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Welche anderen Formen der Rezeption von Kinderliteratur sind geeignet, den Erwerb pragmatischer Phänomene und Kompetenzen voranzutreiben?

       (5) Welche Formate der unterrichtlichen Beschäftigung mit Kinderliteratur sind geeignet, neben dem literarischen Lernen auch sprachliches (insbesondere „pragmatisches“) Lernen anzuregen?

       (6) In welchen medialen Formen und mit welchen Rezeptionsformaten eignet sich Kinderliteratur für den therapeutischen Einsatz bei verzögerter/gestörter Entwicklung pragmatischer Kompetenzen und Fähigkeiten?

      Wir haben in diesem Beitrag dafür argumentiert, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Pragmatikerwerb darstellt. Das wäre jedoch empirisch zu prüfen. Um die Frage in (1) beantworten zu können, braucht man konkretere Annahmen darüber, was einen Input im Spracherwerb „spezifisch“ macht. Wir haben dafür oben schon einige Vorschläge gemacht. Darüber hinaus bietet sich auch ein Vergleich mit der an das Kind gerichteten Sprache (KGS) an, welche u.a. folgende Eigenschaften aufweist (vgl. u.a. Kauschke 2012, Klann-Delius 2016):

      1 Sie ist an den kognitiven Entwicklungsstand des Kindes angepasst. Das heißt, je jünger das Kind, umso „einfacher“ die KGS.

      2 In dialogischen Erwerbssituationen wiederholt der kompetente erwachsene Sprecher häufig die Zielstruktur/das zu erwerbende Wort mehrmals.

      3 Der erwachsene Sprecher spricht langsamer und deutlicher und mit einer melodischen Intonation.

      Natürlich wurde KGS in Bezug auf sehr junge Kinder beobachtet und ihre Verwendung durch die Bezugspersonen eines Kindes nimmt mit zunehmender Sprachkompetenz desselben ab bzw. es verändern sich die zu beobachtenden Eigenschaften der KGS (vgl. Grimm 2003 zu verschiedenen elterlichen Sprechstilen). Nichtsdestotrotz lassen sich z. B. in Finkbeiners (2011) Analyse von Phrasemen in kinderliterarischen Texten einige, zu den oben genannten analoge, aber auf ältere „Sprachlerner“ angepasste Eigenschaften finden. So hat Finkbeiner verschiedene Phrasemarten in Hinblick auf deren Komplexität unterschieden und zeigen können, dass ein Text für Kinder eher einfachere Phraseme enthält als ein Text für Jugendliche (vgl. a). Des Weiteren spricht Finkbeiner von „Prozeduren der Verständlichmachung“ in literarischen Texten in Hinblick auf Phraseme. Eine solche, bekannte Prozedur ist die der „Phrasemhäufung“: An einer Stelle im Text tritt nicht nur ein Phrasem, sondern treten gleich mehrere auf (vgl. b).

      In Bezug auf (b) lässt sich außerdem noch die Tatsache erwähnen, dass es insbesondere für Kinder im Vorlesealter sehr typisch ist, dass sie ihnen schon bekannte Geschichten immer wieder vorgelesen bekommen möchten. Auch durch diese Praxis kommt es zur mehrfachen Wiederholung eventuell bisher unbekannter oder weniger bekannter pragmatischer Zielstrukturen (vgl. auch Thiede 2019: 388). Aber auch bei der eigenständigen Lektüre von Kinderliteratur hat das lesende Kind jederzeit die Möglichkeit, eine vielleicht schwierig zu verstehende Textstelle mehrfach zu rezipieren, was eine solche Lesesituation von oralen Gesprächssituationen unterscheidet, die ja dialogisch aufgebaut und „flüchtig“ sind und in denen Kinder unter Umständen ihr Nichtverstehen nicht immer anzeigen. Die prinzipielle Möglichkeit, nachzufragen oder Nichtverstehen zum Ausdruck zu bringen, gibt es zwar in solchen Situationen immer. Sie wird aber vielleicht nicht in jeglicher Kommunikationssituation auch wahrgenommen, sondern nur in solchen, an denen Kommunikationspartner beteiligt sind, die in einer solchen sozialen Beziehung zum Kind stehen, dass es ermutigt wird, derartige Verstehensprobleme anzuzeigen.

      Auch für (c) lassen sich mögliche Analogien in literarischen Texten annehmen. Langsameres und deutlicheres Sprechen dient auf Hörerseite der besseren Identifikation und Verarbeitung des Gesprochenen. Dies wiederum bildet die Grundlage für eine gelingende Interpretation des Gehörten. Man könnte daher auch hier von einem Verfahren der Verständlichmachung des sprachlichen Inputs sprechen. Wenn es nun darum geht, pragmatische Phänomene zu verstehen, deren Interpretation auf Annahmen über mögliche Sprecherintentionen beruht, können zum Beispiel mehr oder weniger explizite Hinweise auf solche Sprecherintentionen bei der Interpretation helfen. So ist es z. B. einfacher, eine Äußerung einer literarischen Figur wie „Das war echt Klasse!“ als ironisch gemeint zu interpretieren, wenn der Erzähler dieser einen Hinweis wie „sagte sie und verdrehte dabei die Augen“ oder „sagte sie mit übertriebener Heiterkeit“ etc. beifügt.

