Скачать книгу

das sich über ganz Europa ausbreitet und den Alltag aller sozialen Schichten – vom Adel bis zu

      [<<10]

      den Handwerkern, von den Tagelöhnern und den Reisenden bis zu den Mönchen und Nonnen – bestimmte. Dazu gehören Bau- und Gebetsleistungen ebenso wie die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die Kleidung jedes Einzelnen, wie der Schnabelschuh und ganz bestimmte Kopfbedeckungen, oder die bildlichen Darstellungen der Figuren, die in gotischer Tracht wiedergegeben und mit modischen Details ausgestattet wurden.

      Die Struktur, die dieser Abhandlung zugrunde liegt, orientiert sich an der in der Forschungs­literatur allgemein gebräuchlichen chronologischen Einteilung der gotischen Kunst, bereichert und gegliedert durch die Lebensbedingungen der damaligen Menschen.

      Politische Konstellationen, umwelthistorische Bedingungen, demografische Entwicklungen sowie wirtschaftliche und wissenschaftliche Errungenschaften beeinflussten Denkweise, Betrachtung und Lebensmodelle der Menschen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und der Umwelt, mit Gott, dem Tod, die Positionierung der eigenen Bedeutung in Form von Repräsentation und Öffentlichkeit sowie die internationale Vernetzung (Handel, Kommunikation) hatten Auswirkungen auf das kulturelle Schaffen. Die Kunstwerke und die Architektur sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch wenn es nicht gelingen wird, sich in eine andere historische Epoche hineinzuversetzen, soll dennoch versucht werden, Bilder, Skulpturen und Architektur aus dem Blickwinkel der Personen zu betrachten, für die sie angefertigt bzw. von denen sie geschaffen wurden. Was war in den Köpfen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Das ist ein Zugang, den diese Publikation geben soll. Der andere Zugang ist aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und des Kunsthistorikers des 21. Jahrhundert zu verstehen und soll mit dem möglichen und nötigen Abstand eine stilistische Entwicklung zeigen, d. h. Zentren aufzeigen, in denen Spitzenleistungen künstlerischen Schaffens erbracht wurden, die weitreichende „Bedeutung“ hatten.

      Zeitlich versetzt und in einer unterschiedlichen länderspezifischen Ausbreitung spricht man von einer frühgotischen, einer hochgotischen und einer spätgotischen Stilrichtung und avanciert zu Recht die Architektur zur Leitkategorie – dies aufgrund des Erhaltungszustandes (speziell für das 13. Jahrhundert) und aufgrund der Tatsache, dass die Bauhütte um und nach 1200 der zentrale Ort ist, an dem sich alle Handwerker und Künstler zusammenfinden, um an einem Gesamtkunstwerk – der Kathedrale – zu arbeiten. Architektur, Skulptur, Glas- und Wandmalerei sind hier ebenso erfasst wie Goldschmiede- und Textilkunst.

      Am Beginn stehen die baulichen Aktivitäten Abt Sugers von Saint-Denis (ab 1140) in Frankreich. Aus historischer Perspektive betrachtet, stellt der damalige Umbau der Abteikirche und königlichen Grablege den Anfang für jene innovativen Bauprinzipien dar, die bezeichnend für die gotische Kunst wurden – den Spitzbogen und das damit kombinierte Kreuzrippengewölbe. Es darf aber nicht übersehen werden, dass zu Lebzeiten des bauwilligen Abtes der Fortschritt dieser Baukunst noch nicht absehbar war.

      Von Frankreich breiteten sich diese neuen Ideen und Konzepte im 13. Jahrhundert nach Italien, auf die Iberische Halbinsel, nach England (Early English) und ins deutsche Sprachgebiet aus und wurden in den jeweiligen Ländern spezifisch umgesetzt. Technische Errungenschaften,

      [<<11]

      wirtschaftliches Wachstum, Handel und Geldwirtschaft ließen Städte wachsen, prägten ein neues Selbstbewusstsein der damaligen (städtischen) Gesellschaft und etablierten damit neue Ausdrucksformen – sowohl in der architektonischen als auch in der bildlichen Umsetzung (Profanbauten in den Städten, Illusionsräume und Naturdarstellungen).

      Große Einschnitte, besonders was die personellen und materiellen Ressourcen betraf, brachte das 14. Jahrhundert. Zahlreiche Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien änderten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, was sich auch auf das Kunstschaffen nachfolgender Generationen auswirkte, z.B. in einer elitären Hofkunst oder einer zunehmenden Verflechtung des Kunstschaffens in den Bildkünsten (internationaler Stil), in der Schaffung neuer Bildthemen und Frömmigkeitsformen oder im Wettstreit bei der Errichtung der Kirchtürme.

