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Regimes oder gar eine Wiedereinsetzung der Hohenzollern. Diese Offenheit der historischen Situation war vor allem Folge des plötzlichen Wegfalls der alten Machtstrukturen.“51 Der Weimarer Verfassungstext bot zwar eine innovative „soziale Programmatik“, wie Stolleis und Dreier im selben Band ausführen.52 Das geläufige Urteil, dass die Gewaltenbalancierung zwischen Reichstag und Reichspräsident nicht wirklich funktionierte, weil der schwache Parlamentarismus aus der Primärverantwortung der Regierungsbildung in die Präsidialkabinette floh, wird aber weiter vertreten.53 Schmitt warnte in Weimar einst vor der Schwäche des Parlamentarismus und der Machtfülle des Reichspräsidenten, seine „kommissarischen“ Befugnisse in die Richtung einer „souveränen Diktatur“ zu entwickeln. Seine Pathogenese der Weimar Dekomposition ist nach wie vor vielfach erhellend und zutreffend, so interessiert und einseitig sie auch war.

       2. Berlin ist wieder Weimar? Regierungsbildungskrise 2017/18

      Schmitt gilt heute mit seiner Verfassungslehre und seinen Interventionen vor allem als antiliberaler, parlamentarismuskritischer Totengräber Weimars und Apologet des Präsidialsystems und des Nationalsozialismus. Mit der Öffnung des Nachlasses und editorischen Erschließung zahlreicher privater Quellen (Tagebücher, Briefwechsel) wurde er seit den frühen 1990er Jahren verstärkt auch als Zeitzeuge, Akteur und Repräsentant der Weimarer Republik wahrgenommen. Die dogmatische Rekonstruktion und Aktualisierung seiner „Politischen Theologie“ und Verfassungslehre trat dagegen zurück. Die deutsche Forschung hatte die privilegierte Aufgabe,54 den Akteur zu erschließen. Schmitt wurde mit seinem „System Plettenberg“ dabei – u.a. durch Dirk van Laak55 – als Mentor einiger Vordenker der Bundesrepublik entdeckt. Zeithistorisch wichtiger noch war aber die Frage nach dem verfassungspolitischen Akteur im Präsidialsystem und Nationalsozialismus. Mit der Edition der (von 1912 bis 1934) erhaltenen Tagebücher zeigte sich zwar, dass Schmitts verfassungspolitische Beraterfunktion und Akteursrolle im Präsidialsystem recht beschränkt war: Es gab keine Beziehung zu Brüning; die Streitfrage der 1990er Jahre,56 ob er Papen oder Schleicher näher stand, ist heute aus den Quellen recht eindeutig zu beantworten: Nur mit Papen gab es gelegentliche, verfassungspolitisch wirksame Begegnungen. Bemühungen, Zugang zu Schleicher zu finden, strandeten dagegen im Vorhof des „Machthabers“. Von relevanter Kooperation kann deshalb eigentlich nur für den Herbst 1932 und die Verteidigung des „Preußenschlags“ vor dem Leipziger Staatsgerichtshof die Rede sein; entgegen der Vermutung Hubers57 war Schmitt am „Preußenschlag“ selbst nicht beteiligt und auch seine juristische Unterstützung Schleichers kam beim Kanzler nicht an, sodass die Akteursrolle im Präsidialsystem im Januar 1933 bereits ausgespielt war. Schmitt wirkte insgesamt mehr durch seine Schriften. Seine Apologie des Präsidialsystems hat heute aber wieder einige Aktualität.

      Ganz grundsätzlich lässt sich Schmitt als Analytiker und Apologet der Erosion und Transformation einer liberalen und parlamentarischen Demokratie in eine antiliberale, plebiszitär-populistische und autokratische Exekutivstaatlichkeit auffassen. Schmitt gab dafür vor 1933 schon das Stichwort von der Wendung zum „totalen Staat“ aus, und sein Schüler Forsthoff zog verwaltungsstaatliche Konsequenzen, die weiter wirkten. Diese Transformationsanalyse ist auch jenseits der deutschen Geschichte exemplarisch lehrreich. Wir erleben heute nicht nur gravierende Erosionen der liberalen Kultur: einen Zerfall der politischen Mitte und dramatischen Wandel des Parteiensystems, sondern auch Regierungsbildungskrisen, eine labile Große Koalition und Szenarien von Misstrauensvoten, Vertrauensfragen und Neuwahlen bei ungewissem Ausgang und Zerfall der „Volksparteien“. Die Phase der Weimarer Präsidialsysteme begann bekanntlich 1930 mit einem Ausstieg der SPD aus einer Großen Koalition. Dieter Grimm schreibt dazu erneut, was in den 1950er Jahren schon geläufig war: „Der Regierungswechsel vom März 1930 war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik.“58 Fortan gab es nur noch tolerierte Minderheitsregierungen, die vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhingen. Dieses Szenario einer präsidial getragenen Minderheitsregierung war Ende 2017 erneut möglich und blieb virulent: Nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlung einer „Jamaika“-Lösung (Union, Grüne und FDP) war ein Wiedereintritt der SPD in eine Große Koalition sehr umstritten und es drohten Neuwahlen oder – erstmals in der Geschichte der BRD – eine Minderheitsregierung. Weil Neuwahlen in 2018 aber voraussichtlich die politische Mitte schwächen und Ränder stärken würde, appellierte Bundespräsident Steinmeier an seine SPD, aus staatspolitischer Verantwortung erneut in eine Große Koalition zu gehen. Er dachte dabei ausdrücklich auch an die Lehren von „Weimar“ und die fatalen Folgen des Ausstiegs der SPD aus der parlamentarischen Regierungsverantwortung im Jahre 1930.

