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steckt, entweder mit dem Gemeinschaftsmantra aufzuhören oder Corona zum Teufelswerk zu erklären.

       Die grauen Karten

      – Wieder macht Luther den Aufschlag: Kirchenmusik ist eine „Lehrmeisterin“. Weniger altmodisch gesagt, sie „nimmt einen Bildungsauftrag wahr“. Man internalisiert alles sofort und ohne Zeigefinger. „Musik beeinflusst unser Fühlen und Denken, sie kann Worte und Ideen weitertragen.“ Sieht man die Sache so, dann kommt es freilich darauf an, welche Worte man der Musik auf die Pritsche packt. Daher sollte man die Kirchenmusik nie nur den Musikern überlassen. Denen ist das nämlich herzlich egal.

      – Kirchenmusik „kann auch zum äußeren Frieden beitragen.“ Dieser Klassiker aller musikalischen Sonntagsreden darf in der Kirche nicht fehlen. Aber das ist freilich mit Arbeit verbunden. „Die kirchenmusikalischen Arbeitsformen beteiligen sich vielfältig an dieser friedensstiftenden Kulturarbeit.“ Auch der Krieg allerdings ist ein beliebter Reiter der Musik. Sogar einer, der weniger Arbeit macht.

      – „Musik ist nicht selbst göttlich, sie dient Gott – und sie dient darin zugleich den Menschen.“ Das „zugleich“ ist ein astreines Theologenwort. Aber bevor uns die dicken Bücher wieder in den Sinn kommen und Schläfrigkeit uns übermannt, wollen wir den Gedanken heute nicht weiter vertiefen.

      – „Musik in der Kirche ist eine Form des Gottesdienstes.“ Bevor daraus jemand freche Schlüsse zieht, sei hinterhergesagt, dass „aller Einsatz von Musik daran gemessen werden muss, ob er wirklich dem Gottesdienst dient oder andere Ziele verfolgt.“ Unlogisch? Egal, wir sitzen doch im Stuhlkreis und nicht im Oberseminar Analytische Ontologie.

       Die gelben Karten

      – Beginnen Sie ganz niederschwellig: „Das Singen der Lieder hat eine sinnlich belebende Wirkung.“ Saul und David, Sie kennen die Geschichte. Das Thema ist perfekt geeignet, die Verspanntheit der Kirchenmusik zwischen Gott, Mensch, Himmel und Hölle herunterzubrechen auf Workshopformat.

      – Die folgenden Wirkungen der Musik bedürfen gegebenenfalls der fachmedizinischen Begleitung: „Musik kann trösten, aus Verbitterung und Trauer herausreißen und zum Leben umstimmen. Sie kann […] Traumzeiten stimulieren, Verkrampfungen und Ich-Fixierungen lösen und Beziehungen stiften.“ Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Und beachten Sie, dass eventuell Gebühren der Partnervermittlungsagentur anfallen.

       Die grünen Karten

      – Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit“. Dass sich bei den Begriffen Schulen und Fördern die Propheten des Alten Testaments und gottbegnadete Musiker wie Mozart im Grab herumdrehen, können wir jetzt gelassen kontern: Wir haben das Heft des Handelns wieder in der Hand. Wir tun was, anstatt ehrfurchtsvoll und folgenlos vor den Heroen zu erstarren.

      – „Musik fördert Klugheit, soziale Kompetenz, Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit.“ Kürzer und kirchlicher: „Lieder fördern Geist und Seele.“ Wer jetzt rückfragt, was Klugheit, Sozialkompetenz und Kreativität nochmal genau mit dem Christentum zu tun haben, dem antworten Sie: Selbstverständlich sind diese Skills auch im normalen Leben von Vorteil. Es geht um Dienst. Es geht darum, sie in den Dienst Gottes und des Gottesdiensts zu stellen. Und dazu dient am Ende auch die Musik. Musik wäre hier also ein Gottesdienst-Dienst-Dienst.

      – Musik für den Weltfrieden, zu hoch gegriffen? Dann brechen wir es halt herunter. Das ist doch der Sinn der bunten Kärtchen. „Musik als ein in vielfacher Hinsicht ganzheitliches Tun kann auch zum äußeren Frieden beitragen. Das geschieht vorrangig indirekt, indem Musikerziehung solche Persönlichkeitsmerkmale fördert und ausbildet, die als Grundkompetenzen friedvollen Verhaltens gelten können: die Fähigkeit, einander zuzuhören, sich in andere einzufühlen (Empathie), überhaupt Gefühle zeigen und ausdrücken zu können, dabei auch die Verschiedenheit der Menschen und der Begabungen auszuhalten und sich in gemeinsame Projekte einzuordnen.“

