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war, sie ihre Ferien insbesondere am Strand verbrachten, fühlte sich die andere Seite des Hafens am Fähranleger neu und aufregend an.

      Die Möwen zogen kreischend ihre Bahnen und schienen ungeduldig darauf zu warten, dass die Fähre ablegte.

      Dann würden sie ihr Spiel beginnen, wer sich am weitesten vom Festland forttraute, ohne sich auf der Fähre auszuruhen.

      Kaum, dass die Fahrt begann, spendierte der Vater eine heiße Bockwurst mit einem Getränk. Diesen Geschmack würde er nie vergessen. Es schien, als wäre dieser Snack etwas ganz Besonderes. Ferien, Freiheit, Sorglosigkeit und Geborgenheit – all das schien dieser Imbiss zu beinhalten.

      Dann, auf Langeoog angekommen, die Fahrt mit der lustigen bunten Bahn, die alle auf das gemächliche Tempo der Insel einstimmte.

      Auf dem Weg zum Strand, ein Eis in der Hand, vorbei am Wasserturm, der die Dünenlandschaft unterbrach und gleichzeitig aufwertete. Und dann natürlich das Meer, das anders als in Bensersiel immer in Reichweite lag und seine Einzigartigkeit unterstrich, indem es sich endlos zeigte.

      Die einzigen Geräusche, die man wahrnahm, waren das Rauschen des Meeres, die Rufe der Möwen und das fröhliche Geplänkel der Feriengäste. Für ihn als Stadtkind eine ganz besondere Atmosphäre.

      All das stieg plötzlich vor Marks geistigem Auge auf und Sehnsucht machte sich in ihm breit.

      Sehnsucht nach diesem Frieden.

      Entschlossen drehte er sich um, schnappte sich die Reisetasche sowie seinen Laptop und begann zu packen.

      ***

      Olga stöckelte die letzten Meter zum Eingang des modernen und eindrucksvollen Wohnhauses in der Nähe der Elbphilharmonie, um, wie sie Rasputin zugesichert hatte, Mark umzustimmen. Sie tippte den Code in die Tastatur ein, öffnete die Eingangstür und trat in die kühle Eleganz des Vorraums.

      Sie liebte den dunklen, glänzenden Steinboden, der ihr bei jedem Schritt ihrer High Heels mit seinem satten Echo Aufmerksamkeit bekundete.

      Nur wenige Schritte, und sie stand den beiden Aufzügen gegenüber, die sie bereitwillig in die obere Etage führen würden.

      Auch das Innere des Lifts strahlte die Noblesse aus, die Menschen mit gewissen Ansprüchen als selbstverständlich voraussetzten.

      Die bronzefarbene polierte Wandverkleidung vervielfachte sich im Spiegel des Fahrstuhls und verlieh dem Inneren einen edlen Charakter. Unaufdringliche Fahrstuhlmusik empfing sie. Olga liebte diese Lounge-Musik, mit der sie sich identifizierte. Unnahbar, kühl und doch mit exzentrischem Ausdruck. Sie schwelgte, ja, sie badete in diesem Gefühl. Dieses Umfeld würde sie sich nicht nehmen lassen. Es würde ihr schon gelingen, Mark klarzumachen, dass er ohne sie nicht leben könnte. Sie kannte seine Schwachstellen nur zu gut. Da ließ sich gewiss noch etwas tun.

      Während der Fahrstuhl nach oben schwebte, betrachtete sie sich selbstgefällig im Spiegel.

      Um Mark zu beeindrucken, probte sie vorsichtshalber verschiedene Gesichtsausdrücke. Schuldbewusst? Nein. Damit könnte er sich als Richter fühlen.

      Es müsste eine Mischung aus Sich-unverstanden-Fühlen, Anklagen und Hilflosigkeit sein. „Ja – so ist es gut!“, sagte sie laut zu sich selbst. Der Aufzug hielt, und sie stieg aus.

      Sie zupfte an ihrem enganliegenden Shirt herum, um den Einblick in das Dekolleté zu erweitern.

      Die Naht der schwarzen Strümpfe hatte sie bereits im Spiegel des Aufzugs überprüft. Sie war sich sicher, dass Mark beim Anblick ihrer langen Beine, die von dem winzigen Stück Stoff ihres Minirocks kaum verhüllt waren, schwach wurde. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihn nicht besänftigen könnte.

      Auch hier tippte sie den Code in die Tastatur neben der Tür, um sie zu öffnen. Gleich darauf stand sie im winzigen Flur, der durch das einfallende Tageslicht der angrenzenden Glastür erhellt wurde, die direkt in den großzügigen Wohnbereich des Appartements führte.

