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breit. Es lief einige Schritte, wollte dem Wagen hinterherrennen. Eine Frau aus der Menge riss das Mädchen jedoch heftig an sich und hielt es fest. Das Kind wehrte sich, schlug um sich, wollte sich losreißen. Die Frau aber war stärker und ließ das Mädchen nicht los. Die Kleine wollte hinterherrennen, den Wagen einholen. In ihrem Kopf schien etwas zu zerbrechen. Sie wollte es nicht wahrhaben.

      Der Wagen rollte davon und der Mann und die Frau drehten sich nicht ein einziges Mal um. Das Mädchen fing an zu rufen und zu schreien. Sie konnte es nicht fassen, konnte es nicht glauben. Ihr wurde schwindelig, doch sie wehrte sich dagegen. Ihr Schrei ertönte erst laut und wurde dann zunehmend hysterisch, bis sie nichts mehr um sich herum wahrnahm. Um sie herum begann sich alles zu drehen; die Leute, die im Kreis um sie herumstanden, verwischten vor ihren Augen mit den Bäumen und Hütten im Hintergrund. Ihre Kraft schwand. Sie spürte nichts mehr und sackte in sich zusammen. Um sie herum wurde es dunkel.

      Niemand bemerkte, was sich in der Nacht verbarg, nur ein einsames Heulen drang zu ihr hinüber. In Aviva hallten die Schreie des kleinen Mädchens wider, schienen nicht verstummen zu wollen. Schon wieder dieser Traum! Jedes Mal erwachte sie danach aufgewühlt und erschöpft. Sie musste geweint haben, denn ihre Augen waren feucht.

      Aviva starrte an die Decke. Ihr Herz und ihre Gedanken rasten. Das kleine Mädchen – war sie das gewesen? Aviva hatte keine Erinnerung an ihre Eltern und an die Zeit, bevor sie und ihre Geschwister zu Großmutter Kala gekommen waren. Niemand hatte ihr von ihren Eltern erzählt; es war, als hätte es sie nie gegeben. Erneut vernahm sie ein Jaulen aus der Ferne, das wie der Ruf einer Wildkatze durch die dunkle Nacht hallte.

      Jetzt war Aviva hellwach. Dieses Jaulen stammte eindeutig nicht mehr aus ihrem Traum, sondern kam von draußen. Sie überlegte nicht lange, sondern sprang entschlossen aus ihrem Bett. Rasch zog sie das lange, weiße Baumwollnachthemd aus und streifte ihr Hemd über den zierlichen, zerbrechlich wirkenden Körper eines jungen Mädchens, der manche Schrammen und Narben aufwies. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie die Großmutter wecken? Nein, das dauerte zu lang.

      Mit einem breiten schwarzen Lederriemen band sie sich das Hemd und den hellbraunen Wildlederrock um die Taille und warf sich ihren schwarzen Umhang aus gewobener Schafwolle um. Sie schaute rasch im Zimmer umher, das noch halb im Dunkeln lag. Schemenhaft waren die zwei Betten zu sehen, in denen ihre drei Geschwister lagen. Gut, dachte sie, sie schlafen alle tief.

      Der Mond warf sein fahles Licht durch das offene Fenster. Obwohl es Nacht war, konnte Aviva in dem kleinen ovalen Spiegel, der an der Wand gegenüber hing, die Umrisse ihres Gesichts erkennen. Kurz betrachtete sie sich selbst. Das tat sie oft, wenn sie sich Mut zusprechen wollte. Ihre dunklen, leicht gewellten Haare fielen ihr bis zur Schulter und schimmerten bläulich im Mondlicht. Sie hatte ein schmales Gesicht und eine etwas hervorstehend markante, aber doch feine und elegante Nase. Ihre Lippen waren voll und schön. Am auffälligsten waren jedoch ihre großen Augen, die ihr nun im Spiegel nachdenklich entgegenblickten. Im Dunkeln ließ sich ihre braungrüne Farbe und das Funkeln darin nicht erkennen.

      Manchmal strahlten ihre Augen so sehr, dass man glaubte, das Aufgehen eines Sternes in ihren Augen zu sehen. Wenn sie Menschen aus dem Dorf ansah, hatten diese das Gefühl, sie könnte ihnen bis auf den Grund der Seele blicken. Aviva hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihren Augen anders war; sie konnte nicht verstehen, warum, doch die meisten Menschen wichen ihrem Blick aus. Manchmal glaubte sie, dass etwas mit ihr nicht stimmte, da sie in vielem so anders war als der Rest der Sippe.

      „Du schaffst das“, flüsterte sie nun ihrem Spiegelbild zu. Ihr Gesicht besaß etwas Würdevolles und Anmutiges, gleich den Beduinen aus der Wüstenlandschaft. Trotz ihrer reinen, elfenbeinartigen Haut hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Nomadenmädchen. Niemand konnte nachvollziehen, warum sie diese helle Haut besaß, denn ihre Großmutter hatte einen dunklen Teint und auch die Haut ihrer beiden Schwestern und die ihres jüngeren Bruders war deutlich dunkler.

