Скачать книгу

und führt an mächtigen Klöstern, Burgen, Schlössern und Ruinen vorbei. Ich hatte mich für die ersten acht Etappen entschieden, die ich in fünf Wandertagen bewältigen wollte und die das gesamte linke Donauufer von Krems bis Melk abdecken würden. Vor der Überschreitung des Jauerlings mit seinen 960 Metern hatte ich dabei den größten Respekt, doch ansonsten waren sämtliche Tage mit unter 1.000 Höhenmetern Gesamtanstieg verhältnismäßig einfach zu bewäl­tigen. Es sollte die Generalprobe für unsere SWCP-Wanderung werden und sie gelang mir ausgezeichnet. Ich konnte den Rucksack adjustieren und aufgrund der Tatsache, dass ich alleine unterwegs war, auch meine sozialen Fähigkeiten erweitern. Ich bin von Grund auf kein besonders ­extrovertierter Mensch, zumindest nicht, wenn es um das Kontaktknüpfen mit Fremden geht, und so konnte ich auf dieser Reise, auf der ich die ­meiste Zeit auf mich alleine gestellt war, sehr viel dazulernen. Die Landschaft beeindruckte mich allerdings nicht in dem Ausmaß, in dem ich es erwartet hatte, da der Weg oft nur einen kurzen Blick auf die atemberaubende Umgebung bot und ansonsten meist kilometerweit durch das Hinterland mit seinen tiefen, dunklen Wäldern führte. Dennoch ­fühlte ich mich fit und freute mich unglaublich auf unsere bevorstehende Wanderung in England.

      Die Sonne der Vorfreude und Zuversicht schien in dieser Zeit besonders strahlend, doch ohne Vorankündigung zogen plötzlich dichte Ge­witterwolken in unser Leben und warfen Blitze, Regen, Schnee und Hagel in unsere Richtung. Während eines Adventwochenendes in Kärnten erlitt Peter einen Schlaganfall. Plötzlich stand unsere Welt für einen Augenblick still und katapultierte uns dann in einen schieren Überlebensmodus. Wenn wir mit vielem gerechnet hätten, aber damit sicher nicht, denn Peter zählte zu keiner der typischen Risikogruppen, was den Schlaganfall allerdings nicht davon abhielt, gnadenlos zuzuschlagen. 25.000 Menschen ­erleiden in Österreich pro Jahr einen Schlaganfall, aber die meisten davon sind über 60 Jahre alt und weisen auch andere Risikofaktoren auf. Ein fitter, nichtrauchender 44-Jähriger ist sehr selten davon betroffen. ­Selten heißt zwar nicht nie, dennoch wollten wir es anfangs gar nicht ­glauben. Da die sichtbaren Auswirkungen wie hängende Mundwinkel oder Sprach­störungen ausblieben, dachten wir zuerst an eine Nerven­problematik. Erst als sich Peters Zustand bis zum nächsten Morgen nicht besserte, beschlossen wir, nach Hause zu fahren und den Hausarzt aufzusuchen, der ihn ­sofort ins Krankenhaus überwies. Er war somit laut Aus­sagen der ­Ärzte der wohl erste Schlaganfallpatient mit einer Überweisung des Hausarztes. Plötzlich war unsere Zukunft völlig ungewiss und wir ­hatten keine ­Ahnung, wie sich das auf unsere geplante Reise nach England auswirken würde. Glücklicherweise war Peters Prognose von Beginn an sehr positiv und nach einem kurzen Ausflug in eine depressive Phase sprach er sehr gut auf die Rehabilitation an. Bereits in der dritten Woche begannen wir, wieder Spaziergänge zu machen, zuerst nur ein paar wenige Schritte, dann einen Kilometer und schließlich sogar eine Stunde, denn Gehen ist eine der effektivsten Methoden zur Wiederaktivierung des gesamten Körpers. Unter der Woche konzentrierte ich mich auf Arbeit, ­Kinder und Haus, während sich Peter um seine Genesung kümmerte. Die Wochenenden verbrachten wir gemeinsam am jeweiligen Reha-Ort mit Gehen. Je mehr Peter wieder wortwörtlich auf die Beine kam, umso mehr wuchs auch wieder die Hoffnung, doch noch auf unsere Wanderreise gehen zu können. Nach drei Monaten Krankenhaus und Reha war Peter weitgehend zumindest derart wiederhergestellt, dass wir uns ernsthaft an die abschließende Planung unseres England-Abenteuers machen konnten. Ich studierte Fährverbindungen und Gezeitentabellen, buchte Flüge, Busse sowie Hotels und las alle Bücher und Artikel über den SWCP, die ich ­finden konnte.

