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so sehr dieses gewöhnliche Alltagsdenken gemeint, sondern wissenschaftliches oder theoretisches Denken. Ein solches Denken ist in gewisser Weise Denken in einem anderen Modus. Zur Vereinfachung wird das wissenschaftliche und theoretische Denken »Theoriedenken« genannt. Im Gegensatz zum Alltagsdenken verhält sich das wissenschaftliche Denken »mikroskopisch«. So wie das Alltagsdenken besteht auch das Theoriedenken aus Analyse und Synthese. Beim Theoriedenken wird allerdings nicht im Alltagsmodus, sondern im Mikroskopmodus analysiert und synthetisiert. Man unterscheidet darum nicht nur zwischen den Phänomenen »Hund« und »Mensch«, sondern zwischen den Blutbahnen und Nervenbahnen »innerhalb« eines Hundes. Wenn das Theoriedenken die Unterschiede »mikroskopisch« festgestellt hat, sucht es den Zusammenhang der zuvor unterschiedenen Elemente: Wie verhalten sich die Blutbahnen zu den Nervenbahnen des Hundes?

      Verschiedenste mikroskopische Blickwinkel bestehen. Während der eine über die Substanzen innerhalb der Blutbahn und Nervenbahn nachdenkt (Biochemie), denkt, d. h. analysiert und synthetisiert, der andere über das Verhältnis von Fressvorgang und Speichelsekretion nach (Verhaltenspsychologie) und wieder ein anderer über Hormone und Brunftzeit (Biologie) (siehe Abb. 8).

      Es gibt sehr viele verschiedene Seins-Aspekte, die man beim Theoriedenken unter die mikroskopische Lupe nehmen kann. Unter Seins-Aspekten werden alle Aspekte verstanden, die in einem existierenden Ding, Wesen oder Phänomen notwendigerweise anwesend sind (Hund, Stein, Liebe). Wenn man die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen betrachtet, gibt es die folgenden Seins-Aspekte, die man beim Theoriedenken in allen Dingen und Phänomenen unterscheiden kann (in Reflexion 5 wird auf die folgende Liste näher eingegangen):

      1. quantitativer Seins-Aspekt (mehr – weniger)

      2. räumlicher Seins-Aspekt

      3. kinematischer Seins-Aspekt

      4. energetischer Seins-Aspekt

      5. biotischer Seins-Aspekt (leben – sterben)

      6. sensorischer/​psychischer Seins-Aspekt

      7. logischer Seins-Aspekt

      8. historischer Seins-Aspekt

      9. linguistischer Seins-Aspekt (kommunizieren – misskommunizieren)

      10. sozialer Seins-Aspekt

      11. ökonomischer Seins-Aspekt

      12. ästhetischer Seins-Aspekt

      13. juristischer Seins-Aspekt

      14. ethischer Seins-Aspekt

      15. fidelischer Seins-Aspekt (vertrauen – misstrauen)

      Jeder Gegenstand (Stein, Mensch, Baum) und jedes Phänomen (Liebe, Regen, Essen) kann in diese verschiedenen Seins-Aspekte unterschieden werden. Während ich im Alltagsdenken den Mann von der Frau abgrenze, bringt mich das Theoriedenken zum Abgrenzen von biotischem und psychischem Seins-Aspekt eines Gegenstandes. Wenn der Theoriedenker einen Seins-Aspekt abgegrenzt hat, kann er in ihm ganz bestimmte Gesetzmäßigkeiten finden. Der Verhaltenspsychologe, der den psychischen Seins-Aspekt des Hundes unter die Lupe nimmt, findet heraus, dass die Speichelsekretion auf Grund von Konditionierung zustande kommt. Wenn der Hund seinen Fraß sieht oder riecht, setzt die Speichelproduktion an. Wenn der Hund mit Fraß nun ein Klingelgeläut verbindet, setzt beim Glockengeläut die Speichelproduktion ein, selbst wenn es keinen Fraß gibt. Damit hat Pawlow innerhalb des sensorischen/​psychischen Seins-Aspekts das Gesetz der Konditionierung entdeckt. Der Biologe, der den biotischen Seins-Aspekt erforscht, findet heraus, dass die Brunftzeit durch das genetische Erbmaterial immer in der günstigsten Zeit des Jahres stattfindet, um später beste Konditionen für den jungen Nachwuchs zu haben und damit das Überleben der Rasse zu sichern. Das ist das Gesetz der Selektion und Anpassung.

      3.2 Die Göttliche Synthese

      Immer dann, wenn ein Theoriedenker einen Seins-Aspekt eines Gegenstandes untersucht, wird er Gesetzmäßigkeiten finden. Damit ist aber erst die halbe Arbeit getan (siehe Abb. 9).

