Скачать книгу

die rohe Kraft ist wichtig! Ich weiß, dass es Mächte gibt, die der Kraft eines Mannes überlegen sind.“ Sie schaute ihre Großmutter an, die noch immer stolz und aufrecht in der Runde saß, sich bisher aber noch nicht geäußert hatte. Jeder in diesem Kreis wusste, dass Kala mit magischen Kräften ausgerüstet war, weshalb sie häufig von einem Ratsmitglied aufgesucht wurde.

      Doch zu Avivas Überraschung schüttelte ihre Großmutter auf einmal den Kopf und antwortete: „Es kann schon sein, dass Frauen unterschätzt werden, und auch ich glaube, dass es andere Mächte gibt außer der rohen Gewalt. Doch selbst ich bin der Meinung, dass du noch mehr Zucht nötig hast.“ Kalas Augen wanderten zu Rapo hinüber.

      Alle Blicke ruhten jetzt auf ihm. Rapo verschränkte überlegen lächelnd die Arme hinter dem Kopf, sodass jeder seine gewaltigen Muskeln sehen konnte. Mit einem schadenfrohen und hämischen Lachen musterte er sie von oben bis unten. Augenblicklich wusste sie, dass sie zu viel gesagt hatte.

      Aviva kannte ihr wahres Alter nicht und sah mit Sicherheit nicht mehr wie das Kind von damals aus. Sehr wohl bemerkte sie seit einiger Zeit die Blicke der Männer auf sich, wenn sie sich draußen aufhielt. Aber sie trauten sich nicht, ihr nahe zu kommen oder wie bei anderen Frauen anzügliche Bemerkungen zu machen.

      Aviva wusste, dass sie ein Schutz umgab, den sie nicht erklären konnte. Sie wusste es einfach. Aber bei Rapo fühlte sie sich trotzdem ungeschützt. Sie war ihm all die Jahre aus dem Weg gegangen, indem sie es vermied, sich allein in seiner Nähe aufzuhalten und so tat, als ob nichts wäre. Vermutlich glaubte er, dass sie vergessen hatte, was er früher mit ihr angestellt hatte. Er würde es leugnen, so wie Großmutter Kala. Jedenfalls ließ er sich deswegen nichts anmerken. Sein Interesse galt sowieso der Jagd und dem Ziel, seine Macht im Dorf zu festigen.

      Nun blickten alle auf Rapo, doch der Jäger lächelte nur. Gemächlich stand er auf und ging auf Aviva zu. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Einem großen schwarzen Raubtier hatte sie gegenübergestanden, sie würde auch vor Rapo nicht zurückschrecken. In seiner ganzen beeindruckenden Kraft stand er nun vor Aviva. Prüfend blickte er sie mit seinen schwarzen, funkelnden Augen an. Dann strich er ihr übers Gesicht, als wolle er sie streicheln. Er nahm ihr Kinn in seine Hand und drückte so fest zu, dass jeder andere vor Schmerz aufgeschrien hätte. Aber Aviva blieb ruhig. Sie spürte weniger den körperlichen Schmerz als vielmehr Rapos böse Absicht. Es ging etwas so Böses von ihm aus, dass sie innerlich erschauderte. Ihr wurde klar: Rapo wollte sie gänzlich vernichten und wartete nur auf eine passende Gelegenheit. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen.

      Aviva sah die Flammen von Gier und Hass in seinen Augen lodern. Sie sah sein böses, dunkles Herz. Übelkeit überkam sie und Benommenheit wollte sie überschwemmen. Nein! Nicht jetzt!, dachte sie. Aviva wehrte sich gegen die aufkommende Ohnmacht. Plötzlich hörte sie die weiche Stimme, die nur sie wahrnehmen konnte: „Aviva! Schau ihm in die Augen.“

      Die Panik ließ sofort nach. Ihre Augen wurden hell und glänzend und einen Moment lang konnte sie bis auf den Grund seiner Seele blicken. Dort nahm sie etwas Besonderes wahr. Sie sah eine verschlossene Eisentür mit einem Metallschloss in seinem Herzen. Davor standen zwei Wächter mit gezogenen Schwertern. Ihre Rüstungen glänzten und aus ihren Mündern züngelten Schlangenzungen. Aviva erkannte unvermittelt, dass Rapo seine Seele hinter dieser Tür eingesperrt hielt. Während sie ihm weiterhin in die Augen blickte, spürte sie seine Verzweiflung und innere Gefangenschaft. Hinter der verschlossenen Tür sah sie einen kleinen schreienden Jungen. Ohne es zu wollen, empfand Aviva Mitleid und sogar so etwas wie Liebe für dieses arme kleine Wesen.

      Rapo zuckte für einen Sekundenbruchteil zusammen. Von außen war es kaum wahrnehmbar, aber Aviva spürte es an seiner Hand, die ihr Kinn immer noch festhielt. Keines der übrigen Ratsmitglieder hatte bemerkt, was vor sich gegangen war.

      Auf einmal fühlte Rapo sich unbehaglich. Bekam er, der furchtlose, gefährliche Rapo etwa Angst? Die Glut in seinen Augen wurde nur noch stärker. Er ließ ihr Kinn los, holte dafür mit seiner Hand aus und schlug Aviva mit dem Handrücken so heftig ins Gesicht, dass sie zu Boden geschleudert wurde. Blut floss aus ihrer Nase. Avivas Wange glühte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ihr Kampf hatte nur wenige Augenblicke in Anspruch genommen. Trotzdem kam es Aviva vor, als wären Stunden vergangen.

