Скачать книгу

hat ja nun kein Hänschen mehr!

      Da besinnt sich das Kind, kehrt nach Haus geschwind«

      (Volkslied, Franz Wiedemann, 1821–1882)

      Einführung

      Die Zeit der ersten 4 bis 6 Schuljahre – in Deutschland das 6. bis 10. oder 12. Lebensjahr – wird aus psychoanalytischer Perspektive unter den Begriff der »Latenzzeit« gefasst – einer Entwicklungsphase zwischen dem 6. bis 10., bei deutlichen interindividuellen Unterschieden auch bis zum 12. Lebensjahr. Freud (1905) nutzt den Begriff der Latenz im Sinne einer spezifisch menschlichen »Verzögerung« der Entwicklung hin zur Geschlechtsreife. Er verband ihn mit der Sublimierung von Triebenergie und der Entwicklung von Kultur. Erikson (1973) formulierte vor diesem Hintergrund psychosoziale Entwicklungsaufgaben für das Spielalter und das Schulalter: »Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann« und »Ich bin, was ich lerne«.

      Nach dem Finden eines eigenen Platzes in der Familie und dem Bewältigen der damit verbundenen Konflikte ist die Selbstentwicklung eines Kindes durch das Lernen von neuen Fähigkeiten geprägt. Schule wird ein wichtiger Ort. Mit den neu erworbenen Fähigkeiten werden Kinder selbständiger. Sie erschließen sich neue, eigene Räume, die oft noch selbstverständlich mit der Familie geteilt werden. Diese ruhigere Zeit der »Latenz« bietet idealerweise einen sicheren Rahmen in Familie und Schule. Unter stabilen Bedingungen kann sozial und kognitiv gelernt werden. Spiele sind vom Lernen und Vertiefen neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten geprägt, das Meistern von Herausforderungen ist oft mit einem Erleben von Triumph und Lust verbunden.

      Neugierig wird die Welt der unbelebten Objekte erkundet. Theorien zu Zusammenhängen und Funktionen der äußeren Welt entwickeln sich. Damit werden vermehrt Lehrerinnen, Lehrer und andere Menschen außerhalb des engeren Familienkreises emotional wichtig. Oft ist das Zusammengehörigkeitsgefühl in Familien in dieser Zeit hoch. Eltern bleiben in der Regel der zentrale Bezugspunkt ihrer Kinder. Auch wenn die Regulation von Affekten und Beziehungen schon weitgehend gelingt und Einschränkungen der elterlichen Kompetenzen realistisch erkannt werden, besteht weiterhin eine Idealisierung der Eltern und eine hohe Identifizierung mit den Eltern und Geschwistern.

      Die Latenzzeit wird durch die Präadoleszenz begrenzt. Mit diesem Übergang erleben Kinder zunehmend Distanz zu ihren Eltern. Körperliche Veränderungen leiten diesen Schritt ein. Die Pubertät und einige damit einhergehende soziale Rollenübernahmen treten in den westlichen Kulturen zeitlich immer früher auf. Entwicklungsprozesse von Kindern werden auch durch den steigenden Konsum und den Einfluss der digitalen Medien beschleunigt. Die dort vermittelten Rollenbilder beeinflussen die kindliche Entwicklung ebenso wie Rollenbilder des »realen Lebens«. Im Zusammenhang mit dieser Beschleunigung von Entwicklungsprozessen wird diskutiert, ob es zu einer Verkürzung oder dem »Verschwinden« der Latenzzeit kommt (Guignard, 2011).

      Lernziele

      • Kenntnis über die Ich- und Über-Ich-Weiterentwicklung in der Latenzzeit.

      • Selbstregulation durch neue Befriedigungsformen und Anpassungsmöglichkeiten kennen – Sublimierung – und

      • auf die Entwicklung von Störungsbildern (Hyperaktivität) beziehen können.

      • Aufmerksamkeit für horizontale (Geschwister-)Beziehungen fördern.

