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Insbesondere Bilderbücher bieten die Möglichkeit, im Text nicht explizit Verbalisiertes, aber doch Nahegelegtes (u.a. auch Implikaturen) auf der Bildebene explizit aufzugreifen. Damit „zeigen“ sie dem kindlichen Betrachter/Zuhörer/Leser die entsprechende Interpretationsmöglichkeit des verbal Ausgedrückten. Insgesamt ist davon auszugehen, dass kinderliterarische Texte den kindlichen Leser beim Verstehen von Implikaturen dadurch unterstützen, dass diese in den jeweiligen Kontext der beim (Vor-)Lesen durch das Kind aufgebauten mentalen Textwelt eingebettet auftreten.

      Um Implikaturen und andere nicht explizit „gesagte“ Bedeutungsaspekte von Äußerungen verstehen zu können, bedarf es einer Theory of Mind, also der grundsätzlichen Fähigkeit, auf die mentalen Zustände Anderer schließen zu können. Dafür muss dem Kind zunächst einmal bewusst werden, dass Andere einen vom eigenen abweichenden Wissensstand in Bezug auf einen Sachverhalt haben können und dass ihr konkretes Handeln auf ihren jeweiligen Wissensstand zurückzuführen ist. Dieser Wissensstand kann natürlich auch von den realen Gegebenheiten abweichen, d.h., Menschen können falsche Überzeugungen haben, auf deren Basis sie handeln. Umgekehrt lassen sich auch Handlungen von Menschen, die in einem bestimmten Kontext vielleicht zunächst unangemessen erscheinen, dadurch erklären, dass man der handelnden Person einen bestimmten Wissensstand „unterstellt“.

      Beim Verstehen von Implikaturen schließt man vom sprachlichen Handeln einer Person auf deren zugrundeliegende Intentionen, die das entsprechende sprachliche Handeln erklären könnten, man nimmt also eine andere Perspektive ein. Kinderliterarische Texte bieten eine Fülle an Möglichkeiten, die Fähigkeit der Perspektivenübernahme auszubilden bzw. zu erweitern. So mag sich der kindliche Leser/Zuhörer beim ersten Betrachten des Bilderbuchs Das Buch über uns (Willems 2015) z. B. fragen, warum einer der beiden Protagonisten (ein Schwein) auf der ersten Seite dieses Buches, dem Leser zugewandt, „Vielen Dank!“ sagt. Ist man dann auf der letzten Doppelseite des Buches angelangt, auf der die beiden Protagonisten den Leser bitten „Würdest du uns bitte noch mal lesen?“ und ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass „das klappt“, und kommt dem Wunsch der beiden nach, versteht man das „Vielen Dank!“ auf der ersten Buchseite plötzlich ganz anders, nämlich vor dem Hintergrund des durch das Schwein zum Ausdruck gebrachten Wunsches. Nun kann man auch die beim ersten Lesen auftretende Frage, warum das Schwein gleich auf der ersten Seite des Buches „Vielen Dank!“ sagt, beantworten. Es tut dies, weil es davon ausgeht, dass der (kindliche) Leser seinem Wunsch nachgekommen ist, das entsprechende Buch erneut zu lesen.

      Schon Cassidy et al. (1998) haben argumentiert, dass kinderliterarische Texte Kindern möglicherweise Erfahrungen bieten, welche die Entwicklung der Theory of Mind fördern, da sie einen Kontext bieten, in dem mentale Zustände diskutiert werden (ebd.: 464). Sie zeigen mit ihrer Studie, dass Theory-of-Mind-Konzepte in kinderliterarischen Texten recht weit verbreitet sind. Dabei konzentrierten sie sich auf Texte, die 3- bis 6-Jährigen vorgelesen wurden. Insbesondere die Fähigkeit, Anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben, entwickelt sich erst im Laufe des vierten Lebensjahres. Aber auch die Bücher für die unter 4-Jährigen enthielten schon nennenswerte Mengen an Instanzen falscher Überzeugungen, so dass man sagen kann, dass sie die Entwicklung der Fähigkeit, falsche Überzeugungen bei anderen als solche wahrzunehmen, unterstützen können.

