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schlängeln sich zwei Bahngleise. Eins führt zur Nervenklinik, das andere in Richtung Stadtmitte. Das Gebiet, in dem ich aufwachse, reicht bis zum Kanal. Dahinter ragt ein riesiges Stahlwerk aus der Erde. Viele Leute sagen, es ist furchtbar laut. Doch wir hören das schon gar nicht mehr. Nur wenn die Arbeiter einen Abstich machen, dann zischt und kracht es ziemlich gewaltig. Im Dunkeln werden wir dafür von einem wunderschön erleuchteten Himmel belohnt. Also halb so schlimm.

      Zwischen dem Kanal und den Bahngleisen befinden sich die Rieselfelder und eine Jauchegrube. Ihre Oberfläche sieht aus wie ein riesiger Tanzboden. Die Jauche wird in Abständen über die Felder gepumpt. Das stinkt natürlich fürchterlich, doch was hier wächst ist einzigartig. Am Rand der Felder sind mannshohe Betontonnen im Boden eingelassen. Sie heißen Silo und in ihnen wird Viehfutter für den Winter gelagert.

      Jenseits der Bahn reihen sich Zweifamilienhäuser wie Perlen auf einer Kette aneinander und ergeben eine lange Straße. Von solchen Straßen gibt es sieben, fünf parallel und zwei quer verlaufende. Zu jeder Doppelhaushälfte gehört ein 1000 Quadratmeter großer Garten. Unser Haus liegt fast am Ende der Straße. Neben unserem Garten verläuft ein schwarzer Weg durch das ganze Gebiet. Er endet bei den Neubauten, die für die Armeeangehörigen hochgezogen wurden.

      Wir haben einen ziemlich bunten Gartenzaun: eine Latte grün, eine blau, eine gelb, eine braun. Je nachdem, welche Farbe sich gerade im Schuppen befindet. Vati verstreicht alles, was weg muss.

      Irgendwann im Winter entdeckt Mutti etwas Buntes mitten auf dem verschneiten Feld. „Guck mal, Heinz, was steht denn da hinten im Schnee?“, fragt sie und zeigt mit dem Finger in Richtung Bahn.

      Vati schaut ebenfalls aus dem Fenster in diese Richtung. Er kneift die Augen zusammen, als wenn er nicht richtig sehen kann.

      „Sag mal, Heinz, siehst du auch, was ich sehe?“, fragt meine Mutter erstaunt.

      Meine Schwestern kommen schnell herbeigerannt. „Ist denn das zu fassen, dort steht unser Gartentor!“, ruft mein Vater belustigt.

      Meine Schwestern und ich drücken uns die Nasen am Fenster platt. Und tatsächlich, weit weg, mitten auf dem Feld steht mutterseelenallein unsere Gartentür im Schnee und leuchtet in der Sonne.

      „Wie ist denn die da hingekommen?“, wundert sich meine Mutter.

      „Da hat sich wohl einer einen schlechten Scherz erlaubt“, sagt mein Vater und schmunzelt.

      „Ich will ja nichts sagen, aber ich kenne nur eine Familie, die so etwas drauf hat“, behauptet eine meiner Schwestern, und jeder von uns weiß, wer damit gemeint ist.

      „Sicher zweifelt niemand daran, dass es unsere Eingangstür ist“, denke ich laut. „Keiner, außer uns, besitzt solch einen bunten Gartenzaun. Und wenn wir sie dort auf dem Feld sehen, dann kann auch jeder andere aus unserer Straße sie erblicken und sich seinen Reim darauf machen.“

      Meine Schwestern schämen sich fast zu Tode, dass sie das Tor vom Feld holen müssen. Doch Vati besteht darauf und akzeptiert keine Widerrede.

      Der Vorgarten ist im Sommer genauso bunt wie unser Zaun. Für den Garten ist meine Mutti zuständig. Er ist gepflegt und voll schöner Blumen. Der Hof und der Vorgarten sind durch eine Mauer getrennt. Um auf den Hof zu kommen, muss man ein großes Tor durchschreiten. Der Hof liegt fast den ganzen Tag in der Sonne.

      Unser Haus hat zwei Etagen. Unten wohnen wir und oben die Untermieter. Dem Haus zugewandt liegen übereck Veranda, Küche und Bad. Die Stallungen sind gleich am Bad angebaut. Gegenüber befinden sich der Schuppen und ein Platz für die Hollywoodschaukel. Der Apfelbaum im Hof trägt die besten Äpfel der Welt. Neben dem Stall und hinter dem Apfelbaum kann man die Teppichstange und die Fäkaliengrube sehen. Vati kann froh sein, dass wir da noch nicht reingefallen sind, denn die Abdeckung ist echt lebensgefährlich. Die Grube ist mir zwar bisher erspart geblieben, dafür bin ich aber, als meine Eltern das Dach gestrichen haben, mit dem Hintern in flüssigen Teer gelandet. Das war genauso unangenehm. Da mussten sie mir den Teer vom Po abziehen, nachdem er erkaltet war. Die Teppichstange ist aus massivem Eisen und sie ist Mutti schon mal beim Teppichklopfen auf den Kopf gefallen. Da brummte ihr aber mächtig der Schädel.

