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gegen die Reichseinheit aufzuzeigen. Von einer Apologie des Reichspräsidenten scheint er aber noch weit entfernt zu sein; eher warnt er vor den Gefahren eines Übergangs zur souveränen Diktatur des Reichspräsidenten. Seine Stoßrichtung richtet sich mehr gegen den „proletarischen Klassenkampf“. Hier liegt eine thematische Verknüpfung der beiden Monographien Politische Romantik und Die Diktatur: Während die Politische Romantik die Akteure im historischen Spiegel moralisch wie politisch zu diskreditieren scheint, zielt Die Diktatur auf den grundsätzlichen Wandel. Schmitt betont, dass sein Interesse „sich nicht erst an den gegenwärtigen Diskussionen über Diktatur, Gewalt oder Terror entzündet hat“ (D XIX), und er verweist auf frühere Schriften. Rechtsphilosophisch fragt er nach der „Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, dass sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen“ (XVI); die Diktatur zeige die „Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung“. Schmitt sucht einen Zugang zu einem weiten Rechtsbegriff und will das Recht vom „Problem der konkreten Ausnahme“ (D XVII) her fassen. Daran schließt die Souveränitätslehre der Politischen Theologie an. Schmitt stellt sich dort in die Reihen der „Theorie der Gegenrevolution“ und beantwortet ein Jahr später, mit der Parlamentarismus-Schrift, die „Diktatur im marxistischen Denken“ dann mit einer Berufung auf Mussolini und den „nationalen“ oder nationalistischen Mythos. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Diktatur schließt er 1927 dann erneut mit einem Verweis auf Mussolini und der Rede vom „autoritären Staat“.

      Damit ist einigermaßen geklärt, mit welchen Erwartungen Schmitt die Weimarer Entscheidung für die „konstitutionelle Demokratie“ gegen die Rätediktatur begrüßte: Mit der Diktatur des Reichspräsidenten fand er die Antwort des „Caesarismus“. Seine Grundentscheidung war damals bereits antibolschewistisch und gegenrevolutionär. Der Wille zur Reichseinheit und die Ablehnung der „Diktatur des Proletariats“ stehen am Anfang seiner Weimarer Verfassungslehre.

       III. Die Spanische Grippe und die Lehre von der „kommissarischen Diktatur“

       1. Die Spanische Grippe in München

      Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs war für Schmitts Sicht der Verfassungsgeschichte und Neigung zur exekutivstaatlichen Diktatur prägend. Huber stellte die Entwicklung detailliert dar. Unter Berufung auf Schmitt betonte er die „epochale Bedeutung des Kriegs-Ermächtigungsgesetzes“ vom 4. August 1914 als „Verfassungsereignis von epochemachendem Rang“ und „Ende des Zeitalters des ‚gewaltenteilenden Konstitutionalismus‘“69 und führte im Einzelnen aus, welche Grundrechte im „einfachen“ und „verschärften“ Kriegszustand ausgesetzt werden durften. Schutzhaft und Aufenthaltsbeschränkungen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und eine weitreichende Presse- und Briefzensur wurden zulässig. Die Kriegsverfassung organisierte die „Kriegswirtschaft“: die Ernährungsverwaltung, Rüstungswirtschaft, Energie- und Rohstoffwirtschaft und viele andere Aspekte im bis dahin ungeahnten Ausmaß. Von spezifischen hygienepolitischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Spanischen Grippe spricht Huber in seiner detaillierten Darstellung nicht. Die „zweite Welle“ der Herbstepidemie 1918 fiel mit dem Kriegsende, dem Sturz des Wilhelminismus und dem Übergang zur Verfassungsrevolution zusammen, so dass damals statt weitergehender Beschränkungen vielmehr ein „Abbau des Kriegszustands“70 erfolgte. Am 12. November 1918 wurde der seit Kriegsbeginn herrschende „Belagerungszustand“ förmlich aufgehoben.

