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% noch einen Ehepartner. Geschwister werden im Alter daher wieder Bezugspunkt und Ressource. Die Beziehung zwischen Geschwistern stellt die längste Beziehung dar, die ein Mensch zu einem anderen Menschen innehat. Kasten (1993) beschreibt eine tiefwurzelnde (oftmals uneingestandene) emotionale Ambivalenz mit dem gleichzeitigen Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen wie Liebe und Zuneigung und negativen Gefühle wie Ablehnung und Hass als Charakteristikum der Geschwisterbeziehungen. Darstellungen der Geschwisterbeziehungen aus psychoanalytischer Sicht finden sich bei Kasten (1993), Petri (1994) und Sohni (2004) und in den Sammelbändern der »Familientherapie« (2015, 16, Heft 30) und der »Psyche« (2017, 71, Heft 9/10).

      Trotz dieser Arbeiten wird die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen in den psychoanalytischen Theorien vergleichsweise wenig beachtet – am ehesten noch in der Literatur zu Gruppenanalyse und psychodynamischer Gruppenpsychotherapie (z. B. Staats, Bolm & Dally, 2014). In Gruppen kann gut beobachtet werden, wie Konflikte der Teilnehmer mit ihren Geschwistern in deren Ursprungsfamilie auf aktuelle Beziehungen in der Gruppe und auch auf Beziehungen der Kinder (der Gruppenteilnehmer) untereinander übertragen werden.

      Beispiel:

      Die als jüngstes Kind subjektiv in vielem »zu kurz« gekommene Mutter unterstützt immer wieder finanziell und emotional die jüngere, in ihrem Erleben zu kurz kommende Tochter; der als ältester Sohn geborene und gegenüber seinem jüngeren Bruder auf viel Aufmerksamkeit bedachte Vater fördert besonders den älteren Bruder über sein besonderes Interesse. Die Eltern bemühen sich bewusst um »Gerechtigkeit«. Die Rivalität der Geschwister wird durch das Verhalten der Eltern aber gesteigert. Beide fühlen sich benachteiligt. Die Geschwister erleben ihre Eltern als ganz unterschiedlich und brauchen ihre Zeit, um sich über ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Elternbilder verständigen zu können und die Sicht des jeweils anderen als ebenfalls berechtigt wahrzunehmen.

      Neben Gemeinsamkeiten, werden oft deutliche, betonte Unterschiede zwischen Geschwistern beschrieben. Diese auseinanderführenden Entwicklungen werden auf zwei verschiedene Vorgänge zurückgeführt. Einerseits sind Geschwister von Beginn an subjektiv unterschiedlichen Umwelten ausgesetzt. Sie entwickeln sich daher auch unterschiedlich. Interaktionen in der Familie hängen von ihrem genetisch angelegten Temperament ab und von einer Umwelt, die durch ihre Ankunft schon anders ist als die ihrer Geschwister. Andererseits schaffen sich Geschwister diese unterschiedlichen Umwelten und Nischen auch aktiv, um sich zu unterscheiden und mit unterschiedlichen Entwicklungswegen Rivalität zu moderieren. Diese »Deidentifikation« trägt dazu bei, dass miteinander aufwachsende Geschwister sich in einigen empirischen Studien stärker unterscheiden als getrennt aufwachsende Geschwister. Identifizierungen und Abgrenzungen innerhalb der Geschwisterreihe nehmen Einfluss auf unbewusste Beziehungsvorstellungen und Erwartungen. Die dort gemachten Erfahrungen werden übertragen – auf die eigenen Kinder, Freunde, Arbeitskollegen und Partner.

      Zur Entwicklung sozialer Kompetenz tragen Geschwisterbeziehungen in vielfältiger Weise bei. Sie ermöglichen eine – im Verhältnis zu den Eltern anders gelagerte und leichter erreichbare – Perspektivübernahme und Triangulierung. Beziehungen zu Geschwistern unterscheiden sich aber auch von denen zu Eltern. Geschwister geben direktere Rückmeldung. Während Eltern in Auseinandersetzungen häufig nachgeben, bleiben Geschwister eher »stur«. Konflikte werden durchgestanden. Die Geschwister erziehen sich gegenseitig – »unter der Supervision der Eltern«. Die horizontalen Bindungen und Konflikte zwischen Geschwistern treten oft nach dem Tod der Eltern besonders deutlich hervor.

      Diese – entwicklungsfördernde – Sicht auf Geschwisterbeziehungen wird aber auch hinterfragt. Aus psychoanalytischer Perspektive wird das Erleben von Neid und Rivalität als wichtig zur Abgrenzung und Ich-Entwicklung angesehen. Aus verhaltenstherapeutischer Sichtwerden dagegen häufige körperliche Gewalt und Ausschluss als eine Ursache späterer Schwierigkeiten im Erwachsenenleben beschrieben. Rivalität gelte es zu verhindern – nicht als eine normale Entwicklungsphase hinzunehmen (Witte et al., 2019). Die Autoren beschreiben in einer umfangreichen Befragung Erwachsener zu ihrem Erleben in der Kindheit, dass ein geringer Altersabstand zwischen Geschwistern mit verstärkten Konflikten und Feindseligkeit einhergeht. Eine höhere Anzahl der Geschwister war dagegen mit geringerer Feindseligkeit und geringerer Konflikthäufigkeit im Erwachsenenalter verbunden.

