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Und sie bekämpfen sich gegenseitig. Oder der Schöpfer ist ein launisches Wesen, der manchmal beschützt und dann wieder straft. So wie Veles. Bei diesem Gedanken verspürte Aviva eine Enge in ihrer Brust.

      „Ich bin mir nicht so sicher, ob wir wirklich ihm angehören“, sagte Leroy da mit einer ruhigen und nachdenklichen Stimme. Dieser Veles, so vermutete er schon lange, war nicht der wahre Schöpfer. Vielmehr schien er ein Naturgott zu sein, der sich in eine Schlange oder einen Drachen verwandeln konnte. Laut fuhr Leory fort: „Für mich klingt es komisch, dass wir alle zu ihm gehören. Aber einige Menschen können ihn sehen, oder zumindest seine Diener, die sich für die meisten Menschen unsichtbar machen.“

      Aviva musste unwillkürlich an die roten Augen im Wald denken. Ihr schauderte. Schnell ergriff sie wieder das Wort: „Die meisten Dorfbewohner haben große Angst vor Veles. Sonst würden sie ihm nicht regelmäßig Opfergaben in den Wald legen. Das ‚kleine Volk‛, so wird seit Generationen erzählt, holt die Gaben ab und bringt sie ihm. Manche im Dorf haben aber keine Angst vor ihm – im Gegenteil, sie kontrollieren andere und sind selbst sehr böse.“ Im Stillen fragte Aviva sich, ob sie überhaupt ein Herz hatten. Vielleicht war es wie bei Rapo, eingeschlossen im Tausch gegen eine Furcht vertreibende Macht. Dann sprach sie weiter:

      „Es scheint so, als ob Veles jeden Fehler findet, den man begangen hat, und einen dafür bestraft. Es ist, als ob wir Menschen beweisen müssten, dass wir in allem bereit sind, dem Schöpfer zu dienen. Und wenn wir perfekt sind und Veles glauben, wird er uns zu Gott, dem wahren Schöpfer, führen. Wir müssen Prüfungen bestehen. Dann werden wir belohnt.“ Bei diesem Satz stutze Aviva. Obwohl sie lange selbst daran geglaubt hatte, fühlte es sich nicht richtig an. Ihre Brust fühlte sich wieder an wie eingeschnürt und sie begann, schwerer zu atmen.

      Leroy schaute sie für einen Moment von der Seite an und flüsterte beinahe: „Ich weiß, aber die Stimme sagt mir etwas anderes.“

      Aviva glaubte, sich verhört zu haben. Die Stimme? Was meinte Leroy damit? Sie traute sich nicht, genauer nachzufragen, vielleicht meinte er einfach seinen Instinkt. Sie hatte noch nie jemandem erzählt, dass eine geheimnisvolle Stimme zu ihr sprach. Jetzt war auch nicht der richtige Augenblick dafür.

      Aviva erinnerte sich an eine Geschichte, die von den vorbeiziehenden Nomaden erzählt wurde. „Es gibt da noch eine andere Geschichte über einen Schöpfer und ein Wunder, das er gewirkt hat“, begann sie vorsichtig. Sie suchte die richtigen Worte, da sie selbst nicht genau verstanden hatte, um welches Wunder es eigentlich ging. Eine seltsame Ruhe legte sich auf Avivas Gemüt und die Enge in ihrer Brust verschwand.

      Eine Erinnerung stieg in ihrem Geist auf. Es war kalt und windig draußen gewesen. Sie sah sich und ihre Geschwister um den warmen Ofen am Boden sitzen und Bohnen verlesen. Zwei vorbeiziehende Nomaden waren auch im Haus und tauschten gerade mit Großmutter Kala Leder und Kaffeebohnen. Die Kinder wollten alles hören, was gesprochen wurde. Die Neugier auf die Welt außerhalb der Palisaden war groß.