      Nachdem der Theoriedenker den einen Seins-Aspekt (z. B. den sensorischen/​psychischen Seins-Aspekt) des Hundes oder irgendeines anderen Gegenstandes von anderen Seins-Aspekten abgegrenzt und dadurch allgemeingültige Gesetze entdecken konnte (z. B. Gesetz der Konditionierung, Gesetz der genetischen Selektion), muss er nun – wie beim Alltagsdenken – durch die Analyse diesen Seins-Aspekt wieder in einen Zusammenhang (Synthese) mit den anderen Seins-Aspekten bringen, um ein sinnvolles Gesamtbild zu erhalten. Aber wie sollen sich die Gesetzmäßigkeiten des sensorischen/​psychischen Seins-Aspektes zu den Gesetzmäßigkeiten des biotischen Seins-Aspektes verhalten? Genau an dieser Frage bricht der Streit der Theoriedenker aus, und die Wiederauferstehung des antiken Götterstreits findet statt (siehe Abb. 10). Der Verhaltenspsychologe ist so beeindruckt von der Macht der Konditionierungsgesetze, dass sie aus seiner Sicht das gesamte Verhalten des Hundes erklären könnten. Und so scheint es ihm sinnvoll, die genetischen Gesetze als eine Art verhaltenspsychologisches Folgegesetz zu betrachten. Beispielsweise kann Genmaterial durch verhaltenspsychologische Vorgänge manipuliert werden. Neueste Forschungen haben ergeben, dass viele übergewichtige Personen ein Gen besitzen, das die Fettleibigkeit fördert. Man konnte allerdings feststellen, dass dieses Gen auch bei sehr vielen Menschen vorliegt, die nicht unter Übergewichtigkeit leiden. Deren gesunde und geregelte Essgewohnheiten führte dazu, dass das Fettleibigkeitsgen nicht aktiviert wurde. Ganz ähnliche Zugsamenhänge lassen sich bei diversen Säugetieren feststellen.1 Biologische Abläufe sind darum vor allem psychisch bedingt. So könnte sich z. B. der Placeboeffekt erklären lassen. Biologische Mechanismen werden durch psychische Prozesse verursacht. Ein sinnvoller Zusammenhang entsteht, indem die verschiedenen Seins-Aspekte sich über die psychischen Gesetzmäßigkeiten zueinander verhalten.

      Im Gegensatz zum Verhaltenspsychologen ist der Biologe so beeindruckt von der Macht der genetischen Gesetzmäßigkeiten, dass für ihn alles Verhalten auf den genetischen Code zurückzuführen ist. Nicht nur, ob ein Mensch an Krebs stirbt oder nicht, ist genetisch festgelegt, sondern auch, welchen Schönheitsidealen er nachgehen wird, um einen Partner zu finden. Aus dieser biologischen Perspektive lassen sich die ganzen verhaltenspsychologischen Vorgänge biologisch am Evolutionsprinzip erklären. Psychologische Mechanismen werden durch evolutionäre Prozesse bestimmt. Ein sinnvolles Gesamtbild entsteht, indem sich die verschiedenen Seins-Aspekte über die evolutionären Gesetzmäßigkeiten zueinander verhalten.

      Was hier stattfindet, ist Reduktion. Alle übrigen Seins-Aspekte werden zu Unter-Aspekten eines anderen Seins-Aspekts reduziert. Hier entstehen die sogenannten »Ismen« (Biologismus, Psychologismus, Historismus). Bei jedem Ismus werden alle reduzierten Seins-Aspekte analog behandelt. Im Falle des Biologismus (evolutionäre Lebenserhaltungsprinzipien sind dominant) sieht das dann so aus, dass man von »religiöser Existenz« (fidelischer Seins-Aspekt), »sozialer Existenz« (sozialer Seins-Aspekt) und »moralischer Existenz« (ethischer Seins-Aspekt) spricht. Da, wo wir den sensorischen/​psychischen Seins-Aspekt verabsolutieren, kommt es zu Analogien wie »logische Kohärenz« (logischer Seins-Aspekt), »kulturelles Empfinden« (historischer Seins-Aspekt), »Sprachgefühl« (linguistischer Seins-Aspekt), »moralisches Empfinden« (ethischer Seins-Aspekt).

      Die gesamte Realität wird über das entdeckte Prinzip oder Gesetz einer spezifischen Wissenschaft sinnvoll erklärt. Das Viele lässt sich also durch das Eine erklären. Dabei ist jede ismatische Erklärung immer auch eine deterministische Erklärung, die sich sinnentleerend auf das Alltagsleben auswirkt (siehe Reflexion 1 und 2).

      Die Tatsache, dass viele Ismen und damit verschiedene Wirklichkeitsverständnisse

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