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modernen Menschen in ein Dilemma gebracht, ihm seine Träume, Ideale, den Lebenssinn und dessen Würde genommen – nicht da draußen in der sogenannten Dritten Welt, sondern hier: in Amsterdam, in München und in Genf. Die Moderne ist Opfer dieser Spannung.

      Bevor ich erkläre, was Subjektivismus und Objektivismus genau sind, werde ich an zwei konkreten Beispielen diese Spannung sichtbar machen:

      1. Alltagssubjektivismus: An einem kühlen Sommerabend in der Amsterdamer Altstadt sind ein Freund und ich auf der Suche nach einem Café, das zur Stimmung passt. Dabei treffen wir zwei Studenten im Alter von ca. 25 Jahren. Es ergibt sich, dass wir sie nach ihrer Studienrichtung fragen und was sie motiviert, zu studieren. Der eine studiert Politikwissenschaften, der andere Biologie. Mit ihrem Studium verfolgen sie keinen Traum, kein Ideal spornt sie an, und an Karriere denken sie auch nicht wirklich. Von einer besonderen Motivation kann darum auch nicht die Rede sein – eher von Lethargie. Man studiert, weil jeder studiert, und als Nichtstudierter hat man auf dem Arbeitsmarkt heute kaum noch Chancen. Aber die beiden Studenten sehnen sich nach Idealen, nach etwas, wofür man sein Leben investieren könnte. »So wie damals unsere Eltern«, meinen sie. Als ihre Eltern so alt waren wie sie (60er und 70er Jahre), haben sie in den Studentenbewegungen (68er-Bewegung), den Bürgerrechtsbewegungen (Martin Luther King) und der Hippiebewegung (Woodstock) das eigene Leben für die eigenen Überzeugungen aufs Spiel gesetzt! Es gab Dinge, die waren wichtiger als das eigene Leben. Das ist heute anders, vielleicht werden wir uns einmal mit aller Leidenschaft um die Rettung unserer Umwelt bemühen – aber dann wohl eher aus Gründen der Selbstrettung und weniger aus Idealismus. Wer wählt heute noch eine Partei aus ideologischen Gründen? Man wählt nicht die Sozialdemokraten oder Liberalen, weil man Sozialdemokrat oder Liberaler ist, sondern weil in den nächsten vier Jahren besser regiert werden soll. Der heutige Mensch ist Pragmatiker.

      »Die Eltern sitzen schon seit Jahren abends vorm Fernseher mit einem kühlen Bier auf dem Tisch. – Warum sind unsere Eltern keine Aktivisten mehr? Warum haben wir keine großen Ideale mehr?«, fragen die zwei Studenten. Je moderner und offener unsere Welt wurde, desto mehr haben wir entdeckt, dass es endlos viele Religionen gibt, politische Ideen, unterschiedliche Gesellschaftsordnungen, Tausende Arten, die Welt zu sehen. Es ist schwer, heute noch von »dem« Ideal zu sprechen, wo es so viele verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Ideale gibt, alle mit ihrer eigenen Rationalität. Wir leben in einer subjektiven Welt, jeder sieht die Welt anders. »Die Welt« gibt es nicht, sondern immer nur »meine Welt in meinen Augen«. »Den Traum« gibt es nicht. Immer nur »meinen Traum in meinem Herzen«. Wahrheit? »Meine Wahrheit« (siehe Abb. 1)!

      Vom »Wir« redet man schon lange nicht mehr, es gibt zu viele Unterschiede zwischen dir und mir – das ist gemeint, wenn vom »Subjektivismus« gesprochen wird. Damit sind auch die gemeinsamen Ziele, Ideen und Träume, für die es wert ist, sein Leben zu riskieren, verloren gegangen. Das, was unsere Eltern in den 60ern und 70ern ausgemacht hat, war, dass sie einer Gruppe, einem »Wir« angehörten und zusammen mit anderen an der Verwirklichung eines Traumes arbeiteten. Heute sind die meisten Eltern keine Idealisten mehr, sondern nüchterne Realisten, Pragmatiker, vielleicht sogar Pessimisten. »Heute sagen unsere Eltern, dass sie früher naiv waren.« Bald hat auch sie der Subjektivismus zerschlagen und erkennen lassen, dass das, was sie glaubten, nicht der Glaube der anderen war. Es gibt nichts mehr, was man mit anderen teilen könnte. Wir sind alle subjektiv, und was der andere denkt und träumt, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Alle großen Ideen sind dahin. Die Religionen, der Nationalismus, der Kommunismus und seit ein paar Jahren auch der Kapitalismus. Wenn du Ideale hast, dann bist du noch nicht erwachsen. Vom »Wir« redet nur das Kind. Selbst die polnische, tief katholische Putzfrau sagte, nachdem eine Bekannte gestorben war: »Maria wird uns beistehen. Zumindest glaube ich das.«

      Fazit: Im Subjektivismus gibt es keine Allgemeingültigkeit. Objektive Wahrheit gibt es nicht. Alles ist subjektiv. Der Subjektivismus ist die Absolutierung der 1. Person-Perspektive! Es gibt nicht mehr das eine Ideal, für das alle gemeinsam kämpfen können.

