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1915 bis 1921 oder gar der Umbruchzeit von 1918/19 fehlen nicht nur einschlägige Schriften, sondern auch aussagekräftige briefliche Zeugnisse und andere Quellen. Das Tagebuch bricht Ende 1915 ab und beginnt erst im Spätsommer 1921 wieder mit dem Wechsel nach Greifswald. Nur wenige Briefe aus Münchner Zeit sind bisher ediert. Dass diese Jahre nach wie vor im Dunklen liegen, hat mindestens einen starken persönlichen Grund: das Scheitern von Schmitts erster Ehe mit der legendären Halbweltdame und Hochstaplerin Carita Dorotić, die sich als Gräfin ausgab und fünf Jahre jünger machte. Im Zusammenhang mit diesem Ehedebakel und -skandal hat Schmitt wahrscheinlich Dokumente vernichtet. Erst mit der beruflichen Etablierung als Ordinarius in Bonn sind die biographischen Quellen reichlicher erhalten. Wer Schmitts Haltung zum Umbruch von 1918/19 rekonstruieren möchte, stößt also auf ein Quellenproblem, das die späteren retrospektiven Äußerungen nur zu bereitwillig übertünchten. Schmitt hat seine Biographie mit mancherlei Legenden verstellt. Zeitnahe authentische Zeugnisse sind eigentlich nur die großen Monographien Politische Romantik und Die Diktatur von 1919 und 1921. Von den früheren und späteren Schriften her ist aber klar, dass es beachtliche Positionswandel gab und der Schmitt von 1925, 1928 oder 1933 nicht mit dem Autor des Frühwerks zu verwechseln ist.

       4. Rückblick 1928

      Schmitts „dezisionistische“ Verfassungslehre argumentiert mit politischen Entscheidungen und „Grundentscheidungen“: Positive Verfassungsentscheidungen profilieren sich in „substanziellen“ Alternativen. Das Lehrbuch Verfassungslehre von 1928 führt die „grundlegenden politischen Entscheidungen“ Weimars eingehend aus:

      „Dadurch charakterisiert sich das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung als eine konstitutionelle Demokratie, d. h. als ein bürgerlicher Rechtsstaat in der politischen Form einer demokratischen Republik, mit bundesstaatlicher Struktur. […] Alles, was es innerhalb des Deutschen Reichs an Gesetzlichkeit und an Normativität gibt, gilt nur auf der Grundlage und nur im Rahmen dieser Entscheidungen. Sie machen die Substanz der Verfassung aus. Daß die Weimarer Verfassung überhaupt eine Verfassung ist und nicht eine Summe zusammenhangloser, nach Art. 76 RV. abänderbarer Einzelbestimmungen, welche die Parteien der Weimarer Regierungskoalition auf Grund irgendwelcher ‚Kompromisse‘ in den Text zu lanzieren verstanden, das liegt nur in dieser existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes.“ (VL 24)

      Schmitt schreibt 1928 auch:

      „Die Weimarer Verfassung ist eine Verfassung, nicht nur eine Reihe von Verfassungsgesetzen. Sie enthält die grundlegenden politischen Entscheidungen für eine konstitutionelle Demokratie. Im übrigen aber findet sich sowohl in der verfassungsgesetzlichen Ausführung wie in einzelnen Anordnungen – insbesondere des zweiten Teiles unter der Überschrift ‚Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen‘ – ein Nebeneinander von Programmen und positiven Bestimmungen, dem die verschiedenartigsten politischen, sozialen und religiösen Inhalte und Überzeugungen zugrunde liegen. Bürgerlich-individualistische Garantien von persönlicher Freiheit und Privateigentum, sozialistische Programmsätze und katholisches Naturrecht sind in einer oft etwas wirren Synthese miteinander vermengt. Dabei ist zu beachten, daß zwischen den letzten Gegensätzen echter religiöser Überzeugungen, ebenso zwischen echten Klassengegensätzen ein Kompromiß im allgemeinen kaum möglich und jedenfalls sehr schwierig ist. Wenn es sich um eine Verfassung handelt, wird er nur dadurch möglich, daß der Wille zur politischen Einheit und das staatliche Bewußtsein alle religiösen und klassenmäßigen Gegensätze überwiegt, sodaß jene kirchlichen und sozialen Verschiedenheiten sich relativieren. Die unmittelbar mit der politischen Situation zur Entscheidung gestellten, grundlegenden politischen Fragen – im Jahr 1919 also die Frage: Monarchie oder Republik? Konstitutionelle Demokratie oder Rätediktatur? – konnten nicht umgangen werden und sind nicht umgangen worden.“ (VL 30)

      Solche und ähnliche Formulierungen finden sich in der Verfassungslehre vielfach. Schmitts Kampf für eine systematische Auslegung der Verfassungsgesetze von den substantiellen „Grundentscheidungen“ her klingt aber im Zitat schon ebenso an wie eine leise Stigmatisierung der Rolle der Parteien, Kirchen und sozialistischen Bewegung bei der Formulierung des heterogenen Verfassungskompromisses. Es ist hier nicht weiter zu zeigen, wie Schmitt die Systematik des „bürgerlichen Rechtsstaats“ nach 1928 in Richtung auf einen „autoritären“ Exekutivstaat dekonstruierte und die tragenden „rechtstaatlichen Bestandteile“ der modernen Verfassung – den rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff, Grundrechte und die liberale Gewaltenunterscheidung – der Reihe nach abbaute. Hier ist zunächst nur zu fragen, was er von der „existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes“ im Jahre 1918/19 dachte.