      Rapo stand nun über ihr, schaute den Rat an und meinte mit dem Gleichmut eines Siegers: „So viel zur rohen Gewalt!“ Mit erhobenem Haupt kehrte er wieder an seinen Platz zurück, schaute in die Runde und sprach: „Narog, wir müssen nun handeln. Du weißt, dass wir die Ländereien bezahlen müssen. Veles verlangt das vorgeschriebene Opfer. Wir können es uns nicht leisten, ihn zu erzürnen. Gib die zwei Frauen als Bezahlung wie vorgesehen. Aviva ist zu jung, deshalb soll sie zu mir kommen; ich brauche sowieso jemanden in der Hütte. Sie muss zuerst zugerichtet werden, sonst bringt sie nicht viel ein.“

      Aviva lag immer noch am Boden. Mit ihren Händen versuchte sie ihre Beine mit dem Rock zu bedecken. Auf keinen Fall durfte man den Pfeil bei ihr finden. Ihr schwirrte der Kopf, sie konnte jedoch alles mit anhören. Lieber würde sie sterben, als zu Rapo zu kommen. Sie hatte auch keine Ahnung, ab wann man heiratsreif war und wie lang ihre Zeit bei Rapo dauern würde. Das entschieden die Ältesten. Einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte sie: Kala, ihre Großmutter! Trotz ihres Alters hielt diese sich kerzengerade in der Runde. Ihre Wangen sahen aus wie gegerbtes Leder. Die langen, inzwischen mithilfe von Baumrinde schwarz gefärbten Haare trug sie geflochten. Ihre Augen waren tiefdunkel, ihr Blick konnte eine Person durchbohren. Meist war ihr Blick gehetzt, was Aviva immer irritiert hatte. Nie war es ihr gelungen, ihrer Großmutter nahezukommen, ihr Wesen zu spüren. Würde die Großmutter für sie einstehen und nur für die Ausgangssperre plädieren?

      Da ergriff Lendor wieder das Wort: „Aviva muss öffentlich bestraft werden, sie soll nicht so einfach davonkommen! Was ist, wenn sie andere durch ihr Verhalten ansteckt? Unser Ruf ist in Gefahr!“

      Als Aviva sah, wie Kala zustimmend nickte, erstarrte sie und ihr Herz versank in Verzweiflung. Der Ratsälteste bedeutete dem Wächter mit der Hand, zu schweigen. Dann schaute er Aviva an und sagte: „Du bist mutig. Die Götter hätten aus dir einen Mann machen sollen. So bleibst du nutzlos.“ Er blickte zu Lendor hinüber und befahl ihm: „Geh mit ihr in den Wald. Du weißt schon, den Zweig nicht zu dick, nicht zu dünn. Dann bring Aviva in die Gefangenenhütte. Geh, wir haben hier Wichtigeres zu besprechen.“ Narog deutete ungeduldig mit der Hand zur Tür.

      „Ich werde sterben“, durchzuckte es Aviva. Sie fühlte sich so hilflos und allein. Lendor stapfte triumphierend auf sie zu, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Holzhaus. Während sie auf gröbste Art durchs Dorf und in Richtung Wald gezerrt wurde, spürte sie den Pfeil an ihrem Bein unter dem Rock. Die Dorfbewohner schauten ihnen mit besorgten, aber teilnahmslosen Blicken nach. Als ob ein Schleier über ihren Augen läge, dachte Aviva.

      Lendor stellte Aviva vor einen kleineren Baum am Waldrand. „Du darfst sogar auswählen“, grinste er sie voller Genugtuung an. Aviva gehorchte, und wie so oft, wenn sie dazu gezwungen wurde, Sachen zu tun, die ihr widerstrebten, spürte sie ihren Körper nicht mehr. Sie wählte einen dickeren Zweig aus, brach ihn ab und fing an, die grünen Blätter zu entfernen. Mit ihren Nägeln löste sie die Rinde ab und streckte dann die Rute Lendor hin. Aviva schaute ihn dabei direkt an. Er wich ihrem Blick aus, nahm die Rute und bog sie ein paar Mal hin und her, um zu prüfen, ob sie fest und zugleich elastisch war. Dann packte er Aviva wieder am Arm und stieß sie zurück ins Dorf. Beide hatten nicht bemerkt, dass sie im Wald beobachtet worden waren. Leroy hatte sich hinter einem Baum versteckt und alles mit angesehen.

      Die Gefangenenhütte war ein kleines Häuschen aus Holzbrettern, mehr ein Verschlag als eine Hütte. Lendor öffnete die Tür, trieb Aviva hinein, schloss die Tür von außen mit einem metallenen Riegel und stapfte davon. Kurz darauf kam er zurück, diesmal begleitet von Rapo und zwei weiteren Jägern. Sie fanden Aviva am Boden sitzend. Ich muss es geschehen lassen, dachte sie und spürte, wie sie ihrem Körper entwich. Sie spürte sich nicht. Aviva wusste zwar nicht, wo sie sich befand, aber auf eine geheimnisvolle Weise konnte sie sich selbst von außen sehen, wie sie in der Mitte saß, umkreist von den Männern.

      Sie sah, wie Rapo die Rute hob und immer wieder auf sie niederschlug. Sie spürte jedoch keinen Schmerz. Obwohl

Скачать книгу