      Auch verschiedene Formen figurativer Sprache treten in Kinderbüchern auf. Colston/Kuiper (2002) haben z. B. eine Reihe von Kinderbüchern hinsichtlich des Vorkommens konzeptueller und nominaler Metaphern sowie von Vergleichen untersucht. Dabei stellten sie fest, dass in ihrem Korpus durchschnittlich pro 1000 Wörter Text knapp 54 solcher Metaphern/Vergleiche auftraten. Die Autoren vergleichen diese Zahl mit der durchschnittlichen Anzahl an Metaphern in einem Korpus aus schriftlichen und mündlichen Texten Erwachsener (Graesser/Mio/Millis 1989), die 40 Metaphern pro 1000 Wörter Text beträgt. Auch wenn dieser Vergleich mit Vorsicht zu genießen ist, da die zugrundliegenden Korpora (einmal kinderliterarische Texte, einmal schriftlich vorbereitete Reden und mündlicher Diskurs) sich stark voneinander unterscheiden, ziehen Colston/Kuiper daraus den Schluss, dass die Häufigkeit des Vorkommens von Metaphern in kinderliterarischen Texten zumindest nicht unterschätzt werden sollte. Das zeigt sich auch im Beitrag von Ash (2012), in dem sie eine ganze Reihe von Kinderbüchern auflistet, in denen Metaphern und Vergleiche eine prominente Rolle spielen, nicht zuletzt, weil sie dort in verdichteter, exemplarischer und deshalb besonders salienter Form vorkommen. In dem Buch Die Werkstatt der Schmetterlinge (Belli/Erlbruch 2001) kommen zum Beispiel sehr viele Vergleiche und auch einige Metaphern vor. Dabei wird das Verstehen der Metaphern dadurch erleichtert bzw. angebahnt, dass den Metaphern entsprechende Vergleiche vorangehen. Im Buch wird erzählt, wie der Protagonist Rodolfo die Schmetterlinge erfand. Zu Beginn denkt er darüber nach, ein Wesen zu schaffen, das „wie ein Vogel und gleichzeitig wie eine Blume sein sollte.“ (ebd.: 6–7). Da es sich hier um einen Vergleich handelt, ist dieser für die anvisierte Leser-/Zuhörerschaft – das Buch wird vom Verlag für 5- bis 7-Jährige empfohlen – vermutlich gut nachvollziehbar. Später, nachdem es Rodolfo gelungen ist, ein solches Tier zu „erfinden“, zeigt er es seinen Freunden, die die Erfindung mit „,Eine fliegende Blume!‘ rief Paganini. ,Ein winzig kleiner Vogel …’ staunte Kalle“ kommentieren (ebd.: 26). Auch Purcell (2016) argumentiert dafür, dass Bilderbücher durch den Einsatz von Metaphern auf visueller Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Metaphern zu verstehen, beitragen können.

      Die Fähigkeit, die nicht-kompositionale, aber häufig dominantere Bedeutung von Phrasemen zu verstehen, entwickelt sich ab dem 6./7. Lebensjahr und dauert teils noch bis ins 13. Lebensjahr an (vgl. Cacciari/Levorato 1989). Wie Richter-Vapaatalo (2007) und Finkbeiner (2011) mit ihren Analysen gezeigt haben, können kinderliterarische Texte beachtliche Mengen an Phrasemen aufweisen und somit prinzipiell die Entwicklung der Fähigkeit, deren nicht-kompositionale Bedeutung zu verstehen, unterstützen, wie auch den Erwerb dieser sprachlichen Einheiten als solchen.

      Auch die Untersuchungen zur Fähigkeit, Ironie zu verstehen, weisen auf einen längeren Erwerbszeitraum hin (im Alter von 4 bis 10 Jahren laut Hoicka 2014, 6 bis 12 Jahren bei Hodske et al. 2007 und Filippova 2014). Obwohl in der Literaturwissenschaft (z. B. Walsh 2003, 2016) und der Pädagogik (z. B. Aßmann 2008, Aßmann/Krüger 2011, Krüger 2011) die Angemessenheit von Ironie als sprachlichem Mittel in Literatur für Kinder bzw. in den verbalen Interaktionen pädagogischer Fachkräfte mit Kindern auch weiterhin diskutiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele kinderliterarische Texte Ironie enthalten.2 Das gilt auch für Bilderbücher (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999), bei denen sich häufig – ähnlich wie bei Metaphern – die Ironie aus der spezifischen Diskrepanz zwischen den Narrationen auf verbaler und bildlicher Ebene ergibt. Aber auch in Büchern für jüngere Selbstleser findet sich schon Ironie rein auf der verbalen Ebene. In Spackos in Space (Till 2013), welches vom Verlag für Leser ab 10 Jahren empfohlen wird, bedankt sich z. B. der autodiegetische Erzähler für die umständliche und umfangreiche Wegbeschreibung eines Roboters mit den Worten „,Vielen Dank für die unkomplizierte Wegbeschreibung!‘“ (ebd. 29). In Frerk, du Zwerg! (Heinrich/Flygenring 2011, vom Verlag ab 8 Jahren empfohlen) kommentiert der Erzähler die Bemerkung, die Frerks Mutter macht, als sie ihm sein Frühstück hinstellt („‚Damit du groß und stark wirst.‘“) gedanklich mit „Na, hat ja prima geklappt bisher. Er ist der Drittschwächste und der Zweitkleinste in seiner Klasse.“ (ebd.: 17).

      Zwar ist das Erzählen von Witzen grundsätzlich eine orale Textsorte (vgl. Hauser 2005), aber Witze sind oft vorgefertigt und spielen in der Kinderliteratur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man kann annehmen, dass Kinder Witzformate und Witze unter anderem auch durch Kinderliteratur lernen. Ähnliches gilt auch für andere Formen von Humor. Je jünger die anvisierten Leser, desto höher ist der Anteil an „lustigen“ Büchern in der Kinderliteratur. Schon (Bilder)bücher für die jüngsten (Selbst-)Leser stellen eine mögliche Erwerbsquelle für Humor dar. Auch hier ergibt sich dieser häufig nicht ausschließlich auf der Textebene, sondern im Zusammenspiel mit der Bildebene. In Büchern für ältere Leser spielt dann vor allem konversationeller Humor eine größere Rolle. Hier erhalten Leser Modelle für gelingende (oder eben auch misslingende) humorvolle Kommunikation. So witzelt der autodiegetische Erzähler in Ohrensausen (Till 2004) mit seiner Klassenkameradin wie folgt herum, als diese das erste Mal zu ihm kommt, um mit ihm Mathe zu üben.

      „Okay,

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