      Aviva zuckte zusammen. Es war ein Fauchen und Knurren, das sie aus ihren Gedanken riss. Wölfe und andere Raubtiere gab es zuhauf hier in den Karneolen, wo ihr kleines Dorf Cagor gelegen war. Hätten nicht die Wachen Alarm schlagen und der Jäger des Dorfes sich als Verteidiger der Sippe darum kümmern müssen, wenn sich in dieser Nacht ein wildes Tier herangeschlichen hatte? Wieder knurrte das Raubtier. Dieses Mal noch lauter. Es hatte sich also näher herangewagt. Aviva hielt den Atem an.

      Da! Noch ein anderes Geräusch! Es war ein angsterfülltes Blöken, das nur von einem der jungen Lämmer stammen konnte. Da sie öfter mit dem Wanderhirten Leroy die Schafe hütete, hatte sie zu unterscheiden gelernt, ob das Blöken eines Schafes angsterfüllt klang oder es einfach nach seiner Mutter rief. Sie versuchte herauszufinden, woher das Blöken kam, und dachte daran, dass sie vor einer Weile ein Loch in der Stallwand entdeckt hatte, das noch nicht geflickt worden war. Hatte sich etwa eines der Lämmer nach draußen verirrt? Oder ist das Raubtier schon innerhalb der Schutzgrenze? Sie horchte und ihr Herz pochte wie wild.

      Warum regt sich draußen niemand? Wahrscheinlich liegen die Wachen wieder betrunken in ihren Betten. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer und gelangte geradewegs in den Schlafraum der Großmutter, der gleichzeitig als Wohn- und Besuchsraum diente. Erkennen konnte Aviva nichts, da vor dem kleinen Fenster ein Tuch hing. Das leise Schnarchen der Großmutter aber beruhigte sie. Behutsam öffnete sie die schwere Holztür und schlüpfte hinaus.

      Es war eine sternklare Nacht und der Mond schien hell. Das Dorf sah so friedlich aus. Genau in der Mitte lag der Dorfplatz. Hier fanden die öffentlichen Versammlungen statt. Kleine und größere Hütten aus Lehm, aber auch einige Holzhäuser waren rund um den Dorfkern angesiedelt. Die äußeren Hütten waren für die Jäger des Dorfes bestimmt, deren Aufgabe es war, Nahrung zu beschaffen und die Gemeinschaft im Falle eines Angriffs zu schützen. Das Dorf war von dicht aneinander gereihten und fest in den Boden gerammten hohen Holzpfählen umgeben, sodass ein Feind bei einem Überfall oder Angriff zuerst einige Hürden überwinden musste. Zusätzlich war beim Haupttor Tag und Nacht ein Wachposten aufgestellt.

      Aviva war dankbar, dass fast Vollmond war und es trocken war. Bei Regen wären die Wege zwischen den Hütten und bis hin zu den Pfählen sonst schlammig gewesen. Leichtfüßig eilte sie durch das schlafende Dorf und steuerte geradewegs auf das geschlossene hölzerne Tor zu. Was soll ich dem Wachposten sagen? Nach den Regeln der Sippe durften Frauen und Kinder ohne Begleitung nachts nicht aus ihren Häusern. Aviva hatte sich schon des Öfteren unbemerkt nachts herausgeschlichen, aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

      Vorsichtig näherte sie sich den Hütten der Jäger. Auf keinen Fall wollte sie von einem von ihnen bemerkt werden, vor allem nicht von Rapo, dem Hauptjäger. Um zum Tor zu gelangen musste sie aber ausgerechnet an seiner Hütte vorbei.

      Aviva verlangsamte ihre Schritte, als sie sah, dass Licht in seiner Stube brannte. Die Tür stand offen. Sie erblickte Rapo, der drinnen noch bekleidet mit seiner Jägermontur unbequem mit dem Kopf nach hinten auf einem Stuhl hing und seinen Rausch auszuschlafen schien. Heute hatte er ein Wildschwein erlegt und mit den anderen Jägern gefeiert. Bei seinem Anblick verkrampfte sich ihr Magen. Furchtbare Erinnerungen wollten hochkommen. Erinnerungen, die sie niemandem anvertrauen konnte.

      Nicht, dass sie es damals nicht versucht hätte, aber Kala hatte danach bloß die Hände hochgeworfen, vor sich hin geschimpft und gemeint, sie würde fantasieren und lügen. Nie wieder wurde anschließend darüber gesprochen. Im Grunde wurde überhaupt nicht über ihre Familie gesprochen, so als läge ein Bann auf ihr.

      Als sie mit ihren Geschwistern zu Kala gebracht worden war, war Rapo ein heranwachsender junger Mann gewesen. Schaudernd erinnerte Aviva sich an das lähmende Gefühl, das sie in Rapos Nähe empfunden hatte – so als wäre die Angst, die sie spürte, bis in ihre Knochen gedrungen. Überglücklich war sie, als er nach zwei Jahren unter dem gleichen Dach auszog. Er sollte zum Jägermeister, der für ihn wie ein Ziehvater war, in die Hütte ziehen, um von ihm zu lernen. Zehn Jahre waren seitdem vergangen.

      Da hörte sie wieder das Knurren. Und anschließend

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