      Seltsamerweise stand diese Tür ein wenig offen.

      Olga beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Kein Geräusch drang an ihr Ohr. „Mark?“, rief sie und vergaß dabei ganz, ihre aufgesetzte Miene zu bewahren.

      Vorsichtig schob sie die Tür auf. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, entfuhr ihr unwillkürlich ein Schrei.

      ***

      Mark lenkte sein Cabrio gemächlich Richtung Esens. Es war noch früher Vormittag, und so nahm er sich Zeit, seine Erinnerungen aufzufrischen. Es hatte sich seit damals viel verändert. Dort, wo in seiner Kindheit noch Wiesen, Kühe und Pferde zu sehen waren, standen nun Häuser. Er versuchte sich zu orientieren.

      An den großen Baumarkt hinter der Ampelkreuzung konnte er sich gar nicht erinnern.

      Am Ortsausgangschild bemerkte er, dass er vorher hätte nach rechts abbiegen müssen.

      Gleich darauf befand er sich im kleinen Ortsteil Holtgast.

      Es dämmerte ihm, dass er und seine Eltern mit den Rädern häufiger von Bensersiel aus nach Holtgast gefahren waren. Es gab diese schmale, kaum befahrene Landstraße, die sie auf dem kürzesten Weg entlang eines Kanals dorthin geführt hatte.

      Diesen Schleichweg würde er nehmen. Er hatte ihm schon immer gefallen.

      In der Frühe hatte er sich von seinen Eltern in Münster verabschiedet.

      Nachdem er am Tag zuvor ziemlich überstürzt seine Sachen gepackt hatte und sich schon Minuten nach seinem Entschluss auf der Autobahn befand, überfiel ihn der Wunsch nach Verständnis. Dafür kamen wohl am ehesten seine Eltern in Frage. Also nahm er den Umweg in Kauf und steuerte Münster an. Bei der Gelegenheit konnte er sie auch gleich über die geplatzte Hochzeit informieren. Im Geist sah er bereits ihre erleichterten Gesichter vor sich.

      In seine Angelegenheiten hatten sie sich nie eingemischt, nicht, weil diese sie nicht interessierten, sondern weil sie der Meinung waren, dass jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen machen musste, auch seine eigenen Fehler. Selbst wenn sie sich um ihn sorgten.

      Ihrem Gesichtsausdruck hatte er sowieso entnehmen können, dass sie über seine Wahl nicht glücklich waren. Doch sie ließen ihn gewähren.

      Tatsächlich waren sie mehr als erleichtert bei dieser Nachricht, nahmen ihn aber auch tröstend in die Arme.

      Am Abend schwelgten sie in Urlaubserinnerungen. Dadurch frischten sie Marks Gedächtnis auf. Frühmorgens war er deutlich entspannter aufgebrochen.

      Und nun versuchte er sich trotz der landschaftlichen Veränderungen zurechtzufinden.

      Ausgerechnet die Straße, die ihn nach Bensersiel führen sollte, hatte sich nicht verändert. Triumphierend bog er in den Tannenweg ein, überquerte den Coldewind, die zur Nachbargemeinde Utgast führende Straße, und zuckelte gemächlich über die Pflastersteine des Wolder Wegs dem Küstenort Bensersiel entgegen, den er in etwa fünf Kilometern erreicht haben müsste.

      Kurz vor der einzigen scharfen Rechtskurve veränderte sich der Untergrund, und so konnte er auf einer Teerdecke die Geschwindigkeit auf fünfzig Stundenkilometer steigern. Hier war alles wie früher, stellte er mit Freude fest. Der Weg führte ihn zum Benser Tief, das ihn nun für eine kleine Weile begleiten würde. Bald würde der Lauf des Wassers seinen eigenen Weg fortführen und dann großflächige Wiesen durchschneiden. Doch zuvor gabelte sich die Straße. Rechts führte sie über eine Brücke, die beide Seiten des Tiefs miteinander verband und dann nach Esens weiterging.

      Überdeutlich zog ein Schild seine Aufmerksamkeit auf sich, das vor der Brücke stand. Fast so, als hätte die Sonne es angestrahlt, was nicht möglich war, denn der Himmel war bedeckt. „Ferienhaus Am Himmelreich“ stand dort zu lesen, und ein Pfeil wies in die entsprechende Richtung.

      Kurz entschlossen lenkte Mark seinen Wagen auf die andere Seite und hielt vor dem Haus.

      Warum nicht hier?, dachte er sich. Das Haus wirkte einladend auf ihn. An diesem Ort könnte er Ruhe

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