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Texten mit einem hohen Anteil an Passivkonstruktionen einen Effekt auf die entsprechenden produktiven Fähigkeiten der Kinder hatte, der auch noch einen Monat nach Beendigung der Intervention anhielt.

      Erzählen ist eine pragmatische Fähigkeit, die Kinder vermutlich schon im 3. Lebensjahr zu beherrschen beginnen, aber es gibt entsprechende Entwicklungen noch bis in die Jugendzeit (vgl. z. B. Becker/Wieler 2013, Dannerer 2012). Eine Hypothese ist, dass der Erzählerwerb nicht nur durch die schulische Ausbildung befördert wird (bei der auch das schriftliche Erzählen eine wesentliche Rolle spielt), sondern auch durch Vorbilder im Vorgelesenen (vgl. z. B. Lever/Sénéchal 2011); dass Kinder etwas erzählen, ist ja ein typischer Inhalt von Kinderliteratur. Neben dem positiven Einfluss auf die Sprachentwicklung hat das Vorlesen auch eine förderliche Wirkung auf die Ausbildung der literarischen Fähigkeiten von (Vor-)Schulkindern (vgl. z. B. Wieler 1997, Becker 2014, Gressnich et al. 2015).

      Der Fokus bei den oben erwähnten Studien liegt vor allem auf der Interaktionsform „Vorlesen“. Welchen Einfluss auf die Studienergebnisse jeweils die konkret vorgelesenen Texte und deren Eigenschaften hatten, bleibt jedoch weitestgehend unklar (Stark 2016 ist eine Ausnahme). Außerdem haben die meisten uns bekannten Studien den Effekt des Vorlesens auf die sprachliche/literarische Entwicklung von Kindern im Kindergarten- bzw. frühen Grundschulalter (2 bis 7 Jahre) untersucht. Zwar ist der Spracherwerb bis zum Alter von 7 Jahren schon recht weit fortgeschritten, jedoch bei weitem nicht abgeschlossen. Was passiert also danach, insbesondere im Selbstlesealter? Ist davon auszugehen, dass Kinderliteratur als solche auch den weiterführenden Spracherwerb jenseits des Vorlesealters unterstützt? Diese Fragen sind bisher völlig ungeklärt.

      3 Kinderliteratur als spezifischer Input für den Erwerb pragmatischer Phänomene

      Im Unterschied zu den oben genannten Studien interessiert sich Meibauer (2011, 2017) viel stärker für die Frage, wie kinderliterarische Texte an sich sprachlich zu charakterisieren sind und welche Rolle sie für den Spracherwerb spielen. Er stellt die These auf, dass Kinderliteratur einen spezifischen Input für den Spracherwerb darstellt. Insbesondere sei Kinderliteratur „eine Literatur (…), die systematisch auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt“ (Meibauer 2011: 11).

      In der Spracherwerbsforschung geht man normalerweise davon aus, dass es beim Menschen einerseits eine genetisch und biologisch kodierte Fähigkeit zum Spracherwerb gibt, dass aber anderseits ein Input erforderlich ist, damit eine Sprache gelernt werden kann. Wenn von einem spezifischen Input die Rede ist, ist damit ein Input gemeint, der nicht notwendig vorkommt und deshalb besondere Lernchancen bietet. Ein solcher spezifischer Input ist die Kinderliteratur.

      Auch wenn das Kind schon selbst lesen kann, hat Kinderliteratur einen Einfluss auf die Entwicklung pragmatischer Fähigkeiten. Funktional für diesen Zusammenhang ist, dass Kinderliteratur grundsätzlich an den kindlichen Entwicklungsstand angepasst ist. Dies gilt für Frühe-Konzepte-Bücher genauso wie für Jugendliteratur mit ihren oft komplexen narrativen Verfahren, die denen der Erwachsenenliteratur in nichts nachstehen.

      In der Spracherwerbsforschung ist eine gängige Annahme, dass Einfaches vor Komplexem erworben wird. Genauso kann man annehmen, dass einfache Kinderbücher vor komplexen Büchern rezipiert werden. Oder umgekehrt, dass einfache Bücher an kleine Kinder adressiert sind und komplexe Bücher an größere Kinder. Dass Einfachheit eine wichtige Kategorie von Kinderliteratur ist, hat Lypp (2002) früh gesehen. Aus linguistischer Sicht fehlt aber eine genaue Operationalisierung dieser Einsicht (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2017, Meibauer 2014).

      In der Spracherwerbsforschung gilt als ein wichtiges Komplexitätsmaß die MLU (‚mean length of utterance‘). Hier wird in Bezug auf 100 vom Kind gemachten Äußerungen die durchschnittliche Anzahl der Morpheme pro Äußerung gezählt (Kauschke 2012: 85). In der Zweiwortphase ergibt sich ein durchschnittlicher Wert von zwei Wörtern pro Satz. Die Erwartung ist, dass im Verlaufe des Spracherwerbs die vom Kind gemachten Äußerungen/Sätze länger werden.

