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Beziehungskompetenzen vermitteln. Bildungsungerechtigkeit wird so tradiert. Eine längere Zeit in auf kognitives Lernen ausgerichteten altershomogenen Gruppen hat Folgen für spätere Beziehungen in Familien: Kinder lernen weniger leicht – spielerisch und nebenbei –, sich mit kleineren und größeren Kindern zu arrangieren. Betreuungskompetenzen werden nicht mehr selbstverständlich erworben. Das führt dazu, dass viele Eltern später, mit ihren eigenen Kindern, nicht oder kaum auf Erfahrungen im Umgehen mit kleinen Kindern zurückgreifen können. Die eigene Sozialisation (»das eigene kleine Kind«) ist dann vielfach ein von pädagogischen Fachkräften umsorgtes Kind. Eltern greifen daher auf diesen Teil ihres impliziten Beziehungswissens mit ihren Kindern zurück und nähern sich ihnen aus einer »pädagogischen« Perspektive – statt etwa Zeit mit ihnen lustvoll zu »verplempern«, mit ihnen zu spielen oder die Kinder an familiären Aufgaben selbstverständlich zu beteiligen (Staats, 2014).

      Langfristige Konsequenzen des fehlenden Lernens im Umgang mit kleinen Kindern in der Latenzzeit finden sich als Überforderung von Eltern mit kleinen Kindern wieder. Kinder werden später selbständig beim Erobern ihres Raums und beim Erschließen von Beziehungen zu anderen Kindern – insbesondere anderen Alters. Neben diesen gesellschaftlichen Veränderungen durch eine frühe und ausgedehnte Erziehung von Kindern in altershomogenen auf Lernen ausgerichteten Gruppen spielt auch die geringere Anzahl von Kindern in einer Familie hier eine Rolle. Kinder werden stärker als »Projektkinder« oder – kritisch – als »Selbstobjekte« elterlicher Fürsorge beschrieben. Sie haben einen hohen Stellenwert für den Selbstwert der Eltern bekommen. Beziehungen zu Geschwistern werden hier als eine andere Form dauerhafter Beziehungen ausgleichend wichtig.

      Geschwisterbeziehungen werden an dieser Stelle des Buches erstmals angesprochen, weil sie in der Latenzzeit eine hohe Bedeutung haben. Kinder reflektieren hier bereits die Beziehungen zu ihren Geschwistern. Sie differenzieren ihre Rollen, vergleichen sich und bestätigen sich in ihren jeweiligen Positionen in der Familie. Die Ankunft eines neuen Geschwisters hat einen Einfluss auf die Entwicklung der – jetzt »älteren« – Geschwister. Sie sind nun »schon groß« und doch noch »klein«. Das Erleben des neuen Kindes und seiner Beziehungen zu den Eltern kann regressive Entwicklungen auslösen. Konkurrenz und Neid auf das Neugeborgene rücken dann in den Vordergrund. Auch progressive Entwicklungen mit der Übernahme von Pflegeverhalten und Verantwortung für den Neuankömmling in Identifizierung mit Mutter oder Vater sind häufig. In jedem Fall geht es um ein Sich-Abfinden mit etwas Unausweichlichem. Dies kann schon weit vor der Latenzzeit zu einer reflektierten Reaktion und damit einhergehenden Umgehensweisen führen.

      Beispiel:

      Ein Dreijähriger betrachtet intensiv den neu geborenen Bruder und kommentiert seufzend: »Den haben wir jetzt!«.

      In der Regel sind Geschwister ein Leben lang miteinander verbunden – es sind die längsten Beziehungen unseres Lebens. Sie sind in vielen Fällen durch das gleichzeitige Vorhandensein von Zuneigung und Abneigung, Verbundenheit und Abgrenzung und von Liebe und Hass geprägt (Kasten, 1993).

      Alfred Adlers (1927) Arbeiten zum Einfluss der Stellung eines Menschen in seiner Geschwisterreihe werden häufig als Beginn der Forschung zu Geschwisterbeziehungen betrachtet. Seine Ergebnisse sind in psychoanalytischen Theorien wenig aufgegriffen worden – Geschwisterbeziehungen werden hier in der Regel vor dem Hintergrund der Beziehungen zu den Eltern verstanden und auf deren Einfluss hin untersucht. Nur im Bereich der Gruppenanalyse ist ein stärkeres Interesse an horizontalen Beziehungen (gegenüber den vertikalen der Eltern-Kind-Beziehung) und den Konflikten in Geschwisterbeziehungen deutlich. Subjektiv wird die Beziehung zu Geschwistern und die eigene Stellung innerhalb der Geschwisterreihe als eine bedeutsame Entwicklungsbedingung erlebt. Empirische Untersuchungen stützen diese Einschätzung aber wenig. Einige Untersuchungen (z. B. Kristensen & Bjerkedal, 2007; Rohrer, Egloff & Schmukle, 2015) geben Hinweise darauf, dass ältere Geschwister stärker mit den Eltern identifiziert sind, häufiger bestimmende, helfende und lehrende Verhaltensweisen zeigen und etwas intelligenter sind als die jüngeren Geschwister. Die gemessenen Unterschiede sind aber gering und tragen zur Erklärung interindividueller Varianz im Einzelfall nur wenig bei. Adlers Arbeiten werden oft als unbestätigt oder wenig relevant betrachtet. Zu der Annahme, dass jüngere Geschwister flexibler seien und eine höhere soziale Kompetenz als ihre älteren Geschwister zeigten, führt Kasten (1998) kritisch aus, Untersuchungen hätten für diese Beschreibungen keine sicheren Anhaltspunkte ergeben. Aktuelle empirische Arbeiten mit hohen Teilnehmerzahlen zeigen allerdings, dass die Stelle in der Geschwisterreihe doch einen deutlichen Einfluss auf die Studien- und Berufswahl hat. Dies wird als Bestätigung der Bedeutung der Position zwischen den Geschwistern für die Persönlichkeitsbildung angesehen (Barclay, Hällsten & Myrskylä, 2017). Spezifische Fähigkeiten werden sowohl im Umgang mit kleineren und als auch mit älteren Geschwistern erworben. Sie wirken sich langfristig aus.

