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Zwischenkriegszeit

      Die Weimarer Republik war der Bundesrepublik niemals nur Geschichte, sondern stets auch eine Mahnung, Lehrstück und Modell. In der Vergangenheitspolitik der alten Bundesrepublik diente „Weimar“ dabei meist als negatives Vorbild. Bonn war nicht Weimar, die Bundesrepublik sollte „Weimarer Verhältnisse“ tunlichst meiden. Die alte Bonner Republik fürchtete die historische Parallele und grenzte sich vielfältig ab. In der Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung suchte sie in „Widerspruch und Umkehrung“ ein „Gespenst“ zu bannen.32

      Die junge Disziplin der „Zeitgeschichte“ begann in den 1950er Jahren mit dem „Untergang“ der Weimarer Republik und der – heute gerne auch als „Machtübergabe“ erörterten – „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus. Der Blick auf den Untergang Weimars konzentrierte sich dabei auf das politische System und „Strukturprobleme“ der Verfassung. Karl Dietrich Bracher33 steht – nach althistorischen Anfängen – mit seinen Maßstäbe setzenden Monographien für diese Agenda zeitgeschichtlicher Forschung. Bracher schritt vom Untergang Weimars und den „Stufen der Machtergreifung“ zur Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Diktatur, totalitären Erfahrung und Zeit der Ideologien. Kurt Sontheimer34 sondierte das heute vielfältig weiter ausgeleuchtete „antidemokratische Denken“ der Weimarer Republik und bot Thomas Mann als eine positive Alternative an. Dolf Sternberger35 distanzierte sich vom anti-institutionellen Politikbegriff der verehrten Hannah Arendt im Rückgang auf Aristoteles und setzte die bürgerliche „Vereinbarung“ gegen die anstaltsstaatliche „Herrschaft“. Wolfgang J. Mommsen36 kritisierte in seiner durchschlagenden Dissertation über Max Weber und die deutsche Politik Webers Befangenheit im Wilhelminischen Machtstaatsgedanken und zog eine Linie von Weber zu Schmitt. Der alte Schmitt37 stimmte dieser Weber-Kritik gerne zu, betonte sie doch den Nationalismus im Nationalliberalismus. Tatsächlich unterschätzen wir heute, wie sehr der gegenrevolutionäre Nationalismus nach „Versailles“ ein Gemeinposten bis weit ins nationalliberale Lager war.38 Schmitt vertrat damals mit seiner Positivismuskritik und extensiven Auslegung der Diktaturbefugnisse des Reichspräsidenten zwar eine exponierte Minderheitsposition; seine Verfassungslehre ließ sich bis 1933 aber elastisch als konstruktive Kritik und Verteidigung der „Substanz“ Weimars auffassen.

      Die deutsche Staatsrechtslehre knüpfte nach dem revolutionären Bruch des Nationalsozialismus erneut an Theoriedebatten der Weimarer Republik an. Restaurationen des „Naturrechts“ konnten sich nicht durchsetzen. Die rivalisierenden Schüler und Schulen Smends und Schmitts bestimmten das Terrain,39 ohne allzu dogmatisch und epigonal an Weimar anzuknüpfen. Der Theoriebedarf der Rechtswissenschaft war trotz der neuen menschenrechtlichen Fundamentierung nicht sehr groß und die Weimarer Entwürfe galten ein Stück weit als aktuelle Orientierungsposten. Hermann Heller trat seit den 1960er Jahren dann verstärkt als sozialliberales Antidot neben Smend und Schmitt.

      Erst in der neuen Bundesrepublik nach 1990 verabschiedete man sich eigentlich von einer direkten Anknüpfung an die Weimarer Theorieentwürfe, pointierte den Abstand und entwickelte eine tiefenscharfe Historisierung der Staatsrechtswissenschaft. Wegweisend wurde hier Michael Stolleis’ magistrale Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erst seitdem intensivierte sich die – u.a. von Christoph Gusy40 angestoßene - Erforschung des „demokratischen Denkens“ in der Weimarer Republik. Es ist bezeichnend, dass Hugo Preuß als Vordenker und „Vater“ der Weimarer Verfassung erst in letzter Zeit gegen Weber neu entdeckt wurde. Dreyers41 „Biografie eines Demokraten“ kann als späte Gegendarstellung und Antwort auf Mommsens Weber-Buch verstanden werden: Friedrich Ebert entschied am 15. November 1918 richtig, Preuß gegen Weber den Vorzug zu geben und zum Staatssekretär des Innern zu ernennen. Preuß stand in Theorie und Praxis weitaus vorbehaltloser und unproblematischer für den liberaldemokratischen Verfassungsstandard; er war ein prädestinierter „Verfassungsvater“. Solche Wiederentdeckungen des liberaldemokratischen Diskurses der Weimarer Republik kamen aber reichlich verspätet. Lange dominierte die Krisenoptik vom Ende her.

