Скачать книгу

werden, weil sich die Erde mal wieder ein Stück weitergedreht hat. Das Kennzeichen dieser Warenwelt der Gottesdienstbausteine ist ihre Janusköpfigkeit aus Neuigkeit und Individualität auf der einen Seite und durchkonfektionierter Produktförmigkeit auf der anderen. Das entspricht exakt der Janusköpfigkeit des Slots, wie ich sie theoretisch umrissen habe: einerseits ein fixes Set von Eigenschaften, andererseits mit immer neuem Content zu befüllen. Bausteine für den Gottesdienst, das sind leere Hülsen, die in Slots – also ebenfalls leere Hülsen – eingesetzt werden.

      1.3 Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen

      Es könnte das Missverständnis entstehen, ich riefe zum Widerstand gegen die amtskirchliche Hoheit über die Kirchenmusik auf. Ein solcher Appell wäre billig, ja umsonst. Die souveränen Musiker haben sich nie wirklich um die Vorgaben der Amtskirche geschert. Sie haben einfach die Musik gemacht, zu der sie sich, bemerkt oder unbemerkt, von Gott hinführen ließen. Auch souveräne Hörer machen ihre religiöse Erfahrung bei welcher Musik auch immer, bestimmt nicht nur bei der kirchlich verordneten.

      Die ermüdete, ausweglose Lage der Kirchenmusik krankt nicht an den Restriktionen der Amtskirche. Die Amtskirche hat den Markt der musikalischen Möglichkeiten längst freigegeben, die protestantische schon seit Luther, die katholische seit dem Zweiten Vatikanum. Nicht aus tieferer Einsicht, dass auch dort religiöse Erfahrung zu machen sei. Sondern in dem flachen Comment, dass es auf echte religiöse Erfahrung in der Musik gar nicht ankomme und es jedenfalls in dieser Hinsicht egal ist, welche Musik läuft. Ganz egal allerdings auch nicht, die Kirche hat noch Interessen und Existenzangst. Sie muss sich ihrer selbst und ihrer Relevanz vergewissern. Sie muss ihre Mitglieder bei der Stange halten und um neue werben. Dort ist das Gebiet für die Rettungseinsätze, in die sie die Kirchenmusik schickt. Dort irgendwo tief verschüttet liegt das Elend.

      Die Lage der Kirchenmusik ist verkeilt in Widersprüchen. Irdisch, aber auch ein bisschen himmlisch; ganz bei mir, aber auch ein bisschen beim Anderen; heilig, aber auch ein bisschen profan; erlöst, aber nicht so richtig. Ihre Lage ist eine unmögliche. Die Pathogenese ist vorgezeichnet. Vielleicht macht uns das nachsichtiger damit, dass sie nicht aus dem Ohrensessel kommt.

      Wir haben jedenfalls ein gewisses Verständnis für den Musikwortschatz, den sich der gute Christenmensch in seiner misslichen Lage zurechtlegt. Die Einträge darin sind teils alt und greifen zurück auf das, was in den Apostelbriefen zur Musik gesagt wird. In der Masse und in dem auf den religiösen Bildungsmarkt zielenden Zuschnitt aber ist sie eine Erscheinung der letzten zwanzig, dreißig Jahre.

      Die guten Wörter der Kirchenmusik sind erst denkbar, sagbar und praktizierbar im Bausteinprinzip. Das Bausteinprinzip bricht die unmögliche Lage der Kirchenmusik herunter auf kleinteilige Arbeitsaufträge, im Kirchensprech: Dienste. Auf Dienst am Anderen, Dienst an der Familie, an der Umwelt, am Frieden, am Ich, an der Psyche, am Körper, an Gott und so weiter. Mit einem Mal wird die Kirchenmusik wieder konkret. In der Verzahnung mit den anderen gottesdienstlichen Aktivitäten übernimmt sie Dienste aus der To-do-Liste. Sie kann plötzlich wieder genau sagen, was sie selber ist und was zu tun ist. Die Müdigkeit ist für den Moment verflogen.

      Das Ungeheure der Begegnung des Menschen mit Gott im Klang passt in den Workshop eines kirchlichen Bildungszentrums. Diese erstaunliche Erkenntnis machen wir, wenn wir das Riesenhafte der h-Moll-Messen, Messiasse und Regerfugen in ästhetische und ethische Dienste portionieren. Wir werden dann gute Christenmenschen, mit Arbeit und Dienst beladene zwar, aber das sind eben die zwei Seiten der Medaille. Und es ergeben sich wie von selbst die Formeln des Denk- und Sagbaren der Kirchenmusik.

      Stellen wir uns einen solchen Workshop vor. Dort begegnen uns die Einträge im Musikwörterbuch des evangelischen Gutmenschen. Ich habe die kirchenmusikalischen „items“ vorsortiert und die bunten Karteikarten aus dem Consultingkoffer schon mal vorbeschriftet.2 Auf den roten Karteikarten notieren wir die Bausteine zum Thema „Von Gott zum Ich“, auf den blauen „Vom Ich zum Du“, auf den grauen „Kirchenmusik als Transportmittel“, auf den gelben „Kirchenmusik als Therapie“ und auf den grünen „Kirchenmusik als Fördermaßnahme“.

