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hat sich der Ausgangspunkt der Wahrheitserkenntnis grundlegend geändert. Wahrheit wird nicht mehr von außen an uns herangetragen. Nicht mehr ein Prophet, Priester oder die Tradition vermittelt oder verantwortet die Wahrheit, sondern sie erschließt sich von innen, aus mir selbst heraus (Unabhängigkeit). Durch mein Denken (Rationalität) kann ich die Wahrheit erkennen. Man spricht auch von der sogenannten »Hinwendung zum Ich/​Subjekt« oder zur 1. Person-Perspektive (»Turn to the self«).

      Descartes’ Gedanken sind zu einem großen Teil gut nachvollziehbar. Seine Werke und Gedanken wurden vom Papst verboten, aber sie fanden so viele Anhänger, dass Jahrhunderte später der moderne Mensch zu einem großen Teil das Programm Descartes’ auslebt – mit all seinen problematischen Konsequenzen! Was ist das Problem?

      Um der Täuschung und dem Zweifel zu entkommen, muss der Mensch sein rationales Denkvermögen in Unabhängigkeit (Neutralität) einsetzen, um Gewissheit über Wahrheit und Irrtum zu erlangen (siehe Abb. 5).

      Wie gesagt, misstraut Descartes im Prinzip allem, auch den eigenen Sinnen. Würden wir den Sinnen vertrauen, würden wir denken, dass die Sonne jeden Morgen aufgeht und am Abend wieder untergeht. Aber mit Hilfe von rational-analytischen Berechnungen hat man die sinnlichen Wahrnehmungen bis in die Kleinigkeiten zu zerlegen (Dekonstruktion) und zu untersuchen. Wenn man dann alle Elemente rational wieder zusammenstellt (Konstruktion), wird man herausfinden, dass sich in Wirklichkeit die Erde um die Sonne dreht. Diese rationale Analyseprozedur hat man auf alle Gegenstände anzuwenden. Und hier liegt das große Problem: Nach Descartes’ Methode wird die Welt da draußen durch meine innen liegende Rationalität rekonstruiert. Da die eigene Logik nach den Regeln der Kausalität funktioniert, ist die »wissenschaftlich« rekonstruierte Welt auch immer eine kausale Welt. Kausal bedeutet, dass die rekonstruierte Welt keine willkürliche Natur, sondern eine geregelte Natur hat. Wenn z. B. Sonnenlicht in einer bestimmten Wellenlänge auf bestimmte kugelförmige Wassertropfen einer Regenwand stößt, entsteht immer ein Regenbogen – ohne Ausnahme. Die Realität wird damit vorhersehbar. Wenn aber die gesamte externe Welt nach den Regeln der internen Logik rekonstruiert wird, ist alles kalkulierbar. Alles! D.h. wenn ich mit meiner Rationalität wissenschaftlich herausfinden möchte, wer ich in Wahrheit bin, dann bin sogar ich kalkulierbar, berechenbar, unfrei und eine Maschine. Auf einmal komme ich mit meinen Untersuchungen nicht nur zum Schluss, dass mein Haarausfall genetisch verursacht ist, sondern auch, dass meine Liebe zu meiner Frau aufgrund bestimmter biochemischer Prozesse zustandekommt. Und genau das ist das Problem des Objektivismus: Ich bin nicht mehr frei. Wenn ich das nicht anerkennen will, bin ich einer Täuschung zum Opfer gefallen. Das Ich wird durch eine objektive 3. Person-Perspektive definiert.

      Mit der Hinwendung zum Ich (Subjekt) als rationales Wesen meint Descartes einen Weg gefunden zu haben, sich von der Gewalt der 3. Person, nämlich der Fremdbestimmung des Papstes, der Tradition und anderer Kräfte, zu befreien. Ironischerweise ist das Ich bzw. der Mensch in letzter Konsequenz aber wieder unfrei. Er ist zwar nicht mehr gefangen von den alten Kräften, wird aber jetzt von neuen, noch gewaltigeren Kräften beherrscht. Descartes’ rationalistische Methode ist wie ein Zauberstab: Jedes zuvor mysteriöse Objekt, das angetastet wird, ist auf einmal verständlich, erklärbar, logisch, aber gleichzeitig auch berechenbar und fremdbestimmt (siehe Abb. 6).

      2.4 So sein wie du

      Nun hat Descartes unser Problem von Subjektivismus und Objektivismus zu seinen Lebzeiten nicht mehr gesehen. Wenn er gewusst hätte, was die Folgen seiner Überlegungen sein würden, hätte er noch einmal angefangen sich zu fragen, ob er mit seinem »cogito ergo sum« nicht vielleicht einer Täuschung aufgesessen war. Für ihn war es wichtig, einen neutralen Ort zu finden, von dem aus man, ohne sich von Meinungen, Religionen oder Traditionen beeinflussen zu lassen, die echte Wahrheit entdecken kann. Und die menschliche Logik schien ihm so ein Ort zu sein. Ein Ort, den jedes Individuum für sich beanspruchen kann, denn er glaubte, dass jeder einzelne Mensch von Gott die Fähigkeit des rationalen Denkens erhalten habe. Jeder Einzelne kann sich also neutral der Welt nähern und herausfinden, was die Wirklichkeit ist.

