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Vergangenheit waren im Nu verschwunden. Neben dem Tor erkannte sie den Schattenriss des Wächters; er saß auf einem Baumstumpf, den Kopf an die Palisadenwand angelehnt und schnarchte. So schnell und leise sie konnte, lief Aviva an Rapos Hütte vorbei. Behutsam öffnete sie das große Tor und schlich hinaus.

      Vor ihr lag nun der dunkle Wald. Sie kannte ihn gut, auch die Gefahren, die darin im Verborgenen lagen. Wie oft war sie schon in den Wald gelaufen, um sich vor Rapo zu verstecken. Einen Moment lang zögerte Aviva, doch sie wusste, dass sie unter einem Schutz stand. Einem besonderen Schutz, von dem niemand etwas wusste, nur sie allein. Und in ihrem Herzen erklang leise die liebevolle Stimme, die nur sie hören konnte: „Hab keine Angst, ich bin bei dir, Aviva!“

      Aviva schob die Erinnerungen energisch beiseite und konzentrierte sich auf ihr Herz. Sie stand nun zwischen den ersten Bäumen des Waldes. Ihre Augen versuchten im Dunkel etwas zu erkennen.

      Da! Um die 50 Schritte vor ihr vernahm sie einen Schatten, der sich bewegte. Schnell huschte sie hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden. Vorsichtig spähte sie hinter dem Stamm hervor. Was sie dann erblickte, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

      Etwas Schwarzes auf vier Beinen schlich auf den Baum zu. Es hatte einen langen Schwanz und bewegte sich wie eine Katze. Nur war dieses Ding um einiges größer und kräftiger.

      Aviva hatte noch nie von einem solchen Tier gehört, geschweige denn eines gesehen. Irgendwie verhielt es sich eigenartig. Es knurrte, hielt inne und schlug mit der rechten Vordertatze nach etwas. Wieder konnte man es blöken hören, es kam genau aus der Richtung, wo das Tier mit seinen scharfen Krallen hingeschlagen hatte.

      Aviva stockte der Atem. Leise und vorsichtig duckte sie sich hinter die Bäume und schlich sich näher an das Tier heran. Dann sah sie es. Ein Lamm lag am Boden vor ihm, es zitterte. Avivas Herz raste. Was soll ich tun?

      Die Riesenkatze musste etwas gewittert haben, denn sie schaute genau in ihre Richtung. Aviva war klar, dass dieses katzenartige Biest im Dunkeln besser sehen konnte als sie. Sie befahl sich, ruhig zu bleiben und nicht von der Stelle zu weichen. Deutlich spürte sie den bohrenden Blick des Raubtieres, und trotz der Entfernung erschien es ihr ganz nah. Dann wandte das Tier sich wieder dem verletzten Lamm zu. Vorsichtig nahm es das Lamm zwischen seine messerscharfen Zähne.

      Da tauchte auf einmal der Mond hinter dem Waldrücken hervor und erhellte die Lichtung. Aviva konnte den schmerzerfüllten Ausdruck auf dem Gesicht des kleinen Lammes sehen. Seine Augen waren vor Todesangst weit aufgerissen. Das Raubtier schaute zu den Bäumen auf. Aviva verstand sofort. Das Tier wollte seine Beute auf den Baum hinauf in Sicherheit bringen. Genau das durfte nicht passieren! Was sollte sie nur tun? Aviva war am ganzen Körper bis aufs Äußerste angespannt.

      Wieder blickte die Raubkatze in ihre Richtung und sah ihr direkt in die Augen. Dann öffnete sie plötzlich ihren Rachen. Aviva hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was sie jetzt sah. Das Raubtier ließ das Lamm fallen und gab ein drohendes Knurren von sich. Dann machte es einen Schritt mit der rechten Vordertatze in ihre Richtung. Als es aber die linke nachzog, schwankte es ein wenig zur linken Seite. Es schien diese Tatze nicht richtig absetzen zu können.

      Es ist verletzt!, schoss es Aviva durch den Kopf. Was soll ich nur machen? Einen kurzen Moment lang beschlich sie erneut die Angst. Doch sie wusste, jetzt war nicht der Zeitpunkt zum Zweifeln. Sie horchte in sich, in ihr Herz. All ihre wilden Gedanken schob sie beiseite. Sie musste sich richtig durch sie durchkämpfen, und das erforderte Kraft. Dann aber vernahm sie die Stimme, die wieder zu ihr sprach: „Sei mutig, sei entschlossen!“

      Aviva spürte, wie sich ihre Muskeln wieder entspannten und sie wieder Mut und Kraft durchströmten. In Momenten wie diesem konnte Aviva alles vergessen, auch die Gefahr. Sie barg sich in der Zuflucht, die ihr die Stimme bot.

      Ohne Anzeichen von Furcht kam Aviva hinter dem Baum hervor. Sie schaute dem Raubtier direkt in die Augen. „Das ist meine Beute, das Lamm gehört mir!“, sagte Aviva mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

      Das Raubtier wollte gerade zum Sprung ansetzen und sich auf Aviva stürzen, doch irgendetwas schien es jetzt zurückzuhalten. Es konnte sich einfach nicht zum Sprung überwinden. Seine Instinkte von Angriff und Flucht waren wie ausgelöscht. Erneut sah das Raubtier Aviva in die Augen. Ja, von dieser Menschentochter kam die Stimme, zweifellos. Sie war bis auf den Grund ihrer Seele hörbar. Und diese leuchtenden Augen! Sie hatten etwas Gebieterisches an sich und doch waren sie nicht böse. Das Tier war irritiert. Avivas Stimme hallte immer noch in ihm nach.