      Am 23. Mai 2018 eröffnete Steinmeier eine Diskussionsrunde des Forums Bellevue zur „Zukunft der Demokratie“ mit der Erinnerung an das „Scheitern von Weimar“. Ausdrücklich meinte er: „Hat sich der Befund eigentlich historisch erledigt?“ Damit stellte er den alten Beschwörungsund Beschwichtigungstopos „Bonn ist nicht Weimar“ infrage. Aus dem Munde des Bundespräsidenten grenzte das an Tabubruch: In der Absetzung von den starken Befugnissen des direkt gewählten Reichspräsidenten steht sein Amt ja für den systemischen Unterschied zwischen der präsidialen und der parlamentarischen Demokratie und die Differenz zu Weimar. Nun erklärte er der Bundesrepublik, dass selbst sie vor Unregierbarkeit und Minderheitsregierungen nicht gefeit ist und ihre verfassungsrechtlichen Sicherungen – u.a. konstruktives Misstrauensvotum – nicht gänzlich gegen „Weimarer Verhältnisse“ immunisieren.

      Schmitt argumentierte einst bei seinen Überlegungen zur „kommissarischen Diktatur“ für Papen und Schleicher, für den Erhalt des Minderheitsregimes und einen Aufschub von Neuwahlen, der vom Reichspräsidenten Hindenburg ebenso wie vom Zentrumsführer Kaas als verfassungswidrig abgelehnt wurde.59 Seine Argumentation gegen den Wortlaut für den „Sinn“ der „Substanz“ der Weimarer Verfassung wurde damals von vielen Juristen vehement abgelehnt. Das heutige Grundgesetz kennt keine Befristung von Minderheitsregierungen durch strikte Terminierung von Neuwahlen. Bei einem Ausstieg der SPD aus der Großen Koalition konnte eine Minderheitsregierung für die ganze Legislaturperiode im Amt bleiben, solange ein Regierungswechsel auf dem Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums oder auch der Vertrauensfrage und Neuwahlen nicht erfolgte. Eine solche Minderheitsregierung wäre dann in ihren gesetzgeberischen Möglichkeiten zwar stark eingeschränkt gewesen, die historische Analogie und Parallele des Weimarer Präsidialsystems war in der vierten Amtszeit Merkel aber dennoch erneut lehrreich. Die Corona-Politik lieferte weitere krasse Parallelen: verfassungsrechtliche Bedenken, Einschränkung von Grundrechten und Parlamentsrechten, Stärkung der Exekutivstaatlichkeit und des Unitarismus, ruinöse Schuldenpolitik und anderes mehr. Für die Spitze des politischen Systems und die Regierungsbildungskrise zeigte sich seit dem Herbst 2017: Nie ähnelten die aktuellen Krisen derart Weimarer Verhältnissen. Nie zuvor hingen die Schatten des Endes von Weimar so über der Berliner Republik.

       3. Quellenfrage

      Hier soll die Weimarer Republik aber nicht weiter vom Ende her betrachtet werden, sondern von den Anfängen. Wie sah Schmitt sie 1918/19 und was bot er zur juristischen Beschreibung auf? Sah er den Systemwechsel bereits in den Kategorien seiner späteren Verfassungslehre und war er von Beginn an ein antiliberaler Gegner? Oder gab es vor 1923 einen anderen Schmitt, Vernunft- oder gar Herzensrepublikaner? 1940 publizierte Schmitt eine gewichtige Sammlung von Interventionen unter dem Titel Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles. Grob gesagt deutete er die Weimarer Republik und den Genfer Völkerbund hier vom „Diktatfrieden“ von Versailles her. Weimar und Genf betrachtete er gleichsam als Systeme der Sieger von 1918/19. Schmitt beschloss diese Sammlung im August 1939 kurz vor Kriegsbeginn und datierte seinen Dreifrontenkampf auf die Jahre 1923 bis 1939. Zweifellos setzte er seinen Kampf gegen „Versailles“ auch nach 1939 fort. Seine Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung proklamierte eine „Überwindung des Staatsbegriffs“ durch imperiale Großraumordnungen und reklamierte den mitteleuropäischen Großraum als hegemonialen Herrschaftsraum für das nationalsozialistische Reich. Eine fortdauernde kritische Betrachtung Weimars ist auch nach 1945 bei Schmitt offenbar.

      Weitaus schwieriger ist aber die Antwort auf den Beginn dieses verfassungspolitischen „Kampfes“.

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