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Bei ihm wird der Begriff der Seele vollends auf den des Geistes im Sinne des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins reduziert. Geist und Materie werden in der Unterscheidung von „res cogitans“ (denkende Sache) und „res extensa“ (ausgedehnte Sache) gänzlich voneinander getrennt.31 Die Materie hat eine Ausdehnung, die gemessen werden kann (zum Beispiel das Gewicht des Gehirns), der menschliche Geist hat keine Ausdehnung und kein Gewicht. Er kann selbst nicht gemessen werden (nur in seiner Außenwirkung auf das Gehirn). Die Entwicklung nach Descartes lässt sich so zusammenfassen, dass alle Denkversuche, die durch ihn verloren gegangene Einheit von Seele und Leib wiederherzustellen, bis heute erfolglos geblieben sind.32

      Worin die Gründe für den denkerischen Verlust dieser Leib-Seele-Einheit im Einzelnen liegen, kann hier nicht weiter analysiert werden. Für den vorliegenden Kontext genügt es, zu sagen, dass sich die Philosophie durch die Reduktion des Seelenbegriffs auf jenen des Geistes vorwiegend der Reflexion des Geistphänomens zuwandte (zum Beispiel im deutschen Idealismus u. a. mit der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel) und die Medizin sich im Gefolge der aufkommenden Naturwissenschaften vorrangig den ausgedehnten und messbaren Dingen widmete. Sie wurde nahezu reine Naturwissenschaft. Die Medizin suchte folglich Ursachen von Krankheiten in der Materie. Aus dem Philosophicum33 wurde im Medizinstudium das Physikum, der Mensch wurde auf seine physikalisch messbaren Parameter reduziert. Das Grundproblem des Verhältnisses von Seele und Leib wurde auf den Aspekt der Gehirn-Geist- oder Geist-Materie-Problematik verkürzt. Deswegen wird die Seele oft im Gehirn gesucht,34 von der Seele als innerem Ganzheitsprinzip, die den ganzen Körper durchseelt, ist keine Rede mehr.

      Diese Verengungen und Vereinseitigungen führen bis heute zu Missverständnissen. Erstens ist der alte Begriff der Seele umfassender als jener des Geistes und zweitens ist die Seele kein Etwas. Sie hat keine Gegenständlichkeit und daher auch keinen Ort. Schon Rudolf von Virchow unterlag einem Irrtum, als er bemerkte, er habe viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden. Die Seele ist kein Gegenstand und kann daher auch nicht gefunden werden. Sie ist in gewisser Weise alles und macht in Verbindung mit dem Leib die ganze Lebendigkeit und Identität des Menschen aus. Umgekehrt verschwindet sie hinter dem körperlich Sichtbaren und verbleibt in ihrer Unsichtbarkeit. Sie wird nur „sichtbar“ durch den Ausdruck im Leib.

      Die neuzeitliche Spaltung von Geist und Materie führte denkerisch zu einem Verlust der Seele als innerster Mitte des Menschen. Diesen Verlust greift zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Sigmund Freud auf, begreift aber die Seele jetzt als Unbewusstes, Trieb, Verdrängtes, „Es“; sowie Ich und Über-Ich als rationale beziehungsweise moralische Instanzen.

      Während in der Sichtweise des Thomas von Aquin die Seele noch als innerste Mitte des Menschen mit Vernunft, Verstand, Gefühl, Emotion, Intuition und den Blick auf Absolutes umfasste, beschreibt der Seelenbegriff Freuds und jener der nachfolgenden Psychologie nur noch die Welt der Gefühle, des Erlebens und des Verhaltens. Der Begriff der Seele hat also eine große Wandlung und Verkürzung durchgemacht: von der innersten Mitte des Menschen als Geist-Seele hin zur Seele im modernen psychologischen Sinn.

      So kommt das innere Auseinanderbrechen des Menschen heute an einen Punkt, wo die Medizin als Naturwissenschaft trotz vieler Fortschritte gerade im Bereich chronischer Erkrankungen – zu denen man auch Krebserkrankungen zählen kann – nicht recht weiterzukommen scheint. Sie muss ihren Fokus über die Betrachtung der Materie hinaus auf die menschliche Seele (Psychologie, Psychosomatik) ausdehnen, vor allem aber auf den menschlichen Geist als innerer Mitte des Menschen. So kann sie zu einer wirklich „personalisierten Medizin“ werden. Die alte innere Einheit von Geist, Seele, Körper muss heute neu als transdisziplinärer Zugang der Wissenschaften erarbeitet werden.35 Die neue Einheit ist als Einheit in Verschiedenheit zu denken.

