Скачать книгу

Konzepte und Modelle als Beiträge innerhalb eines Diskurses verstanden werden. Im Fokus steht das Interesse an Beziehungen und ihrer Entwicklung – Beziehungen zu anderen Menschen, zu sich selbst, zu Gruppen, Kulturen und materiellen Dingen. Die wechselseitige Beeinflussung interpersonellen Verhaltens und intrapsychischen Erlebens wird herausgearbeitet, die Entwicklung psychischer Strukturen aus Beziehungserfahrungen vor dem Hintergrund biologischer und sozialer Faktoren in ihren bewussten und unbewussten Dimensionen beschrieben. Das Lernen von Beziehungen in Beziehungen und ihre weitere Entwicklung ist ein weitgehend nicht bewusster und erst nachträglich reflektierter Prozess.

      Zu diesem Buch tragen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit erwachsenen Menschen, mit Kindern und Jugendlichen, mit Gruppen und Familien bei; die Lehre an Hochschulen und an Ausbildungsinstituten sowie Forschung zu den Verknüpfungen interpersoneller und intrapsychischer Aspekte des Verhaltens und Erlebens stehen damit in einem engen Zusammenhang. Viele Menschen haben mit ihren Fragen und Überlegungen zu diesem Buch beigetragen. Danken möchte ich meinen Studierenden, vor allem Alina Schönwetter, die für dieses Buch Literatur gesucht und Fragen formuliert haben, Astrid Kunze, die auf Unklarheiten hingewiesen und zu einer klareren Darstellung beigetragen hat, meinen Lehrern und Kollegen und den Patienten und Familien, denen Sie in der einen oder andern Form in diesem Buch begegnen. Svenja Taubner hat vielfältige Überlegungen, Vorschläge und Materialien eingebracht, besonders in die Kapitel zur Adoleszenz und dem jungen Erwachsenenalter; Anja Boencke und Antje von Boetticher haben den Beitrag zu den digitalen Medien kommentiert, Tanja Hoffmann hat zum Kapitel »Altern, Sterben und Tod« beigetragen. Von den vielen offenen, nach Verstehen und Klarheit suchenden Gesprächen hoffe ich mit diesem Buch etwas weiterzugeben.

      Wechselwirkungen zwischen Sprache und individuellen und gesellschaftlichen Denkmustern sind in einem entwicklungspsychologischen Buch ein implizites Thema. Die männliche und die weibliche Form werden im Text zusammen verwendet, wenn es für die Lesbarkeit hilfreich ist, beide Formen schließen in der Regel alle Geschlechter ein. Leserinnen und Leser können aus dem Zusammenhang leicht erschließen, wann spezifisch eines der Geschlechter gemeint ist.

Potsdam und Göttingen, Frühjahr 2021Hermann Staats

      1 Einleitung: Aufbau und Zielsetzung

      »Was ist und zu welchem Zweck betreiben wir Entwicklungspsychologie?« Oerter und Montada (2008, S. 3) verweisen darauf, dass in der »etwa hundertjährigen Geschichte der empirischen Entwicklungspsychologie« auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben wurden. »Verschiedene Forschungstraditionen gingen von unterschiedlichen Fragestellungen und Menschenbildern aus und bildeten unterschiedliche Konzepte und Theorien der Entwicklung«. Siegler et al. (2005, S. XI) beginnen ihr Lehrbuch mit dem Satz: »Es ist eine aufregende Zeit, um ein Lehrbuch über Kindesentwicklung zu schreiben«. Schneider und Lindenberger (2018) argumentieren ähnlich.

      Für psychoanalytische Entwicklungstheorien gilt dies in einem vielleicht noch stärkeren Ausmaß als in der akademischen Entwicklungspsychologie. Tyson und Tyson (1990, dt. 2009) haben ihr klassisches »Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie« für Studierende geschrieben, die immer wieder durch die »Vielzahl widersprüchlicher und sich ausschließender Theorien« in Verwirrung geraten seien. Sie zielten auf eine »Synthese psychoanalytischer Entwicklungstheorien« (S. 15). Der Fokus liegt hier auf der frühen Entwicklung des Kindes. Zur Schulzeit, Adoleszenz und dem Erwachsenenalter finden sich nur vergleichsweise kurze Abschnitte. Heute gibt es nicht mehr eine einheitliche psychoanalytische Entwicklungspsychologie. Widersprüche und Konflikte tragen zur Faszination des Feldes bei. Dies gilt in besonderem Ausmaß für Theorien späterer Entwicklungen. Psychologische, neurobiologische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben zu einer Explosion unseres Wissens geführt. Zur Bedeutung dieser Wissensexplosion haben sich psychoanalytische Autorinnen und Autoren sehr unterschiedlich positioniert:

      • Die Ergebnisse empirischer Studien zur Entwicklung von Menschen und neue Konzepte der Entwicklungspsychologie werden als wenig wichtig für psychoanalytische Theorien angesehen und ignoriert.

