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Schmitt nach den Möglichkeitsbedingungen von Rechtswissenschaft transzendentalphilosophisch und wissenschaftstheoretisch, wie es dem zeitgenössischen Neukantianismus entsprach; er führt aus, dass Rechtswissenschaft nur möglich ist, wenn die Rechtstheorie die „Machttheorie“ des Rechts zurückweist und auf der Differenz von Macht und Recht besteht. Nur dann sei die Antithese von Sein und Sollen und das Recht als „Norm“ und „Gebot“ bewahrt. „Wenn es ein Recht geben soll, dann darf es nicht aus der Macht abgeleitet werden, denn die Verschiedenheit von Recht und Macht ist nicht zu überbrücken.“ (WdS 35) Schmitt grenzt sich von der Machttheorie des Rechts und vom Rechtspositivismus ab und besteht auf einer Grundnorm oder Rechtsidee, die „Normen in lückenloser Geschlossenheit unabhängig von jeder Empirie“ (WdS 37) statuiert oder hypostasiert. Beiläufig erwähnt er hier bereits Hans Kelsen, bezieht sich aber für den rechtsphilosophischen Diskussionsstand mehr auf Stammler und Natorp.

      Schmitt deutet eine eigene Antwort an, die auf seine spätere Politische Theologie vorauszudeuten scheint: Die Unterscheidung von Macht und Recht, Sein und Sollen, Setzung des Rechtssystems als Normensystem bezeichnet Schmitt nämlich als religiöse „Bewertung“, als einen Vertrauensakt oder Vertrauensvorschuss, für den er aus Luthers Schrift De potestate Papae (WdS 29) zitiert. Schmitt zitiert auf Latein: „Primum, quod me movet, rhomanum pontificem esse aliis omnibus superiorem, est ipsa voluntas dei, quam in ipso facto videmus. Neque enim sine voluntate dei in hanc monarchiam unquam venire potuisset rhomanus pontifex.“ In deutscher Übersetzung heißt es: „Das Erste, das mich zu der Annahme bewegt, dass der römische Bischof allen anderen, wenigstens allen, von denen wir wissen, dass sie sich als Bischöfe aufspielen, überlegen ist, das ist der Wille Gottes selbst, den wir in eben dieser Tatsache am Werke sehen. Denn ohne den Willen Gottes hätte der Papst zu Rom niemals in diese monarchische Stellung geraten können.“7 Der Verweis auf die Autorität Luthers signalisiert, dass selbst Luther die religiöse „Anerkennung“ der Macht als Recht ausgerechnet in einer Kampfschrift gegen den Papst zugeben musste.

      Die „Zurückführung einer tatsächlichen Macht auf den Willen Gottes“, dieses „Bekenntnis höchsten Vertrauens“, Macht als Recht anzuerkennen, formuliert Schmitt folgendermaßen:

      „Es ist nämlich, aus der Definition des Rechts als Macht eine Bewertung herauszuhören, die an dem Begriffe der Macht zu hängen scheint, indem jede, wenigstens jede relativ dauernde und beständige Macht als berechtigt und begründet – nicht bloß erklärlich – aufgefasst wird.“ (WdS 29)

      Man ist geneigt, solche Formulierungen bereits mit der späteren Souveränitätslehre kurzzuschließen. Schmitt erklärt die Unterscheidung von Macht und Recht nicht nur zu einer notwendigen Voraussetzung der Rechtswissenschaft, sondern auch zu einer alltäglichen Erfahrung und gelebten Praxis und deutet diesen soziologischen Befund religiös oder religionsphänomenologisch. Für diese Anerkennung von Macht als Recht, mit Georg Jellinek gesprochen: als „normative Kraft des Faktischen“, zitiert er nach Luther dann Julius Stahl, was im Horizont späterer antisemitischer Stigmatisierung Stahls intrikat ist. Für eine solche „religiöse“ Sanktionierung der Wahrnehmung von Macht als Recht ließen sich vergleichbare Stellen bei Kant oder Hegel finden. So schreibt Kant in der Metaphysik der Sitten:

      „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Hinsicht unerforschlich. […] Ein Gesetz, das so heilig (unverletzlich) ist, dass es, praktisch, auch nur in Zweifel zu ziehen, mithin seinen Effekt einen Augenblick zu suspendieren, schon ein Verbrechen ist, wird so vorgestellt, als ob es nicht von Menschen, aber doch vor irgend einem höchsten tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsste, und das ist die Bedeutung des Satzes: ‚alle Obrigkeit ist von Gott‘“.8

      Hegel schreibt:

