfalls um acht Jahre älter als ich.»156

      Gemeinsam diskutierten sie die Vor- und Nachteile verschiedener Reiseziele wie Oregon, Kalifornien und Südamerika, wobei Letzteres bald in den Hintergrund rückte, da eine Reise dorthin damals noch mit grossen Schwierigkeiten und Risiken verbunden war. «Mit Oregon oder California war das etwas Anderes. Um dahin zu gelangen, hatte man kein Meer zu kreuzen, keine Wellen, stürmische hoche See zu befürchten; das Schiff, welchem man sich anvertraute, war ein solider, starker Wagen, entweder mit Mauleseln oder Ochsen bespannt, das Steuer waren die Leitseile oder eine gute Ochsenpeitsche. […] Mit diesen zwei Männern sprach ich mehrere Mal über eine Reise dorthin, besonders nach California, denn damals hatte man bereits einige glühende Berichte über Californien gelesen, welche von einem Schweizer Captain Sutter geschrieben waren, und nach diesen Berichten hätte dieses Wunderland ein halbes Paradis sein müssen.»157 Oft erinnerte er sich auch noch an jene regnerische Nacht im November 1843, als er das magische Wort «California» zum ersten Mal gehört hatte und am liebsten sogleich in das geheimnisvolle Land am Pazifik aufgebrochen wäre. Obwohl die Verwirklichung dieser Pläne nun näher zu rücken schien, verliess er Galena ohne konkrete Abmachung mit seinen Freunden.

      Lienhard führte das gescheiterte Fichtenwald-Projekt des vergangenen Sommers zu einem guten Teil auf seine noch immer mangelhaften Englischkenntnisse zurück. Zu oft musste er sich bei wichtigen Auskünften auf andere verlassen, und dies wollte er nun endgültig ändern. In den Wintermonaten 1845/46 nahm er deshalb keine feste Arbeit an, sondern besuchte zuerst in Greenville, rund zwanzig Meilen nordöstlich von Highland, den Sprachunterricht der öffentlichen Schule, auch nahm er dort Kost und Logis bei englischsprachigen Familien. Als die Schule schloss, setzte er den Unterricht noch eine Weile in Highland fort. Als er hier wieder am Wechselfieber erkrankte, das jetzt der Jahreszeit entsprechend «Winterfieber» genannt wurde, kam er zur Überzeugung, dass er in dieser Gegend wohl nie mehr ganz gesund würde, und die Ärzte, die er darüber befragte, bestätigten seine Befürchtungen.

      Jakob Schütz allerdings wünschte sich, dass sein junger Freund in Neu-Schweizerland bliebe. Er beabsichtigte nämlich, bei seiner Farm158 einen Laden und eine Poststelle einzurichten, deren Leitung er Lienhard als Partner überlassen wollte. Die nötigen Kenntnisse sollte sich dieser in St. Louis erwerben, wozu sich, so Schütz, Kaufmann Böschensteins Geschäft gut eignen würde. Er wollte Lienhard deshalb so bald als möglich nach St. Louis begleiten, um persönlich mit Böschenstein zu reden.

      Nun wurde es eng für Lienhards eigene Pläne, und das Angebot von Schütz machte ihm die Sache nicht leichter: «Dieser Idee, obschon insoweit angenehm für mich, pflichtete ich doch nur so halb bei, dazwischen drängte sich bei mir immer der Gedanke an Californien.»159 Von Unruhe getrieben, fuhr er zuerst noch einmal allein nach St. Louis, suchte die verschiedenen Marktplätze auf und erkundigte sich nach Personen, die beabsichtigten, bald die Landreise nach Kalifornien anzutreten. Doch die Reaktion der Leute fiel durchweg enttäuschend aus: «Ich fürchte, dass damals mehr als Einer der Befragten sich einbildete, es müsse mit mir nicht richtig in meinem Hirn sein, denn viele staunten mich an, als ob ich sie um eine Luftbaloonreise nach dem Mond gefragt hätte. ‹Nach Californien reisen? Wo ligt denn solch ein Land?› Auch keine einzige der befragten Personen schien etwas entweder von California oder Oregon, noch von Personen, welche nach jenen Gegenden reisen wollten, zu wissen. Ich war daher gezwungen, mein seit Jahren gehegter Gedanken, selbst dorthin zu reisen, aufzugeben, so ungern ich dieses that.»160