      Nach 1968 verlagerte sich die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik im Zuge der neuen Ostpolitik und des differenzierten Systemvergleichs auf den langsamen Abschied vom Totalitarismustheorem und die Betonung eines deutschen „Sonderwegs“ und „Zivilisationsbruchs“ im Nationalsozialismus. Der Kontrapunkt, den Ernst Nolte42 als Erbe des Totalitarismustheorems dagegen mit seiner Betonung der europäischen Dimension des Faschismus und des europäischen „Weltbürgerkriegs“ setzte, war im sog. „Historikerstreit“ – Ende der 1980er Jahre und vor dem Mauerfall – noch heftig umstritten. Nach 1989 wurde mit dem Ende des „Kalten Krieges“ dann aber vom linksliberalen Sonderwegsnarrativ auf relative Normalisierungs- und Glücksgeschichten des nationalgeschichtlichen Kampfes um „Einheit und Freiheit“43 umgestellt. Die starken Modernisierungs- und Verwestlichungslegenden gerieten dabei verstärkt unter geschichtsphilosophischen Determinismusverdacht.

      Mit dem Mauerfall weitete sich der historische Fokus erneut europäisch und die politischen Koordinaten gerieten ins Wanken. Wer nach 1989 hoffte, dass der liberaldemokratische Standard sich weltweit durchsetzen würde, wurde spätestens seit den Entwicklungen nach dem 11. September 2001 herb enttäuscht. Demokratisierungsmissionen und -projekte scheiterten nicht nur in Afghanistan und dem Irak. China stieg zur Industrienation und Weltmacht auf, die die Hegemonie der USA für das 21. Jahrhundert zu beerben scheint, ohne nach einem liberaldemokratischen Modell zu streben. Auch in den westlichen Kernstaaten erodierte der liberaldemokratische Standard. Die Entwicklung des Liberalismusdiskurses in der Zwischenkriegszeit ist damit erneut interessant und die neuere Literatur kehrt ein Stück weit in die Bahnen der älteren Totalitarismusforschung ein.

      Hannah Arendt,44 beispielsweise, hatte die totalitäre Bewegung und Herrschaft vom Antisemitismus und Imperialismus her gesehen und die moderne Diskriminierungs- und Terrorgeschichte vom Scheitern des Ordnungsprinzips des Nationalstaats her beschrieben. Der Nationalstaat trug den Sprengstoff des Nationalismus in sich. Das zeigte sich in europäischen Kernstaaten zunächst im Scheitern der Emanzipation und Assimilierung am Antisemitismus, wie er Ende des 19. Jahrhunderts als Dreyfus-Affäre in Frankreich eskalierte. Mit dem kolonialen Imperialismus radikalisierte sich die Diskriminierungslogik auch rassistisch. Dieser entfesselte Nationalismus und Rassismus traf am Ende des Ersten Weltkriegs auf Wilsons doktrinären Glauben an die Weltmission der demokratischen „Selbstbestimmung“45 der Völker. Arendt beschrieb in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schon das Scheitern der europäischen Nachkriegsordnung von Versailles am Nationalstaatsprinzip und Nationalismus. Es war nicht möglich, die europäische Landschaft mit dem Prinzip der „Selbstbestimmung“ zu ordnen, weil der Nationalismus überall imperial und diskriminierend wurde. Die Erbschaft der Doppelmonarchie ließ sich damit ebensowenig pazifizieren wie die nordeuropäischen Verhältnisse am Rande der weltrevolutionären Sowjetunion.

      Die heutige Historiographie entdeckt dieses gesamteuropäische Krisenszenario neu. So stellte Jörn Leonhard46 das Scheitern von „Versailles“ detailliert heraus. Er zeigte eindrücklich, wie „global“ die Entwicklungen waren und wie die hohen Erwartungen und offenen Ausgänge vom Herbst 1918 seit dem Frühjahr 1919 in diplomatischen Verhandlungen, Kriegs- und Bürgerkriegslagen enttäuscht wurden, sodass Versailles keine stabile Nachkriegsordnung schuf. Es ist zwar wenig plausibel, dass Robert Gerwarth seiner Darstellung des „blutigen Erbes des Ersten Weltkriegs“ einen Lobpreis des revolutionären „Aufbruchs in eine neue Zeit“ folgen ließ.47 Die neuere Forschung hat aber in einer Gegenrechnung zur älteren Forschung auch die offenen und positiven Möglichkeiten der Weimarer Republik vielfach erwogen. Dreyer spricht in einem knappen Überblick gar von einem „Paradigmenwechsel“,48 der gängige „Irrtümer“49 und „teleologische Täuschungen“50 kritisiert, die von 1930 oder 1933 her finalisieren.

      Zwar gab es selbstverständlich auch für die Übergangszeit 1918/19 schon Traditionen und Hypotheken, Präferenzen und Präfigurationen, Vorprägungen und Richtungsentscheidungen. Gerade für diese Übergangszeit vor der Ratifizierung des Versailler Vertrages und der Weimarer Verfassung ist aber eine relative Offenheit der Lage zu betonen. Oliver Haardt und Christopher Clark schreiben dazu: „So instabil

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