      In unserer ersten Reflexion haben wir festgestellt, dass kein Mensch nur objektivistisch leben kann. Subjektivität bleibt immer Bestandteil unseres Lebens. Das wird sichtbar in den Spannungen, die die »philosophy of mind« hervorruft: Auf der einen Seite sehen wir, dass unsere subjektiven Gedanken durch neurophysiologische Prozesse im Gehirn gesteuert werden (Objektivismus), auf der anderen Seite ist es unser Denken, das diese neurophysiologischen Prozesse erforscht (Subjektivismus). Das Geistige scheint sich nie aufs Physische reduzieren zu lassen.

      Schlussendlich gehen wir alle davon aus, dass persönliche Freiheit – wenn auch unklar ist, in welcher Form und welchem Ausmaß – besteht. Zu viele menschliche Handlungen bleiben unklar, mysteriös und scheinen sich nicht wissenschaftlich erklären zu lassen. Für all diese Fälle gehen wir von der Freiheit des Menschen aus, Dinge zu tun, die dem eigenen Willen entsprechen, nicht aber allgemeinen Regeln und Normen. Darum glauben wir, dass Straftäter nicht notwendigerweise Straftäter hätten sein müssen, und verurteilen ihre Handlungen als freie und unentschuldbare Handlungen. Subjektivität ist also wesentlicher Bestandteil unserer Wirklichkeit, nur ist dieser subjektive Bestandteil per Definition nie auf dem rationalistischen Radarschirm zu sehen. Und das ist auch verständlich. Während die Rationalität eine neutrale, allgemeingültige, für jeden verbindliche, also frei von jeglicher Subjektivität existierende Methode sein will, entdeckt sie auch immer nur die allgemeingültigen, verbindlichen Gesetzmäßigkeiten, die das Leben »kontrollieren«– und damit immer nur den objektiven Teil der Wirklichkeit.

      Thomas Nagel ist durch einen Artikel mit dem Titel »What is it like to be a bat« berühmt geworden. Dabei stellt er die Frage, ob wir als Menschen mit unseren wissenschaftlichen Methoden die Möglichkeit haben herauszufinden, wie eine Fledermaus die Realität erlebt. Wir können die Antwort bereits vermuten. Nagel macht ganz deutlich klar, dass das nicht möglich ist. Die Realität von subjektiven Erfahrungen kann nicht auf die allgemeingültige Schnittmenge, die verschiedene subjektive Erlebnisse haben, reduziert werden. Wenn das dennoch geschieht, hat man nicht die eigentliche subjektive Erfahrung beschrieben. Die subjektive Erfahrung ist immer mehr als ihre objektive Beschreibung. Das Problem des modernen Rationalismus ist, dass wir nach objektiver Wirklichkeit streben, aber im gleichen Moment die subjektiven, unterschiedlichen Erfahrungen verlieren, die genauso Bestandteil der Wirklichkeit sind. Wie kann ich aber wissen, wer der andere ist, wenn er mehr ist als das Produkt allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten? Wie kann ich wissen, wer ich bin, wenn ich mehr bin als das, was die Wissenschaft über mich zu sagen hat? Wenn der andere immer der Fremde bleiben wird, wie kann ich dann jemals mein Leben mit ihm teilen, ihn lieben, ihm vertrauen und ihn verstehen?

      Fazit: Wer ich bin, wer du bist, bleibt dem objektiv-rationalistischen Denken verborgen. Ich und Du sind mehr als das, was die Wissenschaft mit ihrer 3. Person-Perspektive über uns zu sagen hat.

      2.5 Neuauflage des ewigen Götterstreits

      Aus der rationalistischen Methode Descartes’ folgt nicht nur, dass ich nie herausfinden kann, wer ich bin und wer der andere ist. Es ergibt sich ein neues Problem: Während viele Biologen erklären, dass jedes Handeln der Menschen letztlich evolutionistisch zu erklären ist (Ich verliebe mich, weil ich instinktiv das Überleben meiner Gene sichern muss.), widersprechen Historiker dieser Idee und zeigen auf, dass die evolutionistische Philosophie ein Zeitgeist-Phänomen ist, das seine Wurzeln in der Aufklärung suchen muss (damals wurde die biblische Eschatologie säkularisiert). Für den Historiker wird die Evolutionsidee darum als Zeitblüte wieder vergehen. Der Psychologe hingegen erklärt, dass der Versuch der Historiker, die Weltgeschichte zu systematisieren, als auch der Versuch des Biologen, menschliches Handeln auf biologische Prinzipien zu reduzieren, auf die Struktur der menschlichen Psyche zurückzuführen sind. Diese Struktur

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