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Beantwortung derartiger Fragen müssen Erkenntnisse der Medizin, Psychologie, Philosophie, Theologie, Spiritualität integrativ zusammengedacht werden.

      Über die wissenschaftliche Bedeutung hinaus gibt es so für den Patienten die Chance, angesichts einer schweren Erkrankung tiefer über sein eigenes Leben nachzudenken. Dies ist oft ein langer Weg. Er beginnt mit der ersten Auseinandersetzung über eine Diagnose. Je nachdem, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist, durchläuft der Einzelne verschiedene Stadien der Verarbeitung: Nicht-wahrhaben-Wollen, Ablehnung, Zorn, Auflehnung, Hadern mit dem Schicksal, Hadern mit Gott, Verhandeln, letztlich Annahme der Krankheit.6

      Die Auseinandersetzung mit einer Krebserkrankung wird individuell unterschiedlich ausfallen: Manch einer wird die Krankheit als rein naturwissenschaftliches Geschehen ansehen und nicht weiter nachfragen. Er unterzieht sich einer Therapie mit Operation, Bestrahlung oder Medikamenten. Manch anderer sieht die Krankheit als schicksalhaft an, gegen die man sowieso nichts tun kann. Andere wiederum fragen nach, ob eine solche Erkrankung mit ihrem Leben zu tun haben könnte. Das kann auf mehreren Ebenen geschehen: auf der psychologischen mit Fragen nach ungelösten Konflikten, zwischenmenschlichen Problemen oder Ängsten, aber auch auf einer tieferen geistiggeistlich spirituellen Ebene. Auch Fragen nach persönlicher Schuld tauchen auf. Schließlich suchen Menschen danach, ob sie durch Erkenntnis und Lebensumstellungen etwas zur Heilung oder zum Stillstand einer Erkrankung beitragen können.

      Zusammengefasst: Die Zugänge von Naturwissenschaften, Medizin, Psychologie, Philosophie und Theologie zur Interpretation der Welt sind von ihrer Methode her verschieden. Sie sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Sie sollten in einer modernen Medizin miteinander transdisziplinär ins Gespräch gebracht werden. Das gilt für Fragen der Ethik in der Medizin, aber auch für die Interpretation von Krankheiten. Das Verallgemeinerbare und das je Individuelle müssen zusammengedacht werden.

      Angesichts neuester Erkenntnisse der Medizin schwindet der klare Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Erklären und Verstehen. Das ist für die Wissenschaft von großer Bedeutung und hat auch für den Kranken positive Folgen. Denn je mehr die Wissenschaft über diese Zusammenhänge weiß, desto größer sind für den Einzelnen die Chancen, seine Krankheit besser zu verstehen. Er kann präventiv durch eine bestimmte Lebensführung an der Verhinderung des Ausbruchs einer Krankheit mitarbeiten oder bei einer eingetretenen Erkrankung an seiner Heilung mitwirken.

      2. Die ordnenden Kräfte – Genetik und Epigenetik

      Bei der Zeugung eines Menschen entsteht ein neuer Organismus. Samen und Eizelle kommen zusammen. Nach dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle verschließt sich diese, damit kein zweites Spermium in die Eizelle gelangt. Durch die Verschmelzung von Samen und Eizelle entsteht ein neuer Organismus mit einem einzigartigen Genom. Diese Verschmelzung ist wie eine Initialzündung. Ab jetzt läuft ein Prozess ab, der achtzig oder neunzig Jahre dauern kann. Samen und Eizelle zusammen bilden die sogenannte Zygote. Diese Zygote teilt sich in einen Zweizeller, Vierzeller, Achtzeller. All das geschieht „von selbst“.

      Ab dem Achtzellstadium7 fangen die Zellen an, sich in die etwa 220 verschiedenen Zelltypen des menschlichen Organismus zu differenzieren. Lange Zeit wusste man nicht, wie dies geschieht. Dann aber erkannte die Forschung, dass zu dieser Zelldifferenzierung jeweils unterschiedliche Gene abgeschaltet werden. Die anderen bleiben aktiv.8 Abhängig davon, welche Gene abgeschaltet werden und welche aktiviert bleiben, entsteht ein anderer Zelltyp. Für eine Haarzelle sind andere Gene aktiv als für eine Augenzelle. Es ist wie bei einer Flöte, bei der jeweils ein anderer Ton herauskommt, wenn man bestimmte Löcher zuhält und andere öffnet. Anders gesagt: Die Gene bilden nur die materiale Grundlage aller Informationsgeschehnisse einer Zelle und eines Organismus. So wie die Tasten eines Klaviers nur die materiale Grundlage für mögliche Töne darstellen. Diese entstehen erst, wenn sie durch einen Spieler betätigt werden. Erst wenn die Zelle als kleinste „spielfähige Einheit“ des Lebendigen bestimmte Gene mittels epigenetischer Mechanismen aktiviert, erklingt eine Art „Informationsmusik“. Die An- und Abschaltmechanismen müssen dabei fehlerfrei zusammenwirken und genau aufeinander abgestimmt sein. Dies ist in der Embryonalentwicklung der Fall.9 Man nennt sie – wie erwähnt – epigenetische Einflüsse. Die Lehre, die sich mit diesen Zusammenhängen befasst, heißt Epigenetik.