      2. Alltagsobjektivismus: Vor einiger Zeit trafen wir uns mit verschiedenen Wissenschaftlern in Den Haag. Dabei kam es zu einem Gespräch mit einer russischen Neurophysikerin, Alexandra. Ihre Forschung bestand darin, zu untersuchen, wie menschliche Emotionen durch atomare Bewegungen in den Nervenbahnen gesteuert werden. Die Ergebnisse ihrer Forschung werden helfen, ganz neue Medikamente für bestimmte Depressionsarten zu entwickeln. Was sie daran fasziniere, fragten wir sie. »Nichts so wirklich«, war die Antwort. Und wieder begegnet uns diese Lethargie. Ihre Forschung wird mit gutem Geld von der Pharmaindustrie bezahlt … Danach erzählte sie ganz verliebt von ihrem neuen Freund. Das verwunderte uns. Wie kann sie so ehrlich über ihr Verliebtsein reden, wenn am Ende jedes Gefühl durch naturgesetzliche atomare Vorgänge im Nervensystem vorherbestimmt ist. Nicht »ich« bin verliebt, sondern ein biochemischer Prozess lässt mich verliebt sein. Gib mir ein anderes Medikament und ich werde die Person hassen. Menschliche Freiheit gibt es nicht. Nicht ich entscheide, sondern die natürlichen Prozesse, die in mir arbeiten. Die Ironie ist, dass die biochemischen Prozesse mich denken lassen, dass ich es bin, der sich entscheidet. Menschliche Freiheit ist eine biochemisch erzeugte Illusion! Der Mensch ist eine komplexe Maschine, die so programmiert ist, dass sie ständig denkt, ein freies Individuum zu sein. Man nennt diese Sichtweise im Gegensatz zum vorher beschriebenen Subjektivismus »Objektivismus«. Denn Naturgesetze gelten ausnahmslos für jedes Individuum (Subjekt). Kein Mensch kann sagen, dass für ihn Kohlenstoffmonoxid nicht tödlich ist. Während im extremen Subjektivismus das »Ich« (1. Person-Perspektive) alle Objekte entstehen lässt (der/​das Andere existiert immer erst durch meine Augen, mein Denken und mein Fühlen), wird im Objektivismus das »Ich« durch allgemeingültige Gesetze vorherbestimmt und geschaffen (3. Person-Perspektive). Es gibt verschiedene Variationen des Objektivismus (Biologismus, Psychologismus, Physikalismus, Kulturalismus, …). Die populärste ist wohl die Evolutionstheorie (Biologismus). In allen Variationen lässt sich die angebliche Freiheit des Menschen über Gesetzmäßigkeiten erklären. Im Kulturalismus z. B. ist der enthusiastische, gut argumentierende Atheist letztlich nicht aus Freiheit Atheist, sondern weil er in Russland auf einem Eliteinternat erzogen wurde; während der evangelisierende Christ nicht aufgrund eines persönlichen Bekehrungserlebnisses Christ geworden ist, sondern weil er in Texas sozialisiert wurde. Wir alle wären Muslime, wenn wir in Bagdad aufgewachsen wären … Ich frage Alexandra: »Wie bringst du dein Verliebtsein in Einklang mit deiner Forschung?« Sie schaut uns verstört an und sagt: »Bevor ich zu meinem Freund gehe, schließe ich das Labor und meine Forschungsgedanken ab, würde ich das nicht tun, müsste ich ja Selbstmord begehen.«

      Fazit: Im Objektivismus gibt es keine Subjektivität, d. h. individuelle Freiheit. Wahrheit ist, was die Wissenschaft objektiv erklären kann. Der Objektivismus ist die Absolutierung der 3. Person-Perspektive! Es gibt keine Werte mehr, für die es sich zu kämpfen lohnt.

      1.2 Problembeschreibung: Subjektivismus und Objektivismus

      Sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus haben sich zu zwei rivalisierenden Dogmen unserer Zeit entwickelt. Ich nenne sie Dogmen, weil sie von jedem geglaubt werden. Nun sind weder Subjektivismus noch Objektivismus Denkphänomene der Neuzeit. Im Prinzip stellen sie die Basisgegensätze der Philosophiegeschichte dar. Aber ihre Gegensätzlichkeit hat sich vor allem in der Moderne und ihrem Wissenschaftsbetrieb erheblich verschärft. Das Dogma von Subjektivismus und Objektivismus darf nicht nur negativ bewertet werden. Beide Dogmen haben auch geholfen, dass die Welt sich verbessert. Die Menschenrechtsbewegung baut vor allem auf den subjektivistischen Glauben auf, dass es individuelle Freiheit gibt und diese von keiner Macht manipuliert werden darf. Diese Bewegung hat Diktaturen gestürzt und blühende Demokratien entstehen lassen. Auf der anderen Seite sind die Fortschritte in Wissenschaft und Forschung (z. B. Medizin) dem Objektivismus zu verdanken, der davon ausgeht, dass es allgemeingültige natürliche Prozesse gibt, die das Leben zum Guten bzw. zum Schlechten steuern. Aber wie gezeigt wurde, sind diese beiden Dogmen auch problematisch.

      →Der Subjektivismus hat zur

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