      Mit der Geburt eines weiteren Kindes innerhalb der Familie verändern sich die Rollen und werden neu verteilt. Typischerweise kümmern sich meist die Mütter um das Neugeborene. Die Väter übernehmen vermehrt alltägliche Aufgaben, kümmern sich um die Mutter sowie die gemeinsamen älteren Kinder. Für Eltern ist die Geburt des zweiten oder dritten Kindes ein Ereignis, das nicht so lebensverändernd ist wie die Geburt des ersten Kindes. Sie sind bereits mit den elterlichen Aufgaben und Kompetenzen vertraut; ihr erstes Kind hat sie bereits zu Eltern gemacht und auch in dieser Hinsicht »erzogen«. Für die Geschwister ist die Geburt eines weiteren Kindes in der Familie jedoch bedeutsam. Adler (1927) beschreibt die »Entthronung« für das erstgeborene Kind als ein traumatisches Ereignis, in der die Ursache für die Geschwisterrivalität liege. Aufgaben der Eltern liegen darin, den Kontakt zwischen den Geschwistern herzustellen, sie miteinander vertraut zu machen und allmählich den Aufbau einer Beziehung anzuleiten. Sie sollen all ihre Kinder versorgen und zufrieden stellen, möglichst ohne dass sich das ältere Geschwisterkind benachteiligt fühlt und dadurch die Rivalität verstärkt wird (Kasten, 1998, S. 91 f.). Rivalität zwischen Geschwistern bleibt aber in der Regel lebenslang ein Thema – von Kain und Abel an begleitet sie Entwicklungen, regt zu besonderen Leistungen an oder zerstört diese. Rivalität taucht im Lebenszyklus wiederholt und in unterschiedlicher Form auf (Beschreibung phasenspezifischer Herausforderungen und Konflikte bei Petri, 1994). Oft wird sie noch nach dem Tod der Eltern (z. B. in Fragen um das Erbe) wirkmächtig. Die existentielle Herausforderung des Umgehens mit der Ungerechtigkeit des Lebens, der Abschied von Wiedergutmachungsansprüchen und der Verzicht auf Rache werden in späteren Lebensphasen zum Thema.

      Die Ankunft eines Geschwisterkindes führt zu progressiven und regressiven Entwicklungen der älteren Geschwister. Sie identifizieren sich mit dem Pflegeverhalten der Eltern (z. B. als »Beschützer« ihres kleinen Geschwisters) oder mit dem jüngeren Kind (und können dann auf frühere Entwicklungsstufen zurückgehen). Neid auf das Neugeborene kann verstärkt in den Vordergrund rücken und wird auf unterschiedliche Weise abgewehrt und bewältigt. Eine Spezialisierung der Kinder wird als »Nischenbildung« beschrieben. Geschwister suchen ihren Platz und entwickeln sich vor diesem Hintergrund unterschiedlich – wenn eine Position schon besetzt ist, suchen die neu dazugekommenen Geschwister nach anderen Rollen, um sich differenzieren zu können. Geschwister sind dadurch auch in ein- und derselben Familie unterschiedlichen Umwelten ausgesetzt – und sie schaffen sich mit einer Differenzierung weitere Unterschiede in der Art, wie sie ihre Familie erleben und von den Familienmitgliedern erlebt werden.

      Freud hat betont, dass Geschwisterbeziehungen nicht notwendigerweise liebevoll zu sein brauchen. Sie bieten ein Übungsfeld für das Umgehen mit Ambivalenz. Wut, Neid, Ablehnung werden in einer Beziehung erlebt, die mit lebenslanger Verbundenheit einhergeht. Rivalität und Zugehörigkeit bestehen nicht trennbar nebeneinander – Geschwister sind Spielpartner und Rivalen. Ihre Rollen füreinander ändern sich im Lebenslauf. Sie sind Bindungspartner, Übergangsobjekte (Adam-Lauterbach, 2013) und wichtige Ressource der sozialen Unterstützung. Die Bedeutung der Geschwisterbeziehung folgt dabei in vielen Fällen einer U-Kurve mit viel Nähe in der Kindheit, eher wenig Nähe im jungen Erwachsenenalter und wieder mehr Nähe im Alter nach dem Auszug der eigenen Kinder. Schon sehr junge Kinder haben zeitlich etwa so viel Kontakt mit ihren Geschwistern wie mit ihren Eltern. Ab dem dritten Lebensjahr verbringen Geschwister mehr Zeit miteinander als

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