      2.1 »Ich bin, was ich kann« – Latenzzeit, Lernen und das Selbstbild

      Die Zeit der Grundschule, die »Latenzzeit«, kann als prägend für das Bild von »Kindheit« gesehen werden, das wir in unserer westlichen Kultur haben. Kinder lernen und werden mit dem Erwerben neuer Kompetenzen zunehmend selbständiger. Die Sprache und das symbolische Denken entwickeln sich, die Motorik wird differenziert und geübt. Radfahren, Schwimmen, Klettern, Lesen, Schreiben und Rechnen werden erlernt. Neue Aufgaben werden mit zunehmend höherer Autonomie übernommen. Diese zunehmende Selbständigkeit entfaltet sich vor dem Hintergrund und im Schutz der Familie. Sorge der Eltern wird oft schon als einengend erlebt. Kinder denken – wie »Hänschen klein« das tut – bereits an das Hinausgehen in die Welt und erleben sich als dazu fähig. Die scheinbare Rücksichtnahme auf die Eltern (»Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr! Da besinnt sich das Kind, kehrt nach Haus geschwind.«) ist auch ein Schutz vor der Kränkung, noch auf die elterliche Sorge angewiesen zu sein. Eltern kreditieren hier Kompetenzen – sie schreiben ihren Kindern wachsende Fähigkeiten zu und fördern damit eine Verselbständigung. Aus Sicht des Selbsterlebens von Kindern kann die Latenzzeit beschrieben werden mit einem – »Ich bin, was ich kann«. Ich kann jetzt schwimmen, lesen Rad fahren, in die Schule gehen – die Veränderungen sind mit Übergängen in neue Gruppen verbunden und verändern so das Selbsterleben (»Schwimmer« sein und »Schulkind«). Konflikte ranken sich um das lustvolle Erleben der eigenen Kompetenz und das »Noch-nicht-Können« mit Gefühlen von Versagen und Minderwertigkeit. Als Lösung entwickelt sich idealtypisch ein Vertrauen des Kindes auf seine grundlegenden sozialen und intellektuellen Fähigkeiten. Dieses Vertrauen in sich schlägt sich als verinnerlichte Struktur in den Erwartungen an Beziehungen zu anderen Menschen nieder – das Kind trägt etwas zum gemeinsamen Leben bei. Es traut sich zu, mehr und mehr zu lernen und zu sein. In Verbindung damit wird die Phantasiewelt deutlicher von der realen Welt getrennt. Egozentrische Sichtweisen nehmen ab, unterschiedliche Perspektiven werden selbstverständlicher berücksichtigt. Kinder können jetzt über sich selbst nachdenken und sich in andere Menschen einfühlen. Dennoch bleiben diese Entwicklungen instabil. Magisches Denken und egozentrische Sichtweisen haben weiterhin Bestand, die Desillusionierung der Eltern bleibt noch reversibel – in Krisensituationen wird auf Idealisierungen regressiv zurückgegriffen. Soziale und intrapsychische Konflikte können immer wieder schnell zu regressiven Zuständen führen.

      Beispiel:

      Ein 10-jähriger Junge ist tief unglücklich über einen verwandelten Elfmeter gegen seine Lieblingsmannschaft. Er bedrängt tränenüberströmt seine Mutter: »Das war ungerecht! Ruf da an!«

      Das eigene subjektive Erleben und die Positionierung in Beziehungen wechseln rasch. Zur Regulation von Affekten und Größenvorstellungen werden die Eltern daher noch selbstverständlich in Anspruch genommen. Regeln und Normen der Familie und auch anderer Gruppen sind wenig hinterfragt. Konflikte zwischen Über-Ich und Ich spielen noch eine geringe Rolle. Treten sie auf, werden sie manchmal mit einem als »altklug« beschriebenen Verhalten moderiert – Kinder beobachten das »merkwürdige« Verhalten Erwachsener in dieser Zeit auch mit einem Gefühl unreflektierter Überlegenheit, die noch nicht von der Erfahrung einer Beschränktheit der eigenen Möglichkeiten moderiert ist. In solchen Interaktionen nimmt die Autonomie von Ich und Über-Ich zu. Es entwickelt sich ein individuelles Identitätsgefühl, mit dem die verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten und Identitätsaspekte zusammengehalten werden.

      2.2 Latenz im Hinblick auf die psychosexuelle Entwicklung

      Mit dem Konzept der »sexuellen Latenzperiode« wird ein Nachlassen der in den ödipalen Konflikten deutlich erkennbaren (manifesten) Sexualisierung der kindlichen Beziehungen beschrieben. Stattdessen treten jetzt Reaktionsbildungen in Form von Scham- und Ekelgefühlen auf. Kognitive, ästhetische und moralische Idealanforderungen werden bestimmend. Die Vorstellung einer Sublimierung triebhaften Erlebens ist mit der Entwicklung von kulturellem Lernen verbunden. Biologische Prozesse, familiäre Strukturen und kulturelle Einflüsse wirken sich auf diese Entwicklungen aus.

      Kinder durchlaufen in dieser Zeit eine Vielzahl von Veränderungen. Freud beschreibt dies folgendermaßen (1905, S. 78):

      »Während dieser Periode totaler oder bloß partieller Latenz werden die seelischen Mächte aufgebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten und gleichwie Dämme seine Richtung beengen werden (der Ekel, das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). Man gewinnt beim Kulturkind den Eindruck, dass der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung herstellen«.

      Lustquellen

Скачать книгу