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hatte. Die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte – mit Peitschenhieben oder mit seinem schweren Körper, wenn er sich auf sie geworfen und sie förmlich erdrückt hatte. Am Schlimmsten war es jedoch gewesen, als er sie seinen Freunden ausgeliefert hatte. Sie alle hatten sie umzingelt, einen undurchdringbaren Kreis um sie gebildet. Was sie dann mit ihr getan hatten, wusste sie nicht mehr, aber sie erinnerte sich an all die abscheulichen Namen, die sie ihr zuriefen, und dass sie sich zutiefst geschämt hatte.

      Aviva hatte gespürt, wie Rapo es genoss, sie zu quälen. Es war ihr so vorgekommen, als ob er sie töten wollte. Darum war sie oft in den Wald gerannt und hatte versucht, sich vor ihm zu verbergen. Aber er hatte sie immer wieder eingeholt und gefunden.

      Wenn die Stimme in ihr nicht gewesen wäre, die zu ihr sprach: „Aviva, du bist nicht allein, ich bin bei dir “, gäbe es sie nicht mehr, das wusste sie. Diese Stimme war nicht die ihre, sie gehörte jemandem, der alles von ihr wusste und alles sah. Niemand sprach ihren Namen so liebevoll aus wie diese Stimme. „Was du erlebst, wirst du überleben, denn ich sorge dafür, dass es dir später gut gehen wird. Du gehörst mir und ich beschütze dich, das verspreche ich dir.“

      „Du gehörst mir und ich beschütze dich, das verspreche ich dir.“

      An diesen Satz hatte sich Aviva bis heute geklammert. Diese Worte gaben ihr Kraft und wärmten ihr Herz. Sie hätte so gern erfahren, wer es war, der mit ihr sprach.

      Sie streckte ihre Beine unter der Steppdecke aus, wobei ihre Füße die von Salin berührten. Für einen kurzen Augenblick genoss Aviva die warme Berührung und fühlte sich geborgen. Sie liebte ihren Bruder und dachte daran, wie vertraut sie einander doch einst gewesen waren. Er war der Liebling der Großmutter – schließlich war er ein Junge, ihr einziger männlicher Enkel und ihr Ein und Alles. Salin wusste das. Diesen Umstand nutzte er oft aus und schob bei Streichen gern Aviva die Schuld in die Schuhe. Im Schlaf wirkte er so unschuldig und sanft, schien ihr einige Jahre jünger, als er in Wirklichkeit war.

      Salin war der Jüngste in der Familie. Er war zierlich, eher klein und mager, hatte mittelbraune, gewellte Haare, die ihm bis zur Schulter reichten, und große braune Augen. Er wurde von allen geliebt und vergöttert. Seine Angewohnheit, sich im Schlaf an ihr Nachthemd zu klammern, hatte er bis heute beibehalten. Aviva hatte ihm nie erzählt, dass er das tat. Es wäre ihm peinlich gewesen. Es war ihm eigentlich auch nicht mehr recht, mit ihr im gleichen Bett zu schlafen. Manchmal wechselten sie sich ab, sodass er ab und zu mit Gora oder Jada das Bett teilte. Es wurde für ihn Zeit, in eine der Männerhütten umzuziehen. Das Bett war gerade groß genug, dass zwei Halbwüchsige darin schlafen konnten, bald würde der Platz nicht mehr ausreichen. Ob Salin dann wohl zu Rapo in die Hütte kommt?

      Aviva musste an früher denken. Im Herbst hatten sie immer im Laub gespielt. Damit die Tiere des Dorfes im Winter nicht frieren mussten, wurde der Stallboden, wenn der Sommer vorbei war, mit einer dicken Schicht Laub bedeckt. Es war Salins und Avivas Aufgabe gewesen, für genügend Laub zu sorgen. Mit Decken waren sie in den Wald gegangen, hatten sie immer wieder mit Laub gefüllt und zurück zum Stall geschleift. Dabei hatten sie sich gegenseitig in der Decke den mit Herbstlaub bedeckten Hang hinuntergezogen. Unten angekommen waren sie den Hang dann wieder hinaufgeklettert, um auf der mit Laub gefüllten Decke wie auf einem Schlitten erneut hinunterzusausen. Mit dem Ziehen der Decke hatten sie sich abgewechselt, denn von allein rutschte sie nicht den Hang runter. Das rot und golden gefärbte Laub wirbelte herum, als ob es tanzen würde. Beide waren sie wie verzaubert gewesen.

      Aviva hatte Salin damals ausnahmsweise wie ein unbeschwertes Kind lachen sehen. Sie hatten dabei viel Spaß gehabt, es waren glückliche Momente gewesen. Nun aber hatte sich die Beziehung zu ihrem Bruder völlig verändert. Seit ein paar Jahren schon wich er ihr aus. Was steht zwischen uns?, fragte sie sich kummervoll. Irgendwas musste passiert sein, woran sich Aviva nicht mehr erinnern konnte.

      Salin war noch sehr klein gewesen, als sie zur Großmutter gekommen waren, vielleicht hatte er gerade seine ersten Schritte gemacht. Für ihn schien es wie selbstverständlich zu sein, bei der Großmutter zu leben, ganz anders als für sie selbst.