      1.4 Der Wort-Wahn-Witz der Kirchenmusik

      Wittenberg im Jahr 1533. Ein junger Musiker namens Nicolaus Listenius, um 1500 in Hamburg geboren, bringt im Verlag Georg Rhau ein schmales Büchlein mit dem Titel Rudimenta musicae heraus, auf Deutsch: Elemente der Musik. Es ist ein Musiklehrbuch für die Oberstufe im Gymnasium. Listenius hat 1531 die Artistenfakultät der Universität Wittenberg mit dem Magister abgeschlossen. Dort studiert man nicht bei irgendwem, man studiert bei Professor Melanchthon. Doktor Martin Luther hat seinen Lebensmittelpunkt in Wittenberg und geht an der Artistenfakultät ein und aus. Melanchthon geht bei Familie Luther ein und aus. Und Rhau ist nicht irgendeine Druckerei, sie ist der Herzmuskel der Reformation. Gewichtige Texte wie die Augsburger Konfession oder Luthers Großer Katechismus pumpt sie in großer Auflage durch die deutschen Lande. Auch das Büchlein des Listenius geht gleichsam viral. Es erlebt über 50 Auflagen und wird zum Standardlehrbuch im gymnasialen Musikunterricht. Unzählige protestantische Kantoren bis in die Bachzeit lernen in ihrer Schulzeit selber daraus und bringen ihren Schülern Musik aus „dem Listenius“ bei.

      In der Einleitung schreibt er einige unscheinbare Sätze, nichtsahnend, dass sie epochal werden würden. Wenn der „Practicus“, der ausübende Musiker, seine Arbeit beendet habe, bleibe kein Werk übrig. Die Musik hat sich in Schall und Rauch aufgelöst. Der „Poeticus“ aber, der Komponist, hinterlasse nach getaner Arbeit ein Opus. Ein „opus perfectum et absolutum“, wie es in späteren Auflagen heißt, was die Deutungen ins Kraut schießen ließ, welche Unsterblichkeit Listenius da den Werkchen des deutschen Dorfkantors wohl attestieren wollte. Es meint schlicht ein Stück Musik, das festgehalten wird durch Aufschreiben, Vervielfältigen und Wiederaufführen. Die evangelischen Kirchenmusiker, die in den folgenden Jahrzehnten diese Sätze lesen, lassen sich das nicht zweimal sagen: Sie hinterlassen Werke, und zwar zu Hunderten und Tausenden.

      Content produzieren ist das Berufsethos des evangelischen Kantors. Philipp Dulichius, um einen dieser Kantoren herauszupicken, publiziert kurz nach 1600 in Stettin nicht 5 oder 10, sondern gleich 100 Motetten. Weitere rund 100 Stücke hinterlässt er in kleineren Tranchen. Das liegt noch deutlich unter dem Output des deutschen Durchschnittskantors. Samuel Scheidt, Kantor in Halle an der Saale, veröffentlicht in den 1630er-Jahren 40 + 50 + 50 + 40 =180 Geistliche Konzerte. Andreas Hammerschmidt, Kantor in Zittau, lässt in den 1650er-Jahren 30 + 29 Musikalische Gespräche über die Evangelia drucken. Es reicht nicht, dass der Pfarrer im Gottesdienst über die Evangelien spricht, die Musik muss es auch noch tun. Wolfgang Carl Briegel lässt für Gottesdienste in Darmstadt die Musik 69 Mal neben der Predigt sprechen: 20 + 22 + 27 Evangelische Gespräche zwischen 1660 und 1680. Anfang des 18. Jahrhunderts dann werden solche Zahlen erreicht: Johann Sebastian Bach, Kantor in Leipzig: 300 Kantaten. Gottfried Heinrich Stölzel, Kantor in Gotha: 600 Kantaten. Georg Philipp Telemann, Kantor in Hamburg und deutschlandweiter Tausendsassa: 1750 Kantaten. Johann Philipp Krieger, Kantor in Weißenfels: 2000 Kantaten.

      Aus dem Werkschwall quillt ein wahrer Wortschwall. Den schlichten Psalmvers „Gott, eile zu mir, denn du bist mir Helfer und Erretter, verzeuch [d.h. zögere] nicht“ (Psalm 70,6) vervielfacht Heinrich Schütz in einem seiner Kleinen Geistlichen Konzerte. Gott muss 4-mal eilen, 3-mal ist er der Helfer und Erretter, 6-mal wird „mein Gott“ gerufen und 3-mal soll er bitte nicht zögern. Die Worte werden im Musikkopierer so oft kopiert, bis der ganze Kirchenraum mit akustischen Exemplaren vollgestopft ist. Dann endlich kann man nicht mehr anders, als es zu glauben. Selbst leere Worte wie das Wort „leer“ lässt Schütz in einer Symphonia sacra über den Magnifikatvers Lukas 1,53 3-mal direkt hintereinander singen. Auch der Reichste in der Kirche weiß dann, dass er nichts weiß und nichts hat. Die Volksmenge muss in Bachs Johannespassion 104-mal „kreuzige ihn“ brüllen, bevor Pilatus Jesus endlich kreuzigen lässt.

      Den stärksten Schwall an Wörtern bei den Evangelischen – die Katholiken sind im Gottesdienst maulfauler, außerhalb möglicherweise nicht – schüttet Hugo Distler aus. Seine Motette Singet dem Herrn ein neues Lied nach Psalm 98, komponiert in den 1930er-Jahren, ist das geschwätzigste Stück der evangelischen Kirchenmusikgeschichte. Ein Sonntag Kantate, der mit dieser Motette begonnen wird, hätte die Bezeichnung

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