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      In unserer Straße gibt es eine ganze Menge Kinder für meine Schwestern zum Spielen. Da sind die zwei Mädchen, die am Anfang der Straße wohnen, Bolle und Kläuschen, Herolds Kinder, Iris Sander und die vielen Kinder von Kopinskies. Iris beschäftigt sich gerne mit unseren Mädels, obwohl sie schon etwas älter ist und in einer ganz anderen Liga mitspielen könnte.

      Mutti sagt immer: „Du bist doch schon viel zu alt für meine Kinder, die passen doch gar nicht zu dir.“

      „Mir macht es aber solchen Spaß, mit ihnen zu spielen“, verteidigt sich Iris.

      Was soll meine Mutter dazu noch sagen?

      Iris hat immer lustige Ideen. Da ist sie bei meinen Schwestern an der richtigen Adresse. Iris schnappt sich Marlene, verfrachtet sie in unseren alten Kinderwagen und legt ein, zwei Decken über sie. Obendrauf thront unser Kater Peter. So sieht es aus, als würden sie mit Peter spazieren gehen.

      Anne und Ela geben drinnen Bescheid: „Mutti, Marlene ist weg, wir müssen sie unbedingt suchen.“

      Iris rennt mit dem Kinderwagen voraus und meine beiden Schwestern hinterher. Draußen freuen sie sich diebisch über die gelungene Täuschung und spazieren noch eine ganze Weile die Straßen hoch und runter.

      Kläuschen ist ein gutmütiger Kerl. Er hilft meinen Schwestern, wo er nur kann. Meine Schwestern dürfen nur raus, wenn sie bestimmte Arbeiten erledigt haben. Davon gibt es viele, zum Beispiel Unkraut jäten oder Gras holen. Oder, wie in jenem Sommer, Holz sägen. Denn eines Tages hält bei uns ein Eisenbahnwaggon mitten auf der Strecke und es werden Berge von Holz abgeladen. So ziemlich jeder aus unserer Straße kommt mit Schubkarren, Handwagen oder Eimer, um sich seine Portion vom dicken Kuchen zu holen. Gutes, trockenes Holz zum Verfeuern. Anne schuftet wie eine Alte, sodass Mutti schon wieder Angst um sie hat. Ich darf auch mit. Wir wühlen tagelang in dem Holz herum und holen raus, was nur rauszuholen ist. Es geht alles gut. Bis zu der Spanplatte, die zweimal größer ist als ich und voller Nägel steckt.

      „Vati, ich kann sie nicht mehr halten!“, schreie ich. Dann rutscht sie mir aus der Hand und ich spüre einen Schmerz im Oberarm. Dabei merke ich, wie ich im wahrsten Sinne des Wortes an der Spanplatte festgenagelt bin.

      Mein Vater kommt angerannt und befreit mich von der Last und zieht mir dabei den Nagel aus dem Arm. „Mädel, die ist doch viel zu groß für dich!“ Erst dann sieht er die Bescherung. Ela kommt herbeigeeilt und zieht mir den Pullover aus. Sie stellt fest, dass ich ganz schön blute. Dann nimmt sie meinen Oberarm in den Mund und saugt daran. Angeekelt spuckt sie das Blut wieder aus. Sie saugt noch und noch einmal, als hinge ihr Leben davon ab. „So kannst du wenigstens keine Blutvergiftung bekommen“, erklärt sie mir. „Das habe ich in einem Film gesehen.“ Zum Schluss wickelt sie mir ein dreckiges Taschentuch um die Wunde.

      „Na, das ist aber nicht gerade blütenweiß“, sage ich. „Ich meine nur, wegen der Blutvergiftung …“

      Doch Ela findet das ganz in Ordnung so. In ihrem Film haben die das wahrscheinlich auch so gemacht. Für heute bin ich außer Gefecht gesetzt. Doch meinen Schwestern steht noch das Beste bevor.

      Nun dürfen sie so lange nicht mehr baden gehen, bis das Holz gesägt und im Stall verschwunden ist. Abwechselnd stehen Bolle und Kläuschen vor unserer Tür, um unsere Mädels zum Baden abzuholen. Mein Vater sagt: „Wenn ihr mit den dreien baden gehen wollt, dann müsst ihr erst einmal kräftig mithelfen.“ Das ist Vatis Taktik: Nimm immer, was du kriegen kannst. Bolle ist gleich verschwunden. Kläuschen lässt sich auf den Deal ein. Sie sägen und sägen und die Schweißtropfen rennen schon von ihren Gesichtern.

      Als Erster ist mein Vater verschwunden. Dann machen sich meine Schwestern wegen irgendeines läppischen Vorwandes aus dem Staub. So steht Kläuschen zum Schluss alleine da und sägt, was das Zeug hält. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Mädels schon lange mit Bolle zum Baden verschwunden!