      Die materialen Bausteine für diese Schaltvorgänge liegen beim Embryo zum großen Teil in den Bereichen zwischen den Genen, die man lange Zeit für sinnloses Zeug („cheap junk“) hielt.10 Sie liegen ebenso im Zytoplasma der Zelle, ja in der gesamten Zelle, in der Lage der Zellen zueinander sowie im gesamten Organismus bis hin zu den neuronalen Verschaltungen im Gehirn beim Erwachsenen. Gegenwärtig herrscht die Ansicht vor, dass sich das gesamte Genom in der Embryonalentwicklung erst langsam ausformt. Die entscheidenden Phasen der Formung sind die pränatale Zeit, die Zeit der Geburt und die Zeit bis zur Pubertät.

      So finden Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf verschiedenen Ebenen statt: zwischen den Genen, zwischen Genen und Proteinen, zwischen Zellen, zwischen Organen innerhalb des Organismus, letztlich zwischen den Organismen, zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Dies sind milliardenfache Prozesse, die ein Leben lang ablaufen. Sie bedürfen der Ordnung, der identischen Verdoppelung der Zellen, der Zelldifferenzierung sowie des Gleichgewichts zwischen Zellaufbau, Zell-umbau und Zellabbau.

      Im Zuge der Weitergabe des genetischen Materials und der Proteine bei der Zellvermehrung und Zelldifferenzierung kommt es zu „Abschreibefehlern“ des genetischen Programms. Es entstehen genetische Defekte, die aber auch durch äußere Einflüsse, wie zum Beispiel Radioaktivität, entstehen können. Wenn diese geschädigten Gene aktiviert werden, können daraus fehlgestaltete Proteine oder fehlerhafte Mengen an Proteinen hergestellt werden und letztlich Krankheiten entstehen. Allerdings werden diese Fehler durch eine Fülle von Reparaturmechanismen immer wieder ausgebessert, fehlerhafte Zellen durch gezielte Eliminationsprozesse ausgesondert oder getötet (Apoptose). Auf einer anderen Ebene können sie auch durch ein intaktes Immunsystems zerstört werden. Die große Zahl dieser Kontrollmechanismen macht es relativ unwahrscheinlich, dass geschädigte Gene und kranke Zellen sich weiter vermehren und in den Kreislauf des Organismus gelangen. Andererseits ist es bei der großen Zahl der Zellneubildungen doch nicht unmöglich, dass immer wieder geschädigte Zellen auftauchen.

      Im gesunden Organismus besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den auftretenden fehlerhaften Zellen und den Reparatur- und Eliminationsmechanismen. So bleiben die Zellzahl sowie das Verhältnis von kranken und gesunden Zellen (trotz Schwankungen, zum Beispiel altersbedingt) relativ stabil. Erst wenn dieses Gleichgewicht gestört wird und die Reparaturmechanismen und Selbsttötungsprogramme abnehmen oder die Abwehrleistung des Immunsystems zu schwach ist, nimmt die Zahl der kranken Zellen zu. So können dann Krebszellen längere Zeit überleben. Sie können sich zu größeren Aggregaten zusammenschließen und finden ihren Endpunkt in manifesten Tumoren und schließlich Metastasen.

      Je unreifer ein Organismus ist, desto eher können Gene durch äußere Einflüsse geschädigt werden. Aber auch die epigenetischen Schaltmechanismen werden durch Umgebungsbedingungen sowie durch zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst. „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ lautet der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer.11 Diese epigenetischen Einflüsse entfalten bei unreifen Organismen wie bei Kindern größere Wirkungen als bei Erwachsenen.12

      In der Embryonalentwicklung ist es vor allem der Dialog zwischen Mutter und Kind, der für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die pränatale Psychologie hat hierzu sehr viel erforscht.13 Umgekehrt gibt es einen sehr frühzeitigen „Dialog“ vom Embryo zur Mutter. Er sendet schon früh Signale, dass sie ihn nicht abstoßen soll. Denn er enthält die Hälfte des Genmaterials vom Vater und dieses Fremdeiweiß würde eigentlich vom Immunsystem der Mutter abgestoßen werden. Durch die Abgabe bestimmter Stoffe (leukemia inhibitory factor, LIF) wird diese Abstoßungsreaktion verhindert. All diese Kommunikationsprozesse stehen wiederum in einem größeren Zusammenhang zwischen den Zellen, den Menschen, letztlich der ganzen Welt. Bereits die genetisch-epigenetischen Verschaltungen bilden eine große Komplexität aus. Auf die 30.000 Gene kommen etwa 1,5 Millionen epigenetische

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