      Auch wenn Eltern sich um Gerechtigkeit bemühen – die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind unterschiedlich. Die Rolle eines Lieblingskindes, der »Prinzessin« oder des »Prinzen«, ist dabei auch eine Belastung für das Kind. Eine Einschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten ist bereits in der Kindheit deutlich und kann – über anhaltende Konflikte mit den Geschwistern und nicht bewusste und nicht verhandelte Erwartungen zwischen Eltern und Kindern – über das ganze Leben hin wirksam sein. Im Einzelfall bleibt offen, ob das Erleben von Neid und Rivalität zwischen Geschwistern, wie es in der Geschichte von Aschenputtel so deutlich beschrieben ist, erfolgreich bewältigt oder zu einer bleibenden Belastung wird. Dies gilt ähnlich auch für sexuelle Erkundungen zwischen Geschwistern, in denen die Grenze zwischen Gewalt und einem einverständlichen Begehren und Erkunden nicht immer klar ist – und auch im Laufe des Lebens verschoben werden kann.

      Einige Besonderheiten der Entwicklung von Geschwistern werden hier kurz angesprochen, weil sie hohe klinische Bedeutung haben. Scheidungen der Eltern wirken sich auch auf die Geschwisterbeziehungen aus (image Kap. 7.5). Verluste können, zumindest zum Teil, in einer Patchwork-Familie wieder kompensiert werden. In diesen Familien liegt es an der Zusammenarbeit der einzelnen Familienmitglieder, ob die Entwicklung der Kinder durch ihre Geschwister gefährdet oder bereichert wird. Der Tod von Kindern bringt nachfolgende Geschwister in eine besondere Situation. Die Rolle eines »Ersatzkindes« ist häufig mit lang anhaltenden Schwierigkeiten in der Selbstentwicklung verbunden, die mit einem überdauernden Erleben von Schuld und Scham einhergehen. Auch das Aufwachsen mit stark behinderten Geschwistern oder Pflegekindern in der Familie bietet besondere Schwierigkeiten. Es ist eine Herausforderung, hier Unterschiede im Umgang mit den Kindern nachvollziehbar zu gestalten und nicht zu verleugnen. Lauterbach (2007) beschreibt, wie Geschwisterbeziehungen »flach« und wenig wichtig bleiben können. Sie führt dies auf eine Parentifizierung von Kindern zurück – hier bleibt die Entwicklung emotionaler Beziehungen auf der horizontalen Ebene aus.

      Zusammenfassung

      Die Zeit der Latenz wird als ein »Stiefkind« der allgemeinen psychoanalytischen Theorien beschrieben. Weiterführende Literatur findet sich bei Endres und Salamander (2014) und – mit einem Bezug zu Konzepten von Bion und Klein – bei Diem-Wille (2015), die die Latenz als das »goldene Zeitalter« der Kindheit beschreibt.

      Erikson beschreibt das Selbsterleben des Kindes in der Latenzzeit als ein »Ich bin, was ich kann«. Die Entwicklung von vielfältigen Fähigkeiten ist die zentrale Aufgabe dieser Phase. Kinder bilden soziale und intellektuelle Kompetenzen aus, die wiederum ihr Erleben verändern. Konflikte ranken sich um das lustvolle Erleben der eigenen Kompetenz und das »Noch-nicht-Können« mit Gefühlen von Versagen und Minderwertigkeit. Als Lösung entwickeln Kinder ein Vertrauen auf ihre grundlegenden sozialen und intellektuellen Fähigkeiten, die sich als verinnerlichte Struktur in den Erwartungen an sich selbst und an andere Menschen niederschlagen. Ödipale Konflikte und Dreieckskonstellationen (mit der Sicherung von Triangulierungsprozessen), die Integration unterschiedlicher Identifikationen und ihre Relativierung und die Selbstwertregulation spielen eine große Rolle. Vertrauen auf die eigenen Kompetenzen und die Welt und die Integration narzisstischen Erlebens – auch mit der Anerkennung von Differenzierung von Selbst und Objekt – dienen der Abwehr übermäßigen Neides und der Entwicklung sozial angepasster Rivalität. Eltern haben dabei die Aufgabe, ihre Kinder in der Familie an eine soziale Anpassung heranzuführen und in die Gesellschaft zu integrieren.

      Geschwisterbeziehungen sind in der Regel die zeitlich längsten Beziehungen eines Menschen. Ihre Bedeutung wechselt über die Lebensspanne. Ein U-förmiger Verlauf mit starker Nähe und subjektiver Bedeutung am Lebensanfang und dann wieder im höheren Alter ist häufig. In psychoanalytischer Theoriebildung werden die Beziehungen von Geschwistern gegenüber den Erfahrungen mit den Eltern vernachlässigt.

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