      „Überhaupt aber ist schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“9

      Schmitt betrachtet den „Dualismus“ von Macht und Recht im historischen Rahmen der „Zwei Schwerter“-Lehre und betont, dass das katholische und das protestantische Kirchenrecht zwei konträre Antworten und Lösungen gaben. Er zitiert diverse kirchenrechtliche Literatur und deutet bereits an, dass Rudolph Sohm (1841–1917) und Ulrich Stutz (1868–1938) die protestantische Alternative zum Katholizismus besonders deutlich entwickelten. Sohms Wirkung auf Max Weber betonte Schmitt später immer wieder. Es ist naheliegend, seine Habilitationsschrift als „katholisches“ Credo zu deuten, was hier aber nicht weiter interessiert. Hier soll auch weniger beschäftigen, ob Schmitt 1914 bereits eine eigene Antwort gibt, die auf seine spätere „Politische Theologie“ und Souveränitätslehre vorausweist. Mit Blick auf die Binder-Rezension interessiert vor allem die Positionierung zum Neukantianismus.

      Wie in seiner Dissertation ignoriert Schmitt auch in der Habilitationsschrift den eigenen Ansatz einer philosophischen Ethik und betont die Eigenständigkeit des Rechts. In der letzten Fußnote Über Schuld und Schuldarten hieß es 1910 bereits dezidiert: „Die Frage nach der Schuld ist in jeder Hinsicht eine metajuristische.“ (SS 137). Schmitt klammerte sie vollständig aus und sprach stattdessen nur von der juristischen Konstruktion der „Schuldarten“. Im zweiten Kapitel vom Wert des Staates definiert er den Staat, kursiv hervorgehoben, nun folgendermaßen: „Der Staat ist demnach das Rechtsgebilde, dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen“ (WdS 56). Schmitt schließt eine äußert knappe „Auseinandersetzung mit der Rechtslehre Kants und seiner Nachfolger“ (WdS 60) an, nennt Stammler, Natorp und Cohen, geht auf Cohen aber nicht erneut ein, weil er dessen Ethik des reinen Willens bereits einleitend als ethische Verkennung der Rechtswissenschaft abgelehnt hatte. Schmitt meint, dass Kant Recht und Moral nicht konsequent genug getrennt habe, weil er den „Rechtszwang“ ethisch begründen wollte. Auch Kants Nachfolger hätten „Autonomie und Heteronomie“ miteinander vermengt. Stammlers Theorie der Rechtswissenschaft habe immerhin das Problem gesehen, dass Kant Recht und Sittlichkeit nicht überzeugend voneinander trennte und verband; Natorp habe das Problem dann zu lösen versucht, das Cohen ignorierte.

      Schmitts knappe Skizze ist argumentativ schwer zu beurteilen, zumal die genannten Autoren – Kant, Stammler, Natorp, Cohen – ihrerseits höchst komplex und anspruchsvoll argumentieren. Die Ausführungen lassen aber erkennen, dass Schmitt eine Grundfrage der neukantianischen Rechtsphilosophie problemgeschichtlich skizziert und seine eigene Antwort nicht innerhalb des Neukantianismus sucht, sondern eher auf kirchenrechtliche Lösungen zu verweisen scheint. Dieser Rückgang hinter die rechtsphilosophische Diskussion auf das Kirchenrecht muss nicht als konfessionelles Credo betrachtet werden. Man könnte ihn im Rahmen des südwestdeutschen Neukantianismus auch als kulturphilosophischen Rückgang auf faktische (kirchenrechtliche) Formationen betrachten und mit einigen Überschwang etwa auf Max Webers „verstehende“ Religionssoziologie verweisen: Wo Webers berühmte „Zwischenbetrachtung“10 die Religionssoziologie in eine „Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ kondensierte, erörtert Schmitt fast gleichzeitig eine positive konfessionelle „Bewertung“ des Machts als Recht und die damit – vorbehaltlich – gegebene Anerkennung des Staates. Hier muss genügen, dass er die zeitgenössische rechtsphilosophische Ausgangsstellung und Aufgabe insbesondere mit Stammler verband, mit dem er sich früher schon in nachgelassenen Aufzeichnungen (TB 1912/15, 73ff) auseinandergesetzt hatte.

       3. Schmitts Binder-Kritik

      Kommen wir damit zur Binder-Rezension von 1916. Es lag damals akademisch nahe, dass der junge Autor des Werts des Staates sich für eine grundlegende Monographie über die „Rechtsidee“ interessierte und sich zu Stammler und Binder positionieren wollte. Der allgemeine philosophiegeschichtliche Rahmen ist der angedeutete Übergang vom „Neukantianismus“ zum „Neuhegelianismus“. Larenz, als Binder-Schüler einer der Erben dieser Debatte, skizzierte ihn rückblickend in seiner Methodenlehre der Rechtswissenschaft folgendermaßen:

      „Die Erneuerung der deutschen Rechtsphilosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts ist in erster

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