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Gottes komme sie. Solch ein Geschenk indessen möchte keiner haben, wenn man es näher anschaut. Denn es kommt mit dem langen Zeigefinger und einer dicken Gebrauchsanleitung daher. Der Gnadengabe Musik ist der ganze Mensch als Bedingung vorgeschaltet, und das ist für Luther der sündige und der gerechtfertigte Mensch. Dieser Mensch und niemand sonst darf die Gabe nutzen. Musik und Klang als solche, abgelöst von der sündigen conditio humana, sind Luther nicht minder suspekt wie den Kirchenvätern. Musikalische Zerknirschung wird zur Pflicht. Die kirchenmusikalischen Diätpläne des 19. Jahrhunderts, die die klassisch-romantische Symphonik als zu kalorienreich vom kirchenmusikalischen Speisezettel strichen, sind der evangelischen Kirchenmusik in Wahrheit seit Luther eingeschrieben. Die gute Gabe Gottes hat für immer und ewig das Klagelied vom Fall Adams zu sein. Oder maximal das gequälte Lob Gottes, wie es die Mühsamen und Beladenen hervorbringen, die um ihre prinzipielle Teilhabe am ewigen Logos wissen, aber halt keine aktuelle jetzt und hier. Der staubtrockene Musikunterricht an den evangelischen Lateinschulen, die gnadenlose Pädagogisierung der Musik bei den Jesuiten (die ebenfalls Reformatoren sind, wenn auch Gegen-), der Drill der kirchlichen Knabenchöre – lauter Konsequenzen des vergifteten Geschenks, allesamt Anleitungen zum Unglücklichsein. Selbst bei Bach, Bach und immer wieder Bach ist es nicht anders: Der Trost seiner Musik ist so groß, weil sie uns vorher so tief ins Elend stößt.

      In der Kirchenmusik kursieren nicht nur Totschlagargumente, sie ist selber eines. Die Kirche, der nicht enden wollende Wartesaal nach Ostern und vor dem Weltenende, verbietet eine wahrhaft ekstatische und epiphanische Musik. Zugleich zwingt sie alle Musik, die das Zeichen Christi trägt, unter ihr Dach. Sie macht Alternativen obsolet. Musik ohne Kirche: ein Ding der Unmöglichkeit, der pralle Adamsapfel. Kirche ohne Musik: geht auch nicht, eine dürre Leseübung, die alsbald vertrocknete. So wird die Kirchenmusik in einer doppelten Unmöglichkeit festgehalten. Sie braucht die eine, um die andere aufzuwiegen.

      In Widersprüche eingespannt zu sein macht müde. Kirchenmusik, die kann und nicht darf (nämlich wahrhafter Sound Gottes zu sein). Kirchenmusik, die will und nicht kann (nämlich Sound Gottes sein): die evangelische Kirchenmusikgeschichte ist voll davon. Sie errichtet Dämme gegen den Pomp, gegen den Pop, gegen den Sex und so weiter, lässt sie aber früher oder später erodieren, weil das Land hinterm Damm austrocknet. Sie meint genau zu wissen, was sie ist, aber wenn sie es ausbuchstabieren soll, fängt sie schon nach B wie Bach zu stottern an. Nicht nur der Kirchenmusik, schlimmer noch den Sprachregelungen über die Kirchenmusik ist die Müdigkeit anzuhören. Was die Kirche an Offiziellem zur Kirchenmusik sagt, waren früher scharfe Abgrenzungen, heute, weil man sich das nicht mehr traut, nur noch jämmerliche Plattitüden von der Musik als Tradition, Trostpflästerchern und Quotenbringer, und immer wieder Luther-Bach-Orgel, Luther-Bach-Orgel, Luther-Bach-Orgel.

      Müde ist die Kirchenmusik in ihrem Ohrensessel eingesunken. Sie rutscht ein bisschen nach links, dann ein bisschen nach rechts, um die Widersprüche auszutarieren und den Schmerzpunkt zu verlagern. Sie müsste aufstehen und den großen Schmerz aushalten.

      1.2 Musikbausteine für den Gottesdienst

      Beim Begriff des Bausteins stellt man sich leicht etwas Dinghaftes und Handfestes vor. Aber das ist ein Irrtum, und zwar ein folgenschwerer.

      Eigenschaften der Abmessung definieren den Baustein. Von einem Dachziegel etwa werden bestimmte Raum- und Gewichtsmaße erwartet, aber auch, dass er Wasser, Wärme und Kälte standhält. Das sind Zweckeigenschaften, die, nicht anders als die Raummaße, quantifiziert sind. Der Ziegel hat genormte Koeffizienten der Wasserdurchlässigkeit und Wärmeleitfähigkeit. Beim Baustein sind auch Zwecke Maße. Innere Schönheit oder andere absonderliche Eigenschaften, die ein Ding interessant und einzigartig machen, sind irrelevant oder sogar wertmindernd. Unbeschränkte Ersetzbarkeit und Reproduzierbarkeit ist das Charakteristikum des Bausteins.

      Diesem Begriff von Baustein entspricht die evangelische Kirchenmusik von der Lutherzeit an. Oft ist zu lesen, Luther habe bei seinem Konzept des evangelischen Gottesdiensts im Wesentlichen den römischen Messritus beibehalten. Welch kolossaler Irrtum das ist, zeigt sich am Bausteinprinzip.

