Скачать книгу

ruft Annedore entsetzt.

      „Ach du Schande, die liegt ja da hinten auf der Straße“, stellt Marlene fest.

      „Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir Ramona verloren haben“, sagt Ela schuldbewusst und sie und Marlene müssen schon wieder lachen. Nur Annedore findet das gar nicht lustig.

      Schnell flitzen sie den ganzen Weg zurück, um mich zu holen.

      Ein anderes Mal, als es so furchtbar viel geschneit hat, stecken mich meine Schwestern mit dem Kopf zuerst in einen riesigen Schneehaufen. Da schauen nur noch meine Stiefel raus.

      In der Kirche geht es sehr herzlich zu, jedenfalls bei den Erwachsenen. Die Orgel und der Chor hören sich schön an und ich schlafe dort meistens den Schlaf der Gerechten. Meine Mutter stört das gar nicht. Im Gegenteil, dann bin ich wenigstens ruhig. Nur dass ich ihr dabei immer den Mantel so vollsabbere, kann sie gar nicht leiden. Ihr Mantel fühlt sich aber auch so behaglich in meinem Mund an. Genauso wie meine frisch gewaschene Bettdecke. Deswegen kann ich nicht widerstehen, daran zu nuckeln. Auf der anderen Seite des Mittelgangs sitzen die Kinder in meinem Alter ohne ihre Eltern. Deswegen halten sie mich wahrscheinlich auch für ein Baby, weil ich noch nicht bei ihnen sitzen darf. Ich finde aber, die sind auch nicht viel besser als ich. Immer wenn jemand redet, den sie nicht leiden können, stecken sie sich die Finger in die Ohren oder sie machen sich Knoten in die Taschentücher, damit sie nicht vergessen, was sie gerade sagen wollten. Manchmal stecken sie mir sogar die Zunge raus.

      Wenn Odette, eines der Kinder von der anderen Seite des Kirchengangs, zu mir nach Hause kommt, dann ist es voll langweilig. Sie will andauernd mit Puppen spielen. Ich muss meine einzige Puppe rausholen und so tun, als wenn ich das hochinteressant finde. Oft werde ich in meiner Familie mit ihr verglichen. Sie meinen: „Kannst du nicht so sein wie Odette, sie ist immer so ordentlich und sauber und spielt nicht im Dreck wie du.“

      Das andere Mädchen ist die Tochter vom Vorsteher. Die denkt auch, sie wäre etwas Besseres. Ela ist mit ihrer Schwester befreundet, die ist ganz in Ordnung. Nur wenn sie mit allen ihren Geschwistern bei uns auftaucht, ist sie manchmal genauso zickig wie der Rest. Sie wollen mich dann meistens nicht dabei haben und sagen: „Hau ab, du kleine Doofe!“

      Wenn ihr Vater uns besucht, dann nennt er meine Mutter jedes Mal „Tante Wedding“. Mutti gefällt das gar nicht und sie wird dabei puterrot. Wenn er dann weg ist, beschwert sie sich bei uns und sagt geringschätzig: „Der nennt mich immer ‚Tante Wedding’, dabei ist er sogar älter als ich.“ Ich habe zu Ostern von ihm ein wunderschönes metallenes Osterei bekommen, in dem Süßigkeiten steckten. Die Eihälften schienen mir aber nur zum Buddeln im Sand geeignet zu sein.

      Seitdem Eleonora mit der Tochter vom Vorsteher befreundet ist, hat sie einen Putzfimmel. Sie meint: „Bei Brauns ist es immer so sauber und bei uns nicht.“ Deshalb ist sie bestrebt, es der Familie gleichzutun. Sie fängt mit dem Sauber machen im Flur an und trägt alle Mäntel aus dem Flur in die Stube. Dort legt sie die Kleidungsstücke gleich neben den Ofen ab. Vielleicht kann sie nachher sogar ein paar Mäntel in den Stubenschrank verstauen. Dann würde es hier sicher schon etwas ordentlicher aussehen. Erst will sie aber den Flurboden wischen, bevor sie sich um die Mäntel kümmern kann. Während des Wischens riecht es so merkwürdig angebrannt. „Ach du Schreck“, ruft Eleonora, „die Mäntel!“ Leider haben alle Sachen zu dicht am Ofen gelegen, so dass jeder Mantel ein Brandloch bekommen hat.

      Mutti riecht das Versengte auch und kommt gleich in die Stube gerannt. „Was ist hier los? Warum riecht es so angebrannt?“, fragt sie erschrocken. Als sie die Bescherung sieht, bekommt Eleonora ordentlich eine geklebt. Mutti ist mächtig sauer! „Warum musstest du die Mäntel hierher tragen?“, schreit sie. „Konnten die nicht im Flur hängen bleiben?“

      Das ist das erste Mal, dass Mutti ihr gegenüber handgreiflich wird. Eleonora ist tief beleidigt. Sie wollte doch nur Ordnung schaffen … Dass jetzt jeder Mantel, der dort lag, ein Brandloch hat, das hat sie nicht gewollt.