      Schmitt erlebte Krieg und Kriegsende, Revolution, Reichsexekution und Gegenrevolution in München. Die Spanische Grippe erörterte er in seinem Werk nirgends. Eckard Michels71 hat ihre Ausbreitung gut dargestellt und dabei auch militärische Quellen berücksichtigt. Die Grippe kam im März 1918 vermutlich über französische Kriegsgefangene nach Deutschland, bildeten die Kriegsfronten doch gewissermaßen Quarantänegrenzen. In bayerischen Heeren hatte der Juli 1918 den höchsten Krankenstand mit etwa 10 %. Es gab eine Diskrepanz zwischen der internen militärischen Einschätzung und der öffentlichen Kommunikation der Grippe durch die Presse: Für die strategischen Planungen des Militärs spielte die Grippe niemals eine entscheidende Bedeutung; sie wurde medizinisch eher für gering erachtet, demoralisierte aber die Truppe, wurde unter Zensurbedingungen marginalisiert und erst nach der militärischen Niederlage als Ausrede dramatisiert. Dabei war Deutschland infolge der verzögerten Ankunft der Pandemie und des relativ gut funktionierenden medizinischen Systems weniger betroffen als andere Nachbarstaaten. Die medizinische Kenntnis der Grippe war damals noch sehr unvollkommen. Erst 1933 wurde das Influenzavirus entdeckt. Kriegsentscheidend war die Spanische Grippe nicht, die schwere zweite Herbstwelle erreichte Deutschland zudem erst nach der Kapitulation.

      Michels betont, dass gerade die Militärverwaltung über die Entwicklung der Pandemie gut informiert war und mit den Befunden strategisch umging. Die Grippe wurde in ihren Folgen nicht überschätzt, obgleich die jüngeren Jahrgänge, anders als 2020, weit stärker als die älteren betroffen waren. Die Presse wurde zensiert und nur sehr wenige behördliche Eindämmungsmaßnahmen wurden beschlossen, um die Moral der Bevölkerung nicht weiter zu schwächen. So wurde die Gastronomie nicht geschlossen, obgleich die Krankenhäuser überfüllt waren und nicht alle Patienten betreut werden konnten. Wirksame Medizin gab es nicht. Michels schreibt:

      „Die Berichte der Stimmung in der Bevölkerung der drei stellvertretenden bayerischen Generalkommandos im Herbst 1918 jedenfalls erwähnen nur einmal die Grippe: ‚Der Abfall Bulgariens, der Zerfall der Donaumonarchie, der Rücktritt Ludendorffs, die Preisgabe der nordfranzösischen Städte an der flandrischen Küste, die Bargeldknappheit und die Ernährungsschwierigkeiten, sowie die Furcht vor einer feindlichen Invasion haben bei der Bevölkerung großen Schrecken und große Sorge ausgelöst; das Auftreten der Spanischen Grippe mit zahlreichen Todesfällen mehrt die Ängstigung.‘“72

      Der Bericht stammt aus dem II. bayerischen Armeekorps. Schmitt war damals im I. Generalkommando tätig, dort auch für die Presseüberwachung und ähnliche Aufgaben zuständig. Die Spanische Grippe flaute nach 1918 langsam ab. Es gab eine dritte Welle im Frühjahr 1919, danach folgten noch „Trailerwellen eines sich erst langsam abschwächenden Virus“.73 Michels spricht insgesamt von einer „Exzessmortalität von etwa 320 000 bis 350 000 Personen“74 und einer Ansteckungsquote von „etwa 20 bis 25 Prozent“ allein 1918. Schmitt thematisierte den pandemischen Ausnahmezustand in seinen Schriften nicht, obgleich er dem Problem vor und nach 1918 in München begegnete. Medizinisch war das Virus aber noch nicht identifiziert. Irrtümlich wurde es deshalb auch mit der Mangelernährung bei Kriegsende verbunden. Auch deshalb erschien es nicht prioritär. Als Verwaltungsjurist im Generalkommando hatte Schmitt damals spezifische Einsichten in die Virus-Politik. Die Spanische Grippe wurde medizinisch, militärisch und strategisch aber nicht priorisiert. Als die Weimarer Verfassung im Sommer 1919 dann in Kraft trat, war die Grippewelle bereits abgeklungen.

       2. Jenaer Auslegung der „kommissarischen Diktatur“

      Schmitt begann erst 1924 mit der näheren verfassungsrechtlichen Analyse des Art. 48 WRV, ohne die Spanische Grippe oder die Hyperinflation von 1923 eigens zu erwähnen. Seine erste positivrechtliche Analyse präsentierte er 1924 auf der 2. Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Jena. Schmitt war kurzfristig eingesprungen. Sein Jenaer Referat geht nur mit wenigen verfassungsgeschichtlichen Bemerkungen auf die Vorgeschichte des Art. 48 ein. Schmitt geht von einem Widerspruch zwischen der „üblichen Auslegung“ und der neueren Praxis aus und versucht die Verfassungskonformität der Praxis durch eine buchstäbliche Auslegung des Textes zu erweisen, die Satz 1 Art. 48 Abs. 2 von Satz 2 entkoppelt:

      „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.“ (Art. 48 Abs. 2WRV)

      Die gängige Praxis suspendierte

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