      Hinterm Schuppen stehen unsere Kaninchenställe. Die sind krumm und schief gebaut, erfüllen aber ihren Zweck. Ratet mal, wer die gebaut hat? Der Garten ist voller Obstbäume. In den Flächen dazwischen wachsen dicht gedrängt Erdbeeren und verschiedenste Gemüsesorten.

      Wir lieben unser Haus, jedenfalls im Sommer. Sommer heißt: Alles ist warm und gemütlich, es gibt viel Platz und viel frische Luft. Im Winter ist es kalt und wir müssen zusammenrücken. Und alle warten sehnsüchtig auf die warme Jahreszeit.

      Wir, das sind Mutti, Vati, meine drei Schwestern und ich.

      Vati hat das Haus gekauft, als meine älteste Schwester schon geboren war. Meine Mutter trennte sich kurzzeitig von meinem Vater und lebte eine Weile bei ihrer ältesten Schwester. Doch Vati holte sie mit dem Haus wieder zurück. Mutti arbeitete damals noch als Rollgangfahrerin im Stahlwerk. Bis zum dritten Kind war sie dort tätig. Meine drei älteren Schwestern gingen derweil in die Wochenkrippe.

      Als ich auf die Welt komme, entschließt sich meine Mutter, nicht mehr im Stahlwerk in drei Schichten arbeiten zu gehen. Jetzt bekommt nur noch einer in unserer Familie ein Einkommen und das Geld ist immer knapp. Da meine Mutter über kein eigenes Geld verfügt, ist Vati unser großer Boss. Er meint, wenn er die Mäuse nach Hause bringt, kann er auch bestimmen, was damit geschieht. Das gefällt Mutti gar nicht und sie will es auch nicht akzeptieren. Sie ist der Meinung, dass sie genauso viel zu Hause arbeiten muss wie Vati auf seiner Arbeit. Außerdem, meint sie, ist oft mehr Geld für Vatis Bedürfnisse übrig, als für ihre und die der Kinder. Doch da kann sie sagen, was sie will, Vati lässt sich in dieser Hinsicht nicht erweichen. So muss sie noch ein bisschen nebenbei arbeiten gehen, um sich und uns manch kleinen Wunsch erfüllen zu können.

      Mutti ist sehr geschickt. Sie kann nähen, tapezieren, bekommt jeden Nagel in die Wand und kann arbeiten wie ein Pferd. Sie ist sich nicht zu fein, Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, die sonst keiner machen will. So arbeitet sie im Winter in der Firma Korten und im Sommer auf dem Feld in Werder. Beides sind harte Jobs mit wenig Verdienst. Aus Werder bringt sie Obst in Hülle und Fülle mit. Da können wir uns satt essen, und der Rest wird eingeweckt. Manchmal weckt sie tagelang bis spät in die Nacht ein. Zum Schluss ist ihr ganz übel und sie möchte die Arbeit am liebsten hinschmeißen, weil sie das Einwecken so satt hat. Das ist aber die Ausnahme. Meistens ist sie gern im Haus tätig und sie singt bei der Arbeit alle Volkslieder, die sie als Kind lernte. Auch die, die man nicht singen sollte, wie zum Beispiel „Schwarzbraun ist die Haselnuss“. Dann sagt sie im Flüsterton: „Das darfst du draußen nicht singen, das ist verboten.“

      Zu Hause bekommt sie alles im Griff. Nur außerhalb unserer vier Wände fühlt sie sich etwas verloren. Naja, Mutti schämt sich dafür, dass sie nicht so gut Deutsch sprechen kann. Das behindert sie sehr im Umgang mit anderen Leuten. Die Behördengänge muss deshalb Vati erledigen. Ich finde das mit der Sprache gar nicht so schlimm. Es gibt ihr eher eine persönliche Note, wenn sie ihr „Polnisch rückwärts“ redet. Eigentlich hört es sich ganz niedlich an. Wie Mutti eben. Aber mir glaubt sie ja sowieso nicht.

      Mutti hat eine Freundin, die redet genau so wie sie. Mit der fährt sie nach Werder. Die Frau hat zwei Söhne mit roten Locken, die sind ein klein wenig älter als ich und ziemlich aufgeweckt. Ihr Mann ist super nett. Und sie wohnen in unserer Siedlung, nicht weit von unserer Kirche entfernt. Manchmal schaut Mutti nach dem Gottesdienst bei ihnen vorbei.

      Einmal fahre ich mit den beiden Jungs und dem Vater in ihrem Trabbi mit. Ich betätige aus Versehen einen Knopf, der meine Tür nicht mehr aufgehen lässt.

      „Ach du Schreck, was hast du denn jetzt angestellt?“, fragt der Mann ganz erschrocken und rüttelt an seiner Tür. „Mann, die geht auch nicht mehr auf!“

      Ich reagiere panisch, weil wir jetzt nicht mehr aus dem Auto rauskommen und versuche verzweifelt, meine Tür zu öffnen. Da fangen die drei an zu lachen und ich merke, dass ich veräppelt werde. Mit hochrotem Kopf

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