      1526 formulierte Luther die Agende einer Deutschen Messe. Eine große Zahl von Reformagenden aus allen Ecken der protestantischen Bewegung war ihr seit etwa 1520 vorausgegangen. Teils behielten sie das Latein bei, teils stellten sie auf Deutsch um. Aber das ist nicht der springende Punkt. Zudem sehen die Teile der evangelischen Messe und ihre Reihenfolge den katholischen ähnlich. Auch diese Feststellung verschleiert die Dinge. Die katholische Messe kann man sich als ein Ensemble von Heiligtümern vorstellen: das Kyrie, das Graduale, die Epistel des Alten Testaments oder der Apostelbriefe, das Offertorium, das Agnus Dei und so weiter. Damit sind liturgische Gattungen benannt, nicht Einzelstücke, es gibt also mehrere Exemplare davon. Es gibt aber nicht prinzipiell unendlich viele Graduallieder oder Agnusgesänge. Das katholische Verständnis erlaubt es nicht, einfach neue Exemplare zu produzieren. Das Kirchenjahr hat nämlich endlich viele Tage. Je nach Tag im Kirchenjahr hat jedes der vorhandenen Heiligtümer seinen bestimmten Ort. Dort ist es zuverlässig auffindbar und man wird seiner teilhaftig. Ist man nicht zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort, wird man es nicht. Die Stücke der katholischen Liturgie, auch wenn sie in die Tausende gehen, sind keine Bausteine, sondern lauter Einzelstücke. Jedes hat seinen unveränderlichen Ort.

      Den protestantischen Agenden war die Vorstellung des ortsstabilen Heiligtums von Anfang an fremd. Das Offenbarsein Gottes manifestiert sich nicht direkt in einem Ding, das analog zum katholischen Liturgiestück einen bestimmten Orts- und Zeitindex hätte. Hinter so etwas wittert der Protestantismus magisches Denken, und das ist ihm suspekt. Der Protestantismus wechselt an dieser Stelle lieber die Seite: von der göttlichen zur menschlichen. Göttliche Offenbarung ist immer schon von der menschlichen Antwort auf die Offenbarung imprägniert. Damit wird dem Ausdruck der Offenbarung eine theologische Verantwortung aufgebürdet. In der Expression einer religiösen Laune oder einer spontanen Eingebung soll er nicht bestehen. Der Ausdruck darf einen Teilaspekt Gottes adressieren, soll aber dabei alle anderen Gotteserfahrungen und ihre Ausdrucksgestalten mitbedenken oder am besten gleich mitadressieren. Der ganze Gott aus Zorn und Liebe, Strafe und Gnade soll es sein. Und er soll vom Menschen in seiner biographischen und personalen Ganzheit ausgedrückt werden.

      Das protestantische Gottesdienstsystem ist der – oft verzweifelte, nicht selten tragikomische – Versuch, dieser Riesenaufgabe gerecht zu werden. Sie kann und will die menschlichen Ausdrücke der Gotteserfahrung in Text, Ton und Bild nicht festlegen. Das kirchenkalendarische Detempore ist eine grobe Orientierung. Tatsächlich kann und soll man sich davon freimachen und ein individuelles, sogar ein situativ einmaliges Detempore einfordern. Der Protestant ist auf den Ausdruck seiner individuellen und einmaligen Gotteserfahrungen zurückgeworfen, der aber zugleich irgendwie die Gotteserfahrung der gesamten Christenheit enthalten soll.

      Die lutherische Antwort in dieser vertrackten Situation ist zweigleisig: Erstens wendet sie das theologische Augenmerk vom jeweils einzelnen Ausdruck ab und stattdessen hin zur Struktur, die ihn einbettet. Der Gottesdienst soll eine Struktur sein, die „Slots“ für die individuellen Ausdrucksgestalten bereitstellt, und zwar so, dass die individuellen Ausdrücke sich austarieren und ein Gesamtbild des ganzen Gottes geben. Die Struktur, das heißt die Agende, definiert die Eigenschaften der Slots. Dabei können fortwährend neue individuelle Strukturen entstehen, aber immer nur so, dass das trinitarische Gesamtbild stimmt. Zweitens wird der Gottesdienst zur pädagogischen Veranstaltung. Er ist ein Ort, an dem die Menschen ihre religiöse Ausdrucksfähigkeit einüben, erproben, verändern, wobei der Pfarrer gleich Lehrer höchstens primus inter pares ist. Um es im Kirchenjargon zu sagen: im Gottesdienst wird Glaubenserfahrung miteinander geteilt, Glaubensausdruck voneinander gelernt, Erfahrungs- und Ausdrucksfähigkeit füreinander vermittelt.

      Damit ist für die Kirchenmusik eine fundamental veränderte Lage entstanden. Wie sie die Teile des Gottesdiensts und ihr Zusammenspiel konkret gestaltet, wird von ihrer sozialen, politischen, ökonomischen und pädagogischen Situation abhängig sein. Dass sich da auf lange historische Sicht Veränderungen ergeben, ist selbstverständlich, aber unwesentlich. Wesentlich ist, dass die Lage von wechselseitigen Rahmenbedingungen und Zwecksetzungen her eingeschätzt wird. Der Zweck, der von den theologischen Aspekten des trinitarischen Gottes ausgeht, ist zum

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