      Mutti macht sich ran, die Mäntel sorgfältig zu flicken. Da aber die Kleidungsstücke von Kind zu Kind weitergereicht werden, müssen das zweite Kind zwei Jahre und das letzte Kind drei Jahre mit einem Flickenmantel rumlaufen.

      In der Kirche ist André mein bester Freund. Er hat genauso blonde Locken wie ich. Seine Familie kommt uns oft sonntags besuchen. Dann spielen wir im Garten oder gehen mit Lenors am Kanal spazieren. Frau Lenor ist eine große, korpulente Frau mit einem hübschen Gesicht. Ihr Mann ist etwas rundlich, hat eine Halbglatze und ist mindestens einen Kopf kleiner als sie. Die beiden verstehen sich prima. Herr Lenor singt die schönsten Tenorsolos der Welt. Außerdem gibt es da noch zwei Mädchen, Lena und Uta.

      Das Mittagessen am Sonntag ist immer vorzüglich. Mutti macht den Braten warm und setzt die Kartoffeln an. Die Mädels decken den Tisch. Ich renne voller Erwartung zwischen Stube und Küche hin und her. Dabei muss ich an unserer Kammer vorbei. In dem Moment, wo niemand in Sichtweite ist, werde ich in die dunkle Kammer gezogen. Wie von Geisterhand umklammert mich eine Person von hinten und flüstert mir mit verstellter Stimme ins Ohr: „Ich bin der Busemann, ich bin der Busemann.“

      Schnell versuche ich mich aus dieser Umklammerung zu lösen und sage: „Marlene, hör auf mit dem Quatsch!“

      Doch sie ergreift mich noch einmal und fängt von vorne an: „Ich bin der Busemann, ich bin der Busemann, ich bin nicht Marlene.“

      „Ja, ja, wer’s glaubt, wird selig. Ich weiß ganz genau, dass du Marlene bist!“

      Mit diesen Worten reiße ich mich von ihr los und fliehe aus der Kammer. Sie lacht sich halb kaputt. Und ich denke, die kann aber auch den Quatsch nicht lassen! Sie muss doch merken, dass ich darauf nicht mehr reinfalle.

      Inzwischen ist Mutti fertig und wir können den Braten in vollen Zügen genießen. Nur wenn es Kaninchen gibt, mache ich lange Zähne. Die Tierchen sind so niedlich. Als die Zibben gestorben waren, haben wir die kleinen Kaninchen mit winzigen Nuckelflaschen aufgezogen. Mit einem Mal hängen sie dann mit abgezogenem Fell an der Teppichstange oder liegen in einer Schüssel im Kühlschrank. Wenn du dann die Kühlschranktür öffnest, glotzt dich so ein nackter Kaninchenkopf an. Das ist voll ekelig!

      Mittwochabend gehen meine Geschwister jetzt auch in die Kirche und ich muss ganz allein zu Hause bleiben. Da bekomme ich Muffensausen, ganz ehrlich. Meine Schwestern erzählen mir von ihren wundervollen Abenden, wo sie ohne Vati und Mutti alleine zu Hause waren. Ich glaube, sie konnten es gar nicht abwarten, bis meine Eltern endlich weg waren. Dann wurden Märchen aufgeführt. Sie zogen sich die guten Kleider meiner Mutter an und spielten Schneewittchen. Eleonora war die böse Königin und rief: „Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

      „Frau Königin, ihr“, antwortete Annedore.

      Sie spielten es so, als befänden sie sich auf einer großen Bühne vor richtigem Publikum. Als die Szene mit dem Apfel kam, rief Ela zu Marlene: „Ich habe einen wundervollen Apfel. Willst du ihn mal probieren? Schau, die eine Seite ist rot und die andere Seite grün.“

      Der Apfel sah so wunderschön aus. Besonders die rote Seite, so dass Eleonora richtigen Appetit bekam und sie diese Hälfte gern selbst essen wollte. Eigentlich müsste Marlene diese Seite bekommen, denn sie spielte ja das Schneewittchen. Doch Eleonora sah gar nicht ein, die rote Hälfte nicht essen zu dürfen, und änderte kurzerhand das Drehbuch. So gab die Königin dem Schneewittchen in Eleonoras Aufführung die grüne Apfelseite.

      Marlene flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Eleonora, ich bin das Schneewittchen, ich bekomme die rote Hälfte.“

      Ela fauchte ganz leise zurück: „Nimm die grüne Hälfte und fall endlich um!“

      Eleonora glaubte, damit sei die Situation gerettet, doch Marlene tat ihr den Gefallen nicht. Auf keinen

Скачать книгу