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portioniert in Stücke, die eine ähnliche Länge haben wie ein Lied. Aber es gibt zwei fundamentale Unterschiede: Sie hat erstens keine Form, die die poetische Gesamtstruktur eines Stücks regeln würde analog zur poetischen Struktur einer Liedstrophe. Ihre Form ergibt sich nicht aus einem poetischen Text; die textliche Materialität ist die mehr oder weniger naturbelassene Bibelprosa. Aber auch eine poetische Textgestaltung hätte auf die relevanten performativen Formmerkmale des liturgischen Stücks keinen Einfluss. Sie ergibt sich aus einem geregelten Wechsel von Sprechern und der Sprechhaltungen. Und zweitens lässt sie dem Liturgen keine Wahlfreiheit, ob heute dieses oder jenes Stück besser passt. Anders als das protestantische Bausteinverfahren hat sie aus Prinzip keinerlei Neigung, auf die Situation vor Ort einzugehen. Sie sieht für einen bestimmten Termin im Kirchenjahr ein bestimmtes Stückchen göttliche Offenbarung vor, die ohne Anpassung an die Situation vor Ort zur Erscheinung gebracht wird. Man kann darin eine kuriose und konsequente Art sehen, den Vorhang vom Gottesreich zu lüften.

      Lieder sind diesem liturgischen Denken fremd. Die ganze historische Wahrheit ist zwar ein bisschen komplizierter, aber eben nur ein bisschen, und am Ende werden wir wieder bei der Sentenz landen: Die Lieder des evangelischen Gottesdiensts sind keine göttliche Offenbarung. Sie stehen grundsätzlich auf der anderen Seite, der menschlichen. Und das nicht nur aus katholischer Sicht, sondern in einer viel grundlegenderen Perspektive.

      Zur historischen Wahrheit gehört, dass die katholische Kirche seit je Lieder in den Gottesdienst aufnahm. In jedem Stundengebet wird ein Hymnus gesungen. Die Antiphonen, die den Psalmversen entgegengestellt werden, haben manchmal eine liedartige Poetik. Je deutlicher aber die Liedhaftigkeit ist, desto tiefer wird die Bipolarität von Vers und Antiphon unterminiert und die Antiphon zu einem selbstständigen Stück, so bei den Marianischen Antiphonen, die letztlich Lieder sind. Weiter, jedem liturgischen Stück kann ein Lied folgen. Das singt dann allerdings die Gemeinde. Es ist eine Antwort des Christenmenschen, während die Psalmverse und ihre Gegenverse nie humane Antwort sind, sondern göttliche Sage, die der Antwort immer schon vorausgeht. Daher sind Lieder stets Einlagen, die aus der Sicht der katholischen Liturgie spontane kollektive Exklamationen darstellen und nicht im Formular auftauchen.

      Es sind diese bislang fakultativen Liedeinlagen, die Luther an die obligatorischen Stellen der Liturgie rückt. Er rückt die humane Antwort an die Stelle der göttlichen Sage. Selbst die Psalmen wandelt er um in Psalmlieder. Die lutherischen Psalmlieder sind der Gipfel der evangelischen Verkehrung der Liturgie ins Liedhafte. Am liebsten hätte Luther aus dem gesamten biblischen Psalter ein Liederbuch in deutschem Reim und Metrum gemacht, hätte er die Dichter an der Hand, wie er in einem Brief beklagt. All das liegt freilich in der Konsequenz der lutherischen Wort-Gottes-Theologie. Spätere Protestanten wie Johann Wilhelm Petersen, deren lutherische Zuverlässigkeit nicht ohne Grund angezweifelt wurde, versuchen den lutherischen Liederwahn zu verwinden und sich wieder zum Psalm zu kehren, indem sie psalmartig dichten und alles Liedgemäße tunlich meiden. Man kann nicht sagen, dies hätte die Songification der protestantischen Frömmigkeit nennenswert aufgehalten.

      Die katholische Perspektive ist nicht das Maß der Dinge. Erst recht nicht die lutherische, die in das kolossale Missverständnis verstrickt ist, mit einer ungeheuren Masse Liedern von der humanen Seite gegen die feste Burg Gottes anzurennen und immer neue Massen zu produzieren, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Kirchliches Maßnehmen müssen wir überhaupt zurückweisen, wenn es um Kirchenmusik geht. Wir involvierten sie sonst bloß in die jeweiligen Zeitgeister und Selffulfilling Prophecies der Kirche.

      Das Maß der Dinge sind auch nicht Bibelstellen. Sie fordern uns zum Gottesdienst bald mit Liedern, bald mit einem neuen Lied, bald mit Pauken und Posaunen, bald mit Psalter und Harfe auf. Daraus ist keine musikalische und keine theologische Klarheit zu gewinnen. Zum Maß der Dinge dringen wir vor, wenn wir die Gattung Lied als solche befragen und eventuell weitere Gattungen zum Vergleich. Das heißt herauszufinden, wie sich Mensch und Erde zueinander verhalten, wenn der Mensch Lieder singt – oder im Vergleich, wenn er anders singt. Einen Weg dahin weisen uns die Griechen.