      Insgesamt ist also davon auszugehen, dass sich die Spezifik der Kinderliteratur als Input für den Erwerb eines bestimmten pragmatischen Phänomens darin zeigt, dass in literarischen Texten für jüngere Kinder (mehr) einfachere Formen des jeweiligen Phänomens auftreten als in Texten für ältere Leser und/oder dass in literarischen Texten für jüngere Kinder Verfahren der Verständlichmachung des jeweiligen Phänomens eine größere Rolle spielen als in Texten für ältere Leser. Dies ließe sich empirisch nachweisen, wobei die Operationalisierung des Begriffs „Einfachheit“ in Bezug auf die jeweils interessierenden pragmatischen Phänomene nicht zu unterschätzen ist (vgl. die Diskussion in Meibauer 2014).

      Bei der Frage in (2) geht es zunächst einmal darum, die Eigenschaften literarischer Texte in ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen zu identifizieren, die potenziell förderlich sind für den Erwerb eines bestimmten pragmatischen Phänomens und zwar unabhängig von der Frage, wie der einzelne Text tatsächlich rezipiert wird (also ob er z. B. vorgelesen oder selbst gelesen, als Hörspiel oder in Filmform rezipiert wird). Insofern hängt Frage (2) eng mit Frage (1) zusammen, denn die Eigenschaften, die einen Text zu einem spezifischen Spracherwerbsinput machen, sind wohl auch die, die den Erwerb eines bestimmten Phänomens unterstützen (können). Was genau das für Eigenschaften sind, hängt vermutlich stark von dem jeweiligen pragmatischen Phänomen ab, welches gerade im Zentrum des Interesses steht, aber auch von dem Erwerbsstand mit Bezug auf das jeweilige Phänomen, auf dem sich ein Kind gerade befindet. Daneben ist (2) natürlich auch so zu verstehen, dass man empirisch prüft, ob das Selbstlesen von Kinderliteratur tatsächlich den Erwerb pragmatischer Phänomene unterstützt.

      Die Frage in (3) greift das Vorlesen als ein potenziell spracherwerbsförderliches Format auf. Hier geht es darum herauszufinden, ob es auch bei Kindern/Jugendlichen im Selbstlesealter noch geeignet ist, Spracherwerbsprozesse (in Bezug auf pragmatische Phänomene und Kompetenzen) voranzutreiben/zu unterstützen bzw. bei jüngeren Kinder zu erheben, ob sich das spracherwerbsförderliche Potenzial des Vorlesens auch für bisher nicht oder wenig untersuchte pragmatische Phänomene/Kompetenzen nachweisen lässt. Eng mit dieser hängt auch die Frage (4) zusammen, welche anderen Zugriffsweisen auf Kinderliteratur in ihren verschiedenen medialen Formen geeignet sind, den weiterführenden Spracherwerb von Kindern im Selbstlesealter zu unterstützen.

      Mit den Fragen in (2) und (3)/(4) eng verknüpft ist auch die Unterscheidung von interner und externer Pragmatik. So kann möglicherweise ein kinderliterarischer Text aufgrund der in ihm vorkommenden pragmatischen Phänomene (und vielleicht auch deren spezieller „Darstellung“ durch Prozeduren der Verständlichmachung) den kindlichen Leser in seinem pragmatischen Spracherwerb unterstützen, indem er als spezifischer Input dient. Andererseits können auch die Situationen, in denen kinderliterarische Texte rezipiert werden, aufgrund ihrer Merkmale einen günstigen Rahmen für den Erwerb bestimmter pragmatischer Phänomene bieten. Für die Vorlesesituation ist dieser Umstand und die dazu beitragenden Merkmale schon recht gut erforscht, für andere Formen der Rezeption (Hörspiel, -buch, Filme, Selbstlesen) nicht.

      Da eine Aufgabe des Deutschunterrichts darin besteht, Schülerinnen und Schüler in ihrem sprachlichen Lernen zu unterstützen, stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die unterrichtliche Beschäftigung mit Kinderliteratur dazu geeignet ist, auch einen Beitrag zum sprachlichen Lernen zu leisten, vgl. (5). Die in der Deutschdidaktik entwickelten Konzeptionen des Literaturunterrichts zielen zwar vorrangig auf die Aneignung literarischer Kompetenzen und die Unterstützung des literarischen Lernens ab, jedoch wäre zu untersuchen, inwieweit sich die hier vorgeschlagenen unterrichtlichen Methoden wie Vorlesegespräch (vgl. z. B. Spinner 2004, Kruse 2007), literarisches Gespräch nach dem Heidelberger Modell (vgl. z. B. Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert 2010), intermediale Lektüre (vgl. z. B. Kruse 2010, 2014) oder handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht (vgl. z. B. Haas/Menzel/Spinner 1994) auch dazu eignen, pragmatisches Lernen – und auch sprachliches Lernen im Allgemeinen – voranzutreiben.

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