      Avivas Blick wanderte zu ihren beiden älteren Schwestern Gora und Jada. Obwohl es fast dunkel war, konnte Aviva ihre Schwestern im Bett auf der anderen Seite des Raumes gut erkennen. Sie lagen eng umschlungen beieinander. Es schien, als ob sie sich gegenseitig Halt geben würden, einander nicht loslassen wollten.

      Gora war die Älteste. Ihr Auftreten war sehr stolz. Wo sie sich aufhielt, scharten sich die Leute um sie. Bei den jungen Männern war sie sehr beliebt. Sie war scharfsinnig und streng. Mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein nahm sie ihre Rolle als Älteste sehr ernst. Sie war groß und obwohl schlank, kein zierlicher Typ. Wie Aviva hatte sie dicke, schwarze Haare, die leicht gewellt waren, und große dunkle Augen. Ihr Gesicht war sehr ausdrucksstark, mit einer markanten Nase, vollen Lippen und einer hohen Stirn. Ihre Gefühle zeigte sie nie und Aviva hatte den Verdacht, dass sie gar nicht fühlen konnte. Bei der Härte, die sie oft im Umgang mit Aviva gezeigt hatte, konnte es nicht anders sein. Großmutter Kala hatte ihr befohlen, die jüngeren Geschwister zu schlagen, wenn sie nicht gehorchten, was sie auch tat. Aviva bewunderte Goras Selbstvertrauen eigentlich und wollte gern in ihrer Nähe sein, doch Gora hielt Aviva auf Distanz und so hatte sie bei ihr das Gefühl, nur geduldet, aber nicht von ihr geliebt zu sein.

      Jada war die zweitälteste. Sie war auch schlank, aber eher zierlich. Wie Salin hatte sie hohe Wangenknochen, braune Augen und schmale Lippen. Ihr Charakter war ganz anders als der von Gora. Jada war eher eine Spaßmacherin und konnte andere aufheitern. Aber auch bei ihr wusste Aviva, dass dies nur die eine Seite ihrer Schwester war. Sie war die Angepasste, aber wer war sie wirklich? Sie ließ Aviva nie wissen, was sie dachte oder fühlte. Sie schien sich in ihrer eigenen Welt zu verstecken. Aviva bekam keine Chance, zu dieser Welt zu gehören. Gora war Jadas einzige Vertraute und Verbündete. Sie waren unzertrennlich. In die Geheimnisse, die Gora und Jada miteinander teilten, wurde sie nie eingeweiht. Ihre beiden Schwestern waren noch unverheiratete, jedoch gerade erwachsen gewordene Frauen, während sich Avivas Körper noch im Zwischenstadium zwischen Kind und Frau befand.

      Aviva streckte sich noch einmal, um die Verkrampfungen der letzten Stunde zu lösen. Ihrem flauschigen Schützling gab sie zum Einschlafen noch ein paar Streicheleinheiten. Langsam ließ die Spannung in ihrem Körper nach und unmittelbar, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel, musste sie an die Raubkatze denken und die Stimme, die zu ihr gesprochen hatte. Leise flüsterte sie: „Wer bist du?“ Doch es kam keine Antwort.

      Am nächsten Morgen wurde Aviva vom Blöken des Lammes geweckt. Schnell stand sie auf und nahm das geschwächte Tier in ihre Arme. Leise weckte sie ihre Schwestern. „Was macht das Schaf hier?“, riefen Gora und Jada aufgeregt. Davon wurde auch Salin wach. Aviva erzählte ihnen nichts von der Raubkatze, sondern nur, dass sie vom Blöken des Lamms geweckt worden war, das sich verlaufen hatte. Sie erzählte von einem Loch in der Stallwand und dass das Lamm wohl nur so außerhalb der Palisaden geraten sein konnte.

      „Oh weh!“, rief Gora. „Das gibt Ärger. Wieso hast du Großmutter nicht geweckt? Es ist doch strengstens verboten, nachts alleine rauszugehen.“

      Ausgerechnet in dem Moment betrat die Großmutter das Zimmer. Sie sah das Lamm in Avivas Armen und ihre Augen weiteten sich zunächst vor Erstaunen. Dann verengten sie sich zu wütenden Schlitzen. „Woher kommt dieses Vieh? Du warst also wieder draußen, Aviva!“, donnerte sie. „Ohne meine Erlaubnis hast du die Hütte nachts nicht zu verlassen!“

      Aviva hatte keine Chance, sich zu erklären. Das Lamm zappelte unruhig und vorsichtig legte sie es wieder in ihren Umhang gehüllt auf das Bett. Verärgert befahl die Großmutter: „Bring das Schaf zurück in den Stall!“

      Nun mischte sich Salin ein: „Aber es ist schwer verletzt!“

      Kala schaute kurz zu dem Lamm. „Zeig es her!“, murrte sie, schob den Umhang ein wenig beiseite, betrachtete das Tier und deckte es wieder zu.

      Aviva war diesmal richtig froh, dass die Großmutter nicht näher nachschaute. Erst da fiel ihr der Schnapsgeruch

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