      Auch in allen anderen Hinsichten ergibt sich eine Komplexitätszunahme hinsichtlich der sprachlichen Äußerungen der Kinder: Die Komplexität von Wörtern nimmt zu; die Komplexität von Sätzen nimmt zu (einfacher Satz vs. komplexer Satz); die Länge von Gesprächsbeiträgen/Texten steigt; es werden mehr komplexe Konstruktionen verwendet, zum Beispiel Passiv, Negation, Modalverbkonstruktionen, usw. (siehe dazu die chronologische Übersicht über Meilensteine des Spracherwerbs bei Kauschke 2012: 173ff.). Im Prinzip müsste man zu jedem kinderliterarischen Text feststellen können, wie er zu den sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes passt. Verstehensschwierigkeiten entstehen bei einer mangelnden Passung. Wird diese überwunden, hat das Kind etwas gelernt.

      Pragmatisches Lernen findet natürlich auch gänzlich ohne Kinderliteraturinput statt. Oder umgekehrt: Unter den pragmatischen Angeboten des Inputs werden einige sein, die auch im lektüreunabhängigen Input vorkommen. Einige werden aber auch spezifisch in dem Sinne sein, (i) dass sie entweder ausschließlich durch die Fiktionalität konstituiert werden oder aber (ii) in besonders verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In Bezug auf (i) kann man zunächst an den Reim denken, der in gesprochener Sprache nicht vorkommt. Man kann hier auch an gewisse Konstruktionen wie die inquit-Formel „Es war einmal …“ denken, die typisch für Märchen ist. Auch gewisse Formen der indirekten Redewiedergabe, zum Beispiel die erlebte Rede, dürften spezifisch für die Narration sein. In Bezug auf (ii) kann man viele pragmatische Phänomene nennen, die auch im normalen alltäglichen Input vorkommen, aber innerhalb der Kinderliteratur in solchen Kontexten, die ein besonderes Lernangebot bereithalten. Dies betrifft praktisch alle Bereiche der Pragmatik, die hier kurz angerissen werden sollen.

      Der Erwerb von Sprechakttypen dürfte am besten empirisch erforscht sein.1 Vermutlich sind im kinderliterarischen Input spezielle Sprechakttypen vorhanden, wie zum Beispiel die Beschwerde oder die Prophezeiung, die im Alltagsinput nicht so häufig sind. Im Kontext der Literatur sind solche Sprechakte mit Konsequenzen verbunden, die über Glückensbedingungen für die entsprechenden Sprechakte Aufschluss geben können (vgl. Gressnich 2018). Kleinere Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten beim Verstehen der Aufrichtigkeits- und der Vorbereitungsbedingung für Versprechen (Bernicot/Laval 2004). Es könnte sein, dass sie aus dem Kontext einer Narration Aufschluss darüber gewinnen, wie diese Bedingungen normalerweise funktionieren. Genauso können sie Aufschlüsse über die sprachlichen Aktivitäten des Lügens und Täuschens aus der Lektüre entsprechender Erzählungen gewinnen (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). Im Buch Ich Tarzan – du Nickless! (Murail/Gay 2011), welches vom Verlag für Kinder ab einem Alter von 7 Jahren empfohlen wird, gibt es z. B. folgende Szene.

      Ich fragte: „Wofür ist das gut, ,in einer Sprache zu baden’?“ Papa regte sich auf. „Jean-Charles, ich bitte dich! Am Ende der Ferien wirst du Deutsch können. Das ist sehr wichtig für später. Erfolg im Leben hat man nur, wenn man eine Fremdsprache beherrscht.“

      „Kannst du denn Deutsch?“ Mein Vater musste husten, bevor er antwortete. „Ein bisschen“, sagte er. Was eine glatte Lüge war.

      Während für einen älteren Leser das Husten des Vaters ein Hinweis sein kann, dass die folgende Äußerung des Vaters mit Vorsicht zu genießen ist, mag das für die anvisierte Leserschaft unter Umständen noch kein ausreichender Hinweis darauf sein, dass die Antwort des Vaters nicht der Wahrheit entspricht. Hier hilft jedoch der Erzähler nach, indem er dem Leser eine direkte Interpretation der Äußerung des Vaters bietet. Insgesamt bietet dieses Buch sehr viele Möglichkeiten, etwas über die Aktivitäten des Täuschens zu lernen. Der Protagonist Jean-Charles gibt seinen Eltern gegenüber vor, von einem Jungen (Nickless) auf dem Urlaubscampingplatz Holländisch zu lernen. Tatsächlich macht er sich einen Spaß und bringt dem Jungen, welcher wiederum denkt, er würde von Jean-Charles Französisch lernen, eine „Quatschsprache“ bei. Damit er dabei selbst nicht durcheinanderkommt, schreibt er sich die Wörter, die er sich hat einfallen lassen, in sein eigenes Vokabelheft. Seinen Eltern gegenüber verkauft er die aufgeschriebenen Wörter wiederum als Vokabeln des Holländischen.

      In kinderliterarischen Texten spielen auch verschiedene Arten von konversationellen Implikaturen

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