      4. Philosophie und Genetik

      Die alte Philosophie des Aristoteles und Thomas von Aquin sah den Menschen als Leib-Seele-Einheit von innen nach außen strukturiert (von der Geistseele zur Materie). Die moderne Medizin versucht, den Menschen von außen nach innen (von der Materie zum Geist) zu konstruieren. „Seele“ stand in der alten Philosophie für das Ganze, das den Teilen vorausliegt. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ ist eine Weisheit des Aristoteles, und Herbert Pietschmann schreibt sogar, dass das Ganze nicht nur mehr sei als die Summe seiner Teile, sondern etwas ganz anderes.36 Das Ganze der Zelle und des Organismus bildet die Grundlage dafür, dass die Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Komponenten funktionieren.37 Dieser „dialogischen Struktur“ liegt eine innere Ganzheit voraus, die nicht Folge und Ergebnis der Kommunikationen ist, sondern dem ganzen Geschehen als Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt.

      „Jeder Teil in einem Organismus hat eine spezifische Funktion für das Ganze; erst aus dem Ganzen erklärt sich das Wirken der einzelnen Teile. Man kann weder das Ganze aus den Teilen zusammensetzen, noch ist das Ganze ein die Teile von außen organisierendes Prinzip.“38

      Das Ganze organisiert von innen her die Teile, diese sind auf das Ganze angewiesen. Ohne diese Einheit und Ganzheit laufen die Kommunikationen ins Leere oder ins Falsche, die Zellen verfehlen einander oder verändern sich zur Fehlgestalt. Das Ganze der Zelle liegt auch den genetisch-epigenetischen Verschaltungen zugrunde. Die Zelle entscheidet darüber, welche Gene an- oder abgeschaltet werden. Sie ist gewissermaßen die Grundlage, die die Genetik und Epigenetik koordiniert. Auf der nächsthöheren Ebene sind es die Organe und schließlich ist es der gesamte Organismus, der die Ganzheit darstellt und alle niedrigeren Ebenen zu einer Ganzheit integriert.

      Wenn Thomas von Aquin dieses Ganze im philosophischen Begriff der Seele (Geistseele) beschreibt und es im erwähnten Satz auf den Punkt bringt: „anima forma corporis“, kann man diese Kurzformel auf einen „ganzheitlichen“ philosophischen Begriff von Information bringen. Diese Vorstellung von Information ist vom Ganzen her zu den Teilen gedacht, von innen nach außen, und veranschaulicht das, was als innere Entwicklungsdynamik und Selbstbewegung des Lebendigen beschrieben wurde. Beim Menschen hat es zentral mit seinem Geistcharakter zu tun.39

      Ganz anders als dieser philosophische Begriff von Information versteht sich der moderne empirisch-physiologische Informationsbegriff. Hier werden – ganz konkret – Informationen über den Kranken erworben, indem von außen durch das Messen bestimmter Laborwerte auf eine Diagnose geschlossen wird. Das ist sinnvoll, um sich ein erstes Bild von einer Erkrankung zu machen, aber das tiefste Innere des Patienten erfassen diese Werte nicht. Konkret kann es sein, dass sich jemand innerlich krank fühlt, aber die Laborwerte noch in Ordnung sind und „Gesundheit“ anzeigen. Es kann auch sein, dass sich jemand gesund fühlt, aber die Laborwerte eine andere Sprache sprechen. Natürlich gibt es den Hypochonder, den Simulanten, den psychosomatisch Kranken, bei dem (noch) keine Laborwerte verändert sind, der innerlich aber schon krank sein kann, obwohl die Laborwerte noch „gesund“ anzeigen und sich erst später sichtbar verändern.

      So ist der philosophische Begriff der Information, der das Phänomen des Lebendigen von innen her in seiner Entfaltungsdynamik zu beschreiben versucht, zu unterscheiden vom modernen naturwissenschaftlichen Informationsbegriff, der von außen auf die Phänomene blickt, aber die zugrunde liegende Ganzheit und damit das ganze Phänomen nicht erfassen kann. Einfach ausgedrückt: Aus dem Umstand, dass ein Gen für mehrere Proteine codieren kann und sich die Frage stellt, wie sich das Gen „entscheidet“, welches Protein herzustellen ist, zeigt sich, dass nicht das Gen, sondern die Zelle als Ganze festlegt, welche Proteine hergestellt werden sollen.

      Die US-Physikerin und Philosophin Evelyn Fox Keller beschreibt es so:

      „Die Verantwortung für diese Entscheidung liegt anderswo, in der komplexen Regulationsdynamik der gesamten Zelle. Von hier und nicht vom Gen kommt in Wirklichkeit das Signal (oder kommen die Signale), die das spezifische Muster festlegen, nach dem das endgültige Transskript gebildet wird. Eben die Struktur dieser Signalpfade zu entwirren, ist zu einer wesentlichen Aufgabe der heutigen Molekularbiologie geworden.“40

      Das heißt, dass die einseitige Fixierung darauf, dass das Programm für den Zellaufbau, die Zellvermehrung, die Gesamtfunktion des Organismus in den Genen liege, nicht haltbar ist. Evelyn Fox Keller fasst dies

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