      So kam es, dass er im März 1846 bei Böschenstein eintrat, um das Verkaufsgeschäft zu erlernen. Der Kaufmann hatte gerade einen neuen Gehilfen gesucht und Lienhard auf die Empfehlung von Schütz sogleich angestellt. Lohn wollte er ihm allerdings erst später bezahlen, wenn er ihn besser kenne und mit seiner Arbeit zufrieden sei. Immerhin war er bereit, Lienhard die Kost im Switzerland Boarding House zu bezahlen und ihn in seinem Laden schlafen zu lassen. Lienhard hatte sich inzwischen mit der Situation abgefunden und ging guten Mutes an die neue Aufgabe: «Unser Store war ein gemischter oder was man unter Dry goods and Groceries versteht, und wie ich glaube, ist ein solcher für ein junger Mann der Beste, um darin zu lernen. Was mich anbelangte, fand ich es durchaus nicht schwer, zu begreiffen und zu erlernen, was man mir einmal gezeigt hatte. […] Morgends, nachdem ich alles in den gehörigen Stand gesetzt hatte, kam dann Herr Böschenstein schon vom Frühstück, und ich gieng nach meinem Kosthaus, um mein Frühstück einzunehmen. Den Gedanken, dieses Jahr nach California zu gelangen, hatte ich bereits fallen lassen als Unausführbar, denn von Thomen und Ripstein hatte ich nichts mehr erfahren.»161

      Nahezu drei Wochen waren vergangen, als Lienhard sich eines Morgens wie gewöhnlich zum Frühstück im Switzerland Boarding House einfand. «Da man noch nicht zum Essen geläutet hatte, setzte ich mich ein wenig in dem Vorzimmer auf einen Stuhl nieder, als plötzlich in der Thüre ein frisch angekommener Mann erschien und ich in demselben einen meiner Bekannten von Galena sogleich wieder erkannte. Es war Heinrich Thomen von Biberstein, der mich ebensobald erkannt hatte und mir sagte, dass Ripstein auch da sei und dass sie sich jetzt zu einer Reise nach California fertig machten. Man kann sich wol kaum vorstellen, welche Gefühle dadurch mit einem Mal wieder in mir wachgerufen wurden.»162 Es waren durchaus gemischte Gefühle, denn einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich seinen zwei Landsleuten anzuschliessen, anderseits fragte er sich, ob und wie er die erst vor kurzem angetretene Stelle werde verlassen können, «ohne dadurch die Gefühle meines Prinzipalen zu verletzen».163 Auch waren seine finanziellen Mittel nahezu erschöpft, so dass er sich ausserstande sah, sich am Kauf von Ochsen und Wagen zu beteiligen. Doch Thomann und Rippstein beschwichtigten seine Bedenken, und mit ihrer Hilfe sowie einer kleinen List, ähnlich wie damals in Stäfa, gelang es ihm, ohne Streit von Böschenstein loszukommen.164 Seinen Beitrag an die Ausrüstung wollten die beiden Kameraden ihm leihen.

      Beschwingt marschierte Lienhard nun die vierundzwanzig Meilen zur Farm seines Freundes in Neu-Schweizerland zurück. «Als ich bei der Farm ankam, war Schütz westlich vom Hause mit irgend etwas beschäftigt. Wie war er überrascht, als ich so ganz unerwartet zu ihm über die fence hineinstieg! Mit einem halb verlegenen Lächeln sah er mich an, [und] als ich ihn rathen liess, warum ich gekommen sei, meinte er, das könne er nicht sagen. Als ich ihm darauf erzählte, dass ich in Gesellschaft [von] mehrern andern jungen Leute über land nach California wolle, da that es ihm wirklich leid, denn er habe etwas Anderes mit mir vorgehabt.»165 Schütz erzählte ihm, dass er beabsichtigt habe, ihm, wenn er bei ihm geblieben wäre, später seine Farm zu vermachen. «Die gütige Absicht des guten alten Mannes rührte mich»,166 gesteht Lienhard. Doch es gab nun nichts mehr, was ihn noch hätte umstimmen können. Seinem grosszügigen Freund erklärte er, dass er wünsche und hoffe, sich eines Tages auch aus eigener Kraft eine Existenz aufbauen zu können.

      Bevor er nach St. Louis zurückfuhr, kaufte sich Lienhard eine gute Doppelflinte und ein Waidmesser, «wie die Schweizerischen Scharfschützen sie tragen»,167 dann verabschiedete er sich von seinen Freunden in der Siedlung und schliesslich auch von Jakob Schütz und seiner Familie: «Schütz hatte mir noch ein paar Dollars in meine Hand gedrückt und bemerkte, dass es ihm recht leid thue, gerade arm an Geld zu sein, da er mir sonst mehr gegeben haben würde. Der Postwagen war jetzt angekommen, worin ich Platz fand und der mich bald von meiner zweiten Heimath und von meinem gutmeinenden zweiten oder amerikanischen Vater hinweg führte.»168

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