      Im 15. Jahrhundert avancierte das „Zweidimensionale“ zur Leitkategorie. Hervorzuheben ist die Tafelmalerei, die fortan verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr. In Italien hatte sich damals um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Renaissance durchgesetzt; im Norden entstanden in den Nieder­landen neue Kunstzentren, deren Errungenschaften die Bildkünste in den Nachbarländern prägten. Und in weiten Teilen Mitteleuropas wurde weiterhin gotisch gebaut. Am Ende der Ausführungen steht dann die Zeit um und knapp nach 1500, also das Ende des Spätmittelalters, und es wird der künstlerische Einsatz der neuen Drucktechniken thematisiert.

       Literatur zu Kapitel 1, Rahmenbedingungen

      [<<12]

      2.1 Mensch, Technik und Umwelt

      Die wesentlichste Veränderung, die sich im Laufe des 12. Jahrhunderts mehr und mehr manifestierte, bestand im wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung der Städte, des Handels und der Geldwirtschaft. Damit begann eine Entwicklung, die anstelle der feudalen, persönlichen Bindung des mittelalterlichen Menschen an seinen Herrn (Grundherr, Adeliger) eine rechtlich legale ermöglichte und zum Erstarken eines selbst- und machtbewussten Stadtbürgertums führte (Vorbild für den modernen Staatsbürger).

      Der nach sozialen, berufsständischen Kriterien definierte dreigliedrige Aufbau der frühmittelalterlichen Gesellschaft – Klerus, Adel, Bauer – veränderte sich im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts zu einem komplexen Sozialgefüge, zu dem fortan auch Handwerker, Gelehrte und Kaufleute gehörten. Im frühen Mittelalter nahmen die Städte in ihrer rechtlichen und sozialen Bedeutung stark ab. Eine gewisse Ausnahme stellten jedoch die Bischofsstädte, vor allem jene mit antiker Tradition, dar. Damals waren Burgen und Städte befestigte Bereiche und allenfalls Mittelpunkt der Verwaltung. Die Bewohner blieben in ihren rechtlichen und sozialen Systemen (Feudalsystem) voll integriert.

      Die hoch- und spätmittelalterliche Gesellschaft zeichnete sich hingegen durch ein soziales Beziehungsgeflecht aus, innerhalb dessen verschiedene Kategorien der sozialen Zuordnung, wie Stand, also familiär-soziale Herkunft („Adel“, „Nichtadelige“ oder „Erbbürgertum“), Familie, Dynastie, die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, zu einem Land oder Territorium sowie Alter und Geschlecht, politische Allianzen und Beziehungen zu weltlichen und geistlichen Eliten eine Rolle spielten. (Abb 1) Das bedeutet aber, dass besonders weltliche und geistliche Lebensformen nur aus moderner wissenschaftlicher Perspektive gegensätzlich zu betrachten sind.

      Die Bevölkerung Europas stieg – nach vorsichtigen Schätzungen – von ca. 46 Millionen um das Jahr 1050 auf rund 61 Millionen Menschen um das Jahr 1200. Die Zuwachsrate um fast 50 Prozent stand in enger Beziehung zu einer enormen Vergrößerung der damaligen Anbauflächen. An dieser Entwicklung hatten die alten Orden, die „Benediktiner“ und vor allem die „Zisterzienser“, einen großen Anteil. Nicht nur durch Rodung der Wälder, sondern auch durch Entwässerung, Trockenlegung und Deichbau kamen neue Bebauungsflächen hinzu. Der verstärkte Einsatz des Räderpflugs und die Einführung der Dreifelderwirtschaft seit dem Hochmittelalter steigerten die Erträge um ein Vielfaches. Die zunehmende Verbreitung der vertikalen Wassermühlen und die Erfindung der Windmühlen waren entscheidende technische

      [<<13] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

      Neuerungen, welche die Produktivität, aber auch die Arbeitsteilung in den Städten erhöhte. Das hohe technische Niveau (wie das z.B. detaillierte Bauzeichnungen zu erkennen geben) und die zahlreichen technischen Erfindungen im Maschinenbau (Laufrad mit Baukran, Winde, Zange) fanden auch in der Bauorganisation und -konstruktion ihren Niederschlag. Diese agrarischen Umwälzungen und technischen Neuerungen ließen nicht nur die Bevölkerungszahlen in die Höhe schnellen, sondern regten

Скачать книгу