      Aviva machte kleine, langsame Schritte auf das Raubtier zu. Sein schwarzes Fell glänzte im Mondschein. Sie spürte die Anspannung, die in dem Tier steckte. „Hab keine Angst, ich tue dir nichts“, sagte Aviva leise, beinahe flüsternd.

      Das Tier stellte seine Ohren auf, so als ob es Aviva genau verstanden hätte. Seine Muskeln lösten sich und es bewegte sich langsam und hinkend voran, bis es vor dem am Boden liegenden Lamm stehen blieb. Jetzt war Aviva nur noch zwei Schritte entfernt. Vorsichtig streckte sie ihre rechte Hand aus. Die große schwarze Raubkatze schien neugierig zu werden und kam auf Avivas ausgestreckte Hand zu.

      Da erst sah Aviva, dass etwas in der linken Schulter des Tieres steckte. Es war ein Pfeil! Im Schein des Mondes war zu erkennen, dass Blut auf dem glänzenden Fell reichlich Spuren hinterlassen hatte.

      Aviva hielt ihre Hand immer noch ausgestreckt. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Das Tier war wunderschön. Es hatte Ähnlichkeit mit den kleinen, helleren Wildkatzen, die sie aus den umliegenden Wäldern kannte. Aber diese Großkatze war schwarz und reichte ihr fast bis zur Hüfte. Ihr Fell war durch und durch schwarz, dicht und kurz. Der Kopf wies ein helleres Rosetten-Fleckenmuster auf, das nur aus der Nähe zu erkennen war.

      Avivas Gedanken überschlugen sich. Obwohl sie nun dem Lamm so nahe war, konnte sie es nicht an sich nehmen, denn das Raubtier hatte sich zwischen sie gestellt. Aviva konnte geradewegs in seine Augen blicken. Was sie darin sah, erfüllte sie mit schmerzhafter Sehnsucht und Trauer. Die Augen des Tieres schienen zu ihr zu sprechen. Wie in einem Traum sah sie unbekannte Landschaften, Berge, Täler und Seen. Sie sah noch weitere Raubtiere, große Katzen gleicher Art, manche mit sandfarbenem Fell. Sie konzentrierte sich auf eine große schwarze Raubkatze mit zwei halbwüchsigen Katzenjungen, die miteinander spielten. Das schwarze Tier vor mir ist das Muttertier, wusste sie plötzlich.

      Die Szene vor ihren Augen erinnerte sie an Wölfe, die sie schon oft beobachtet hatte. Wie liebevoll die Mutter den Jungen das Jagen beibrachte und sich schützend vor sie stellte! Dann sah sie auf einmal, wie das Raubtier gehetzt und außer Atem allein jagte, sie spürte seine Verzweiflung. Plötzlich wurde ein Netz auf die jungen Tiere geworfen, von Männern mit Tüchern auf dem Kopf und luftigen Hosen.

      Augenblicklich wusste Aviva, was zu tun war. Ohne zu überlegen streckte sie ihre Hand noch weiter dem Tier entgegen und berührte es. Achtsam und voller Liebe legte sie ihre Hand an seinen Hals. Ein Knurren stieg aus seiner Kehle, doch es bewegte sich nicht. Langsam strich Aviva dem Tier über das Fell bis zur linken Schulterhöhe, wo der Pfeil feststeckte. Ich muss ihn rausziehen!

      Vorsichtig hob sie ihren linken Arm und umfasste mit beiden Händen den hölzernen Pfeil. „Ich werde ihn jetzt herausziehen. Das wird wehtun. Bitte tu mir nichts.“

      Aviva nahm all ihren Mut zusammen, umfasste den Pfeil und zog ihn ruckartig aus dem Fleisch. Im nächsten Augenblick sprang das Tier hoch und riss Aviva mit seinen Vorderpranken zu Boden. Da lag sie nun, im taunassen Laub unter dem Raubtier, und spürte sein Schnauben auf ihrem Gesicht. Ihr Herz pochte wild.

      Das Tier öffnete sein Maul. Seine weißen Zähne glänzten im Mondschein und wieder ertönte ein drohendes Knurren und Fauchen aus seinem Rachen. Dabei richteten sich die Augen des Tieres in das Dunkle des Waldes.

      Aviva schauderte, denn sie spürte den inneren Kampf dieser Raubkatze, die Verzweiflung in ihr. Seltsamerweise wusste Aviva, dass dieses Knurren gar nicht ihr galt, sondern dem Unbekannten im Wald. Sie konnte nichts tun, außer ruhig zu sein, obwohl sie davon überzeugt war, dass die Raubkatze ihren lauten Herzschlag deutlich hören konnte. Da blickte das schwarze Tier Aviva direkt in die Augen. Es neigte leicht den Kopf und es schien Aviva, als würden

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