      • Einzelne entwicklungspsychologische Konzepte (wie etwa »Bindung« oder »Mentalisieren«) werden Grundlage neuer klinischer Modelle und Behandlungsstrategien. Mit ihnen gelingt es, die Komplexität menschlicher Entwicklung – wieder – auf ein vergleichsweise einfach überschaubares und für die klinische Praxis als Leitschnur nutzbares Modell zu reduzieren. So kann der Anschluss der Psychoanalyse an empirisch arbeitende Wissenschaften leichter gehalten und weiterentwickelt werden.

      • Viele primär klinische Beiträge nutzen ausgewählte entwicklungspsychologische Befunde, um das eigene therapeutische Vorgehen zu begründen.

      Ziel dieses Buches ist es, die wichtigsten Entwicklungsmodelle innerhalb der Psychoanalyse darzustellen. Wo dies möglich ist, werden die unterschiedlichen Beiträge und Sichtweisen dieser Modelle aufeinander bezogen. Gegensätzliche Auffassungen sind herausgearbeitet, auch ohne dass eine Synthese gelingt. Aktuelle psychoanalytische Fragen und Ergebnisse der empirischen Entwicklungspsychologie werden miteinander verbunden. Historisch wichtige Konzepte sind – in einem besonderen Format erkennbar – kurz dargestellt. Folgerungen für die therapeutische oder pädagogische Praxis werden ebenfalls hervorgehoben präsentiert (»Folgerungen für die Praxis«). Am Ende jedes Kapitels sollen offene Fragen ein Weiterdenken zu den Inhalten fördern.

      In diesem zweiten Band der »Psychoanalytischen Entwicklungspsychologie« werden Entwicklungsprozesse der Schulzeit, der Adoleszenz, des »auftauchenden Erwachsenenalters«, des Erwachsenseins und der Elternschaft bis in das hohe Alter dargestellt. Band 1, »Schwangerschaft, Geburt und Kindheit«, umfasst die Zeit von der Schwangerschaft bis zum Übergang in die Schule. Der zweite Band ist für sich lesbar. Er verweist an vielen Stellen auf die im Lebensverlauf wichtig bleibenden Konzepte kindlicher Entwicklungen, wie sie im ersten Band dargestellt sind. Ein Kapitel zur Bedeutung digitaler Welten und Abschnitte zu Veränderungen familiärer Modelle, zu Sexualität und Aggression ergänzen den chronologischen Aufbau. Schulzeit, Erwachsenwerden und Altern sind in hohem Ausmaß von sozialen Faktoren abhängig. Entwicklungswege verzweigen sich daher vielfältig – und damit auch Modelle psychischer Entwicklungen. Die Auswahl der zu diesen Lebensphasen aufzugreifenden Themen und Theorien ist eine Herausforderung. Verweise auf weiterführende Literatur ergänzen daher die Darstellungen. Die Aufteilung der Kapitel folgt Entwicklungsphasen, die durch das Lösen bestimmter Aufgaben gekennzeichnet sind. Das Erleben in Beziehungen steht im Mittelpunkt. Wenn Ergebnisse aus anderen Wissenschaften psychoanalytische Theorien ergänzen, in Frage stellen oder bestätigen, wird versucht, Ungewissheiten zu erhalten und zwischen Hypothesen und empirischen Belegen zu unterscheiden.

      Entwicklungsstörungen werden in diesem Buch nur beispielhaft betrachtet. Die relativ neue Disziplin der Entwicklungspsychopathologie stellt eine Verbindung aus Klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie dar. Der Komplexität dieser interdisziplinären Forschungsrichtung gerecht zu werden, würde das Ausmaß dieses Buches sprengen. Entwicklungspsychologie, Sozialisationsforschung, Neurobiologie, Genetik und Entwicklungspsychopathologie wachsen teilweise zu einer neuen Disziplin zusammen, die als »Entwicklungswissenschaft« bezeichnet wird. Es liegt in der Tradition des neugierigen Denkens Freuds, Ergebnisse aus Nachbarwissenschaften aufzugreifen und für ein Verstehen subjektiver seelischer Prozesse zu nutzen. Die Konzepte, auf die sich Therapeutinnen und Therapeuten dabei beziehen, haben Auswirkungen auf ihre jeweilige Behandlungspraxis. Die Vielfalt psychoanalytischer Theorien wird in diesem Buch als eine Bereicherung angesehen – und zugleich mit dem Wissen um die Beschränkung eines einzelnen Ansatzes (und mit Kenntnissen zu seiner Entstehung) verbunden.

      Literatur zur vertiefenden Lektüre

      Poscheschnik, G. & Traxl, B. (Hrsg.) (2016). Handbuch Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft. Gießen: Psychosozial Verlag.

      Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hrsg.) (2018). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz.

      Siegler et al. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Heidelberg: Springer.

      2 Schule und Latenzzeit

      »Hänschen klein ging allein

Скачать книгу