       Die roten Karten

      – Musik als gute „Gabe Gottes“, so schon Martin Luther frei nach Jakobus 1,17, ein Vers, den man auch als Liedstrophe und Tischgebet kennt. Die Musik reiht sich damit ein in andere Gottesgaben wie dem Apfel aus dem Garten Eden, dem Feuer oder dem Sex. Man kann sie zum Guten und zum Schlechten gebrauchen. Daher immer den Jakobusvers mitbedenken, dann werden sie Heil und Segen stiften.

      – Musik als Talent. Gute Gaben sollen, siehe Matthäus 25,14ff. und Lukas 19,12ff., aber bitte auch genutzt werden und nicht aus lauter Angst brach liegen bleiben.

      – „Überall drücken sich in Musik tiefste Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste aus.“ Dieser Gedanke hat seinen rechten Platz auf den roten Karten, auch wenn das nicht gleich in die Augen springt. Die tiefen Sehnsüchte weisen aus, dass der Mensch unbedingt auf Gott bezogen ist (Schleiermacher). Andererseits ist der Mensch radikal von Gott getrennt (Karl Barth). Ein echtes Dilemma, mit dem die dicksten Theologenbücher in Verlegenheit zu bringen sind. Aber Gott sei Dank hat der Herr ein Schlupfloch gelassen. Die Musik. Und zwar „überall“.

      – „Die evangelischen Kirchen in Deutschland sind musikalisch reiche Kirchen.“ Reichtum, ein rundum sorgenfreies Thema. Bevor wir uns auf ihm ausruhen dürfen, müssen wir noch ein paar Fragen stellen. Was zum Beispiel ist mit den Präludien und Fugen im XXL-Format, die uns der Heilige Sebastian geschenkt hat? Die seinerzeitige Thomaskirchenleitung wollte sie gar nicht in der Kirche haben. Manche Stücke sind einfach zu reich für die Kirche. Was ist mit dem Orgelschatz, wie ein gewisser Carl August Kern im 19. Jahrhundert gleich sechs Bände mit anspruchslosesten Orgelstückchen nannte? Das ist der Reichtum einer dicken Sammelbüchse mit Kleingeld, die am weitesten verbreitete Vermögensstruktur der Kirchenmusik. Woher stammen so wertstabile Assets wie Schütz, Bach, Händel und Mendelssohn? Schütz hat die italienische Oper beerbt, Bach und Händel schreiben von sich selber ab, der schmächtige Mendelssohn steht auf den Schultern des Riesen Mozart. Woher die Sakropopsternchen ihren Pop haben, fragen wir lieber nicht so genau nach. Wenn man unter Reichtum auch die Dividende aus lukrativen Beteiligungen gelten lässt, dann ist die evangelische Kirchenmusik ein Big Player am Markt.

      – Der „reiche Schatz der Kirchenlieder“: Mit dieser Floskel landet man besonders viele Treffer im evangelischen Schrifttum. Dürfen wir es wagen zu fragen, wie es um den Wohlstand derer steht, die den Schatz erarbeitet haben? Die vielen Kirchenlieddichter sind nun wirklich anständig entlohnt worden: als Pfarrer (Paul Gerhardt), Gymnasiallehrer (Nikolaus Herman), Theologieprofessor (Dietrich Bonhoeffer). Da kann man nicht meckern. Von Geburt reiche Frauen wie Henriette Catharina von Gersdorff stellten ihr Dichtertalent, das sie nicht vergruben, der Kirche kostenlos zur Verfügung. Achtsam sein sollten wir freilich für die Lage derer, die den musikalischen Teil der Kirchenlieder beisteuerten. Also die Musik im engeren und eigentlichen Sinn. Da sieht es prekär aus: Hilfslehrer (Friedrich Silcher), Hauslehrer (Georg Neumark), lausig besoldete Kapellmeister (Johann Balthasar König, Adam Krieger, Johann Hermann Schein), freischaffende Chorleiter und Lektoren (Paul Ernst Ruppel). Wohl den Pfarrern, die im auskömmlichen Theologenstand komponierten (Kurt Rommel, Samuel Rothenberg, Otto Riethmüller, Dieter Trautwein).

       Die blauen Karten

      Auf der blauen Überschriftenkarte steht „Vom Ich zum Du“. Wenn Ihnen das zu gestelzt vorkommt, schreiben Sie „Gemeinsam singen“.

      – Das g-Wort fällt in jedem Gottesdienst, meistens auch beim Singen. Die Gemeinsamkeit ist dem Singen vorgeordnet. Aber nicht nur dem Singen, es gibt „auch gemeinsame passive Praktiken wie das Hören, das Hier-Sitzen und das Schweigen“.

      – Zugleich ist das Gemeinsame dem Singen nachgeordnet. Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit, die immer auch Hör- und Ausdrucksfähigkeit füreinander ist“. Dass beim Singen das herauskommt, was wir einen Spiegelstrich weiter oben in das Singen hineingesteckt haben, sollte nicht weiter beunruhigen. Es ist oft so in der Theologie, dass man mit viel Hallo und Halleluja die Ostereier findet, die man vorher

Скачать книгу