       5. Münchner Umbrucherfahrung

      Schmitt lebte von 1915 bis 1921 in München. Er war 1915, nach Abschluss des 2. juristischen Staatsexamens, als Soldat und Verwaltungsjurist ins Stellvertretende Generalkommando München gewechselt und erlebte dort noch das Kriegsende sowie die Räterevolution bis zum Sommer 1919 als Heeresjurist. In München schlug hier für wenige Wochen und Monate die Stunde des „dritten Wegs“ und anarchistischen Experiments mit der Idee der unmittelbaren und „permanenten Demokratie“. In Memoiren wurde sie verspottet und verklärt, die Forschung idealisierte sie gerne demokratietheoretisch. Der Literaturkritiker Volker Weidermann60 dramatisierte die Ereignisse unlängst leicht fiktionalisierend und charakterisierte einige der Akteure – u.a. Eisner und Landauer, Toller und Oskar Maria Graf – dabei als politische „Träumer“, die in der zweiten Phase der Revolution, nach Eisners Ermordung, von den Kommunisten und Bolschewisten gestürzt und nach der Reichsexekution dann von der Gegenrevolution ermordet, hingerichtet oder ins Gefängnis gebracht wurden. Weidermann lässt Hitler als „Ersatzbataillonsrat“ und Erben der Revolution auftreten, der zwar „nicht offen gegen die Räteregierung opponiert“61 hatte, sich aber im Dunstkreis der Thule-Gesellschaft antisemitisch radikalisierte. Für die gegenrevolutionäre Wendung des Münchner Gefreiten Hitler hätte er auch auf Schmitt verweisen können, wie dies Nicolaus Sombart62 schon vor Jahrzehnten tat: Auch Schmitt war in München als Soldat vor Ort nachhaltig von den Erfahrungen des Systemumbruchs, von Revolution und Gegenrevolution geprägt.

      Michael Brenner63 zeigte eindringlich, dass „jüdische Revolutionäre“ – Eisner, Landauer, Mühsam, Toller, Leviné u.a. – 1918/19 zwar tatsächlich zentrale Akteure waren; sie hatten überwiegend aber mit dem Judentum gebrochen, den jüdischen Messianismus zur Revolutionsutopie säkularisiert und waren für das Münchner Judentum keineswegs typisch. Das Münchner Judentum distanzierte sich zwar mehrheitlich klar von der Revolution, wurde dennoch für die Ereignisse verantwortlich gemacht. Die Räterepublik wurde als „jüdische Revolution“ denunziert und stigmatisiert. Bald nach der Niederschlagung der zweiten, radikalen Phase vom Frühjahr 1919 entstand eine Pogromstimmung, die zu Standgerichten, politischer Justiz und Ausweisungen führte. Diese extremistische Radikalisierung mündete über Gustav von Kahr in den Hitler-Putsch vom November 1923.

      Für die Jahre von 1917 bis 1922 sind leider nur wenige Ego-Dokumente Schmitts bekannt. Erstaunlich selten äußerte sich Schmitt auch rückblickend zu seiner damaligen Lage und Wahrnehmung der Umbruchzeit. Aggressiv gegenrevolutionär empfand und agierte er damals vermutlich noch nicht. So ist beachtlich, dass er sich 1920 (TB 1921/24, 75) für die juristische Vertretung an den Rechtsanwalt Max Hirschberg wandte, 1922 aber dann den Rechtsanwalt wechselte (TB 1921/24, 87). Immerhin war er 1920 offenbar bereit, sich von einem jüdischen Anwalt vertreten zu lassen, der exponierte Akteure der Münchner Revolution, wie Felix Fechenbach, den Privatassistenten Eisners, energisch verteidigte.64 Nach dem Ausscheiden aus dem Militärdienst begann er damals zum Wintersemester 1919/20 seine erste feste Dozentur an der Münchner Handelshochschule. Sein Straßburger Mentor Fritz van Calker war inzwischen an die Technische Universität gewechselt, an der Universität lehrten damals u.a. Karl Rothenbücher und Hans Nawiasky. Die Rolle der Juraprofessoren im Systemumbruch lässt sich in München also gleich für drei Hochschulen untersuchen. Bei Stolleis65 ist knapp nachzulesen, dass die meisten Juraprofessoren die Geltung der Weimarer Verfassung damals klaglos akzeptierten. Vielleicht sollte man aber zwischen einem Establishmentdiskurs der etablierten Hochschullehrer und der Lage des akademischen Nachwuchses

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