      Die Griechen denken die Musik nicht von der Religion her. Schon gar nicht denken sie sie vom Menschen her. Sie denken vielmehr in ereignisförmigen Konstellationen von Erde, Mensch und Klang. Musik und Religion sind in ungeschiedener Einheit. Das meint nichts Statisches. Vielmehr ist gemeint, dass sie aus ein und demselben Ereignis hervorgehen. Das Ereignis kann unterschiedlich ablaufen, und je nachdem, wie es abläuft, gehen unterschiedliche Musiken und unterschiedliche religiöse Konstellationen – nicht Religionen – daraus hervor.

      Bei den Griechen sind episches und melisches Singen unterschieden. Es resultiert in zwei Arten von Werken, einmal dem gesungenen Erzählen, dem Epos, einmal dem gesungenen Lied, dem Melos. Sie fügen den Sänger, das Gesungene, die Erde und den Gott in unterschiedlicher Weise ineinander. Bei beiden sind die Götter im Spiel, nicht nur je nach Sujet, sondern konstitutiv. Der menschliche Sänger muss den Gott anrufen, um überhaupt Musik zugesungen zu bekommen. Das steht am Beginn des Epos und des Melos. Man betet nicht erst und fängt dann an zu singen. Im Singen selber wird der Gott angerufen. Der Götteranruf am, nicht vor Beginn des Gesangs blendet also zwei Vorgänge ineins, das Gebet an den Gott um Gabe des Gesangs und die Gebetserhörung der gewährten Gabe des Gesangs. Warum diese Überblendung funktioniert, ist eines der tiefsten Geheimnisse der Kirchenmusik und der Musik überhaupt. Weil die Überblendung funktioniert, ist die Unterscheidung in kirchliche und profane Musik eigentlich hinfällig.

      Das Epos wie das Melos sind nur möglich durch das Erscheinen des Gottes. Das epische Singen aber bedarf der fortwährenden göttlichen Aktivität. Zeile für Zeile singt durch den Sänger der Gott. Auch ins Melos hat der Gott den Sänger initiiert. Er kann sich dann aber zurückziehen in die passive Rolle des Adressaten, an den der Sänger sein Lied richtet und dem er antwortet. Um ein Beispiel zu geben: In Sapphos Aphrodite-Lied ist Sappho die Autorin. Sie steht der Göttin gegenüber und zitiert sogar, was Aphrodite in einer früheren Notlage geantwortet hatte. Aphrodite wird damit im Lied oder vielmehr durch das Lied als gegenwärtig inaktiv dargestellt. Anders das Epos, das anfangs den Gott herbeizitiert nicht als Adressaten, sondern als fortgesetzten Autor des Gesangs.

      Welcher der beiden archaischen Weisen des Singens entspricht wohl das Lied? Die Antwort ist simpel, dem Melos: Melos plus Odē (Lied) gleich Mel-Odie. Ursprünglich kommt das Wort nur im Plural melea vor und bezeichnet die Körperglieder. In dieser Bedeutung gebraucht es Homer, der keine Lieder hervorbringt, sondern Geschichten. Das steht im Hintergrund, wenn einige Jahrhunderte später Pindar das Wort in den Singular melos setzt und damit eine musikalische Melodie meint. Die konkrete Vorstellung hinter dieser Metapher ist also nicht das einzelne Körperglied, sondern die Fügung der Glieder zu einem Körper, der zur Erde eine bestimmte Stellung einnimmt. Daher hat jedes Melos sein charakteristisches Ethos: eine gelöste, gespannte, ängstliche, erwartende usw. Stimmung. Das lässt sich vom Singen des Epos nicht sagen. Es bleibt in einem dynamischen Sich-fügen und bildet nie eine abgeschlossene Stimmung aus. Das Lied ist die Fügung der melodischen und metrischen Glieder zu einem abgeschlossenen Gesamtgefüge. Dadurch ist es dem momentanen Ereignis nicht nur der Anrufung, sondern auch der Aktivität des Gottes enthoben. Es kristallisiert zu einem Typ, der verfügbar wird und überall realisierbar. In einer konsequenten Reihe wird das sich ereignende Fügen der melea weitergedacht zum ethisch gefügten Melos, dieses zur Mel-Odie, dieses zum Lied – und dieses zum Baustein, der dort eingesetzt wird, wo’s passt.

      Nehmen wir das Kriterium des momentanen, gotterfüllten Ereignisses des Epos ernst, dann kann es von der Erzählung des Odysseus, der Sirenen, des Königs David oder Jesus von Nazareth nur eine einzige geben. Lieder über die Liebe und den Tod, über Gott und die Welt, über jedes erdenkliche Sujet aber kann es unbegrenzt viele geben, es muss nur der entsprechende Melostyp konkretisiert werden. Und just aus diesem Grund gibt es unzählige Lieder über die Heiligkeit Gottes (Sanctuslieder), über die Ehre Gottes (Glorialieder), über die Gnade Gottes (Kyrielieder), über die Dreieinigkeit Gottes (Credolieder), über die Jahreszeiten (Jahrkreislieder) und über die Lebenszeiten (Kasuallieder). Lieder, Lieder, nichts als Lieder.

      Das liedhafte Gefüge aller dieser Lieder über die Liebe, über Gott, Jesus, den Frühling und den Tod besagt: Gott ist nicht da, Jesus und der Frühling sind nicht da, nicht einmal der Tod ist da. Man muss sich das alles vorstellen, so oft, bis es so gut wie wahr geworden

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