      Mit Bolle sind meine Schwestern am liebsten zusammen. Er hat immer so tolle Ideen und es ist nie langweilig mit ihm. Jetzt ist er schon im ersten Lehrjahr. Zu seiner Brigadefeier will er natürlich auch eine Begleiterin mitbringen. So geht er zu meinem Vater und bettelt: „Ach, Herr Wedding, geben Sie mir doch eine Ihrer Töchter zum Fest mit. Nur eine, Eleonora oder Marlene.“

      Mein Vater antwortet: „Nein, die sind zu jung, die kriegst du nicht!“

      Bolle lässt nicht locker: „Ach, Herr Wedding, geben Sie Ihrem Herzen doch einen Ruck. Am liebsten wäre mir Marlene.“ „Nein, die ist doch erst recht zu jung“, sagt mein Vater empört. „Dann Eleonora“, bettelt Bolle weiter. Nach langem Hin und Her sagt mein Vater: „Na gut, Annedore kannst du haben.“ Aber die will Bolle nicht!

      Ich bin das Nesthäkchen unserer Familie und zehn Jahre jünger als meine älteste Schwester. Als es mit meiner Geburt losgeht, steht meine Mutter gerade am Waschtrog und wäscht unsere Wäsche. Dabei platzt ihr die Fruchtblase. „Marlene, Eleonora, Annedore, kommt schnell her! Ihr müsst sofort zum Stahlwerk laufen und euren Vater holen!“

      Tapfer rennen sie über die Stahlwerkbrücke und erzählen dem Pförtner, was passiert ist. „Wir sollen auch noch sagen, dass Vati gleich den Krankenwagen bestellen muss“, fügen sie aufgeregt hinzu.

      In den ersten Jahren bin ich ziemlich oft krank. Als ich das erste Mal ins Krankenhaus muss, habe ich massiven Durchfall. Zuvor wurde meine Mutter vom Arzt ausgeschimpft, weil sie seiner Meinung nach viel zu spät in seine Praxis kam. „Mit Wasserverlust bei einem Kleinkind ist nicht zu spaßen, Frau Wedding“, sagt er streng.

      Das zweite Mal komme ich ins Krankenhaus, weil meine Mandeln raus sollen. Ich habe andauernd Fieber und Atembeschwerden. Dabei ziehe ich die Luft geräuschvoll wie ein Asthmakranker ein und stoße sie ebenso laut wieder aus. Meine Schwestern machen mir in dem Fall ein Dampfbad und schieben meinen Kopf erbarmungslos über eine Schüssel mit heißem Wasser. Dann wird noch ein dickes Handtuch über Kopf und Schüssel gelegt, und ich habe das Gefühl zu ersticken. Der Dampf beißt mir in Nase und Augen. Doch meine Schwestern halten mich mit eiserner Hand fest. Nach einer Weile wird es erträglicher und meine Atemwege werden frei. „So, weil du so schön brav gewesen bist, bekommst du eine ganze Schüssel Pudding für dich alleine“, sagen sie.

      Der Löffel liegt griffbereit in der Schüssel. Ich brauche nur noch zuzugreifen. Voller Erwartung stecke ich ihn mit dem Pudding in den Mund. Statt des wunderbaren Puddinggeschmacks schmecke ich aber etwas widerlich Bitteres und fange an zu würgen.

      „Runterschlucken!", befehlen mir meine Schwestern.

      Wie konnte ich nur denken, sie würden mir ohne Hintergedanken Pudding schenken? Und dann noch eine ganze Schüssel für mich alleine. Diese wundervolle Süßspeise mit Medikamenten zu versauen, ist ja wohl das Letzte.

      Ich muss mich des Öfteren mit solchen Infekten rumplagen. Deshalb beschließt der Arzt: „Die Mandeln müssen raus!“

      Nun sitze ich mutterseelenallein in einem sterilen Krankenhauszimmer. Neben mir liegt ein etwas älterer Junge, der mir ständig die roten Schuhe meiner Puppe klaut und sie dann auch noch zu seinem Schniedelwutz in den Schlüpfer steckt. Wie eklig! Außerdem übernimmt er das Regiment über uns beide. Was ihm in den Sinn kommt, das muss gemacht werden. Wenn ich nicht willig bin, schnappt er mich und trägt mich einfach in der ganzen Kinderabteilung umher.

      Meine Schwestern finden das natürlich niedlich: „Ramona hat einen kleinen Freund und der trägt sie sogar auf Händen.“

      „Hahaha!“, sage ich da nur.

      Die Operation ist auch nicht witzig. Eine grobe Schwester nimmt mich auf den Schoß. Ich sehe fast gar nichts, weil es erst dunkel ist und mich dann ein furchtbar grelles Licht blendet. Die Schwester klemmt ihr rechtes Bein um meine Beine, und meinen Oberkörper hat sie ebenfalls fest im Griff. Ich soll den Mund weit öffnen. Ein Mann im weißen Kittel, von dem das grelle Licht kommt, sitzt mir gegenüber. Er greift mir zweimal mit einer Art Zange in den Mund und reißt mir ratzfatz die

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