      Je länger ich mich damit beschäftigte, umso öfter stolperte ich über den Begriff „Charity Walk“. Offensichtlich ist es in Großbritannien gang und gäbe, lange Touren in Benefizwanderungen zu verwandeln. In Österreich ist dies noch relativ unbekannt und Unterstützung muss sich jeder ganz allein suchen. Für mich war aber schnell klar, dass ich es auf alle Fälle versuchen wollte, denn durch meine Arbeit mit den Jugendlichen im Sozialen Wohnhaus Neunkirchen, das wir kurz „SoWo“ nennen, liegt der soziale Zweck klar auf der Hand. Unser SoWo bietet Jugendlichen und jungen ­Erwachsenen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht mehr mit ­ihren Familien leben können, ein neues Zuhause. Hier können sie wieder durchatmen, zur Ruhe kommen und sich auf ihren weiteren Weg konzentrieren. Eine positive Zukunft zu gestalten ist aber meist nur möglich, wenn sie die negative Vergangenheit sowohl aufarbeiten als auch akzep­tieren können, und dies fordert intensive Arbeit von den jungen Menschen selbst, aber auch vom Betreuungsteam auf ganzheitlicher Ebene. Das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung kümmert sich zwar darum, dass die Jugendlichen ein Dach über dem Kopf und regelmäßig zu essen haben, ebenso wird ihnen eine lückenlose Betreuung angeboten, doch für alle anderen darüberhinausgehenden Aktionen wie Erlebnispädagogik, spezielle Therapieangebote oder auch einfach nur ein paar Tage Urlaub müssen wir ­immer zusätzliche Sponsoren finden. Eine Benefizwanderung schien dafür eine gute Möglichkeit zu sein. Ich sah das nicht nur als ­Chance, Geld zu sammeln, sondern auch als Möglichkeit, Aufklärungs­arbeit zu leisten. Fremduntergebrachte Jugendliche werden von unserer Gesellschaft tatsächlich oft als faule Nichtsnutze und kiffende Kriminelle wahrgenommen und wir kämpfen fast täglich gegen diese Vorurteile an. Klar gibt es sie, die Jugendlichen, die sich lieber schlagen, als eine Lösung zu finden oder die lieber Cannabis konsumieren, als sich der Realität zu ­stellen; aber das hat selten mit Faulheit oder Respektlosigkeit zu tun, ­sondern resultiert aus einer traumatischen Kindheit, in der sie Über­lebens­strate­gien entwickelt haben, die für andere nicht immer nachvollziehbar sind. Da die Schwelle ins Erwachsenenleben nicht mehr weit ­entfernt ist, drängt die Zeit, den Jugendlichen zu helfen, diese Muster zu durchbrechen und sie auf ein positives, selbstbestimmtes Leben vorzu­bereiten.

      Ein Motto war schnell gefunden: „Neue Wege gehen“. Dies soll nicht nur auf mein Entdecken neuer Wege nach einem neuen, langen, steinigen Weg des Gewichtsverlustes hinweisen, sondern auch auf das Beschreiten neuer Wege und das Erkennen neuer Möglichkeiten für die Jugend­lichen des SoWos – und auch dies soll mittels Sport- und Bewegungs­momenten erreicht werden. Großartige Unterstützung für diese Idee fand ich bei der Wochenzeitung NÖN (Niederösterreichische Nachrichten), die sich bereit erklärte, in der Regionalausgabe unseres Bezirks Neunkirchen wöchentlich über meinen Reisefortschritt zu berichten. So begannen wir gemeinsam, Meilenpaten zu suchen. Die Vision war, für jede der 630 Meilen einen Paten zu finden, der sich für 1,61 Kilometer, also eine Meile, ­zumindest gedanklich mit mir auf den Weg ins große Abenteuer machen und dafür ein paar Euros spenden möchte. Täglich auf Facebook und jede Woche neu in der NÖN konnten die Paten dann mitverfolgen, welchen Abschnitt ich gerade zu erobern versuchte, welchen Teil ich bereits erfolgreich bewältigt hatte und welchen Herausforderungen ich mich demnächst stellen würde.

      Wie groß dieses Abenteuer werden würde, davon hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, und das war auch gut so. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich ohnehin ­weiterwurschtelt, wenn man irgendwo in einer scheinbar schwer zu be­wältigenden Lage ist; aber wenn man vorher schon weiß, worauf man sich einlässt, dann startet man oft gar nicht und versäumt so die großartigsten Momente.

      Ich für meinen Teil habe vor, ganz viele dieser großartigen Momente zu erleben. Auf geht’s, wir sind bereit!

      „Are you crazy?“

      James, Jamaika

      Tag 0

      Strecke: Flatz über Wien und London nach Minehead

      Unterkunft: The Quay Inn, £ 70,– → akzeptabel

      traumhaft schönes Sommerwetter

      Das Klingeln des Weckers ist eine regelrechte Erleichterung. Nicht, weil es mich aus einem schlimmen Albtraum befreit, sondern weil es dem Starren auf die dunkle Schlafzimmerdecke endlich ein Ende setzt. Seit Stunden kann ich schon nicht schlafen, denn ich bin nervös, so richtig nervös, ­ultrasuperduper – falls das überhaupt ein Wort ist – nervös. Heute geht sie tatsächlich los, die Reise, die ich so lange geplant und auf die ich mich bis vor wenigen Tagen auch richtig gefreut habe. Doch je näher der Ab­flugtermin rückte, umso unsicherer wurde ich. Kann ich das wirklich schaffen oder habe ich vielleicht einfach nur eine

Скачать книгу