      „Leroy, ich erinnere mich gerade an eine Geschichte, die ich als kleines Kind gehört habe. Die Nomaden waren bei uns zu Besuch und erzählten sie. Sie sagten, dass die Menschen Kruna, den wahren Gott, vergessen haben, weil ihre Gedanken in einem Netz gefangen waren, gefangen von einem mächtigen Herrscher dieser Erde.“ Bei diesen Worten stockte Aviva und ihr kam ein Gedanke: Ich glaube, die Nomaden redeten von Veles.

      Dann fuhr sie fort: „Aber Kruna beschloss, den Menschen zu helfen. Die Nomaden sagten, dass er die Menschen liebt, wie ein Vater seine Kinder liebt. Dass unser wahres inneres Wesen ihm gleicht, weil er uns erschaffen hat und wir dadurch mit ihm verbunden sind. Er glaubt, dass wir im Grunde genommen gut sind und seine Liebe nicht erst verdienen müssen, so wie bei Veles. Darum leidet er auch, wenn er sieht, wie viel Leid die Menschen ertragen müssen. Deshalb hat Kruna den Himmel geöffnet.“

      „Was hat er getan?“, fragte Leroy.

      „Die Nomaden sprachen davon, dass er einen neuen König – Masia soll er heißen – direkt vom Himmel auf die Erde sandte, der etwas Außerordentliches bewirkte. Nur er war so mächtig, es zu tun. Masia soll die gleiche Kraft wie der Schöpfer besitzen, die stärker ist als Veles’ Macht. Welches Wunder er tat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass Großmutter plötzlich unruhig wurde und die Nomaden das Haus verlassen mussten.“

      Leroy hatte ihr aufmerksam zugehört. Da fing Basko, der ihnen vorauslief, auf einmal an zu knurren. Leroy bedeutete Aviva, sich nicht zu bewegen. Plötzlich raschelte es im Busch vor ihnen und ein kleines Pelztier jagte eilig in die hügelige Landschaft davon. „Nur ein Wiesel!“, sagte Leroy erleichtert.

      In der Ferne konnten sie bereits Leroys Schafherde erkennen. Die Tiere standen eng aneinandergedrängt. Etwas weiter hinten sah man die Rinder, die Leroy für Avivas Sippe hütete. In dieser Nacht sah alles friedlich aus. Und doch wusste Aviva von den roten Augen der Schattenwesen, die aus der unsichtbaren Welt in den Wäldern lauernd die Menschen beobachten. Das sind Veles’ Wächter, dachte sie. Im Wald waren die Augen in Gruppen zu erkennen gewesen. Die Gestalten selbst waren nie zu sehen, nur dunkle Umrisse. Auch wenn man sie nicht sah, wusste Aviva, dass sie da waren und hatte das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen. Doch hier, auf dem offenen Land, war es anders.

      Endlich waren sie an Leroys Lagerplatz angekommen. Aviva erkannte die Stelle wieder, wo sie sich am Morgen getroffen hatten. Es kam ihr vor, als ob seitdem eine Ewigkeit vergangen wäre.

      „Leg dich jetzt schlafen.“ Leroy deutete auf Felle, die am Boden lagen. „Basko wird diese Nacht bei dir bleiben.“ Er griff in seine Seitentasche und holte in Stoff gewickelten Proviant heraus. „Nimm das, du wirst es auf deiner Reise brauchen. Ich muss zurück, damit die Wache nicht misstrauisch wird. Wenn ich dort bin, werden sie dich diese Nacht nicht bei mir suchen, sofern sie vor dem Morgengrauen feststellen, dass du verschwunden bist. Ich werde unten im Stall schlafen.“

      Aviva kämpfte mit den Tränen. „Wir werden uns wiedersehen“, fügte Leroy hinzu und strich ihr mit seiner Hand über den Kopf. Er beugte sich zu Basko hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann ging er den Weg zurück.

      Aviva spürte immer noch seine Hand auf ihrem Haar, als sie ihm nachschaute. Seltsam, dachte sie, wie ein großer Bruder hat er mich behandelt. Sie hatte immer noch seinen Umhang an und war sehr dankbar dafür, denn langsam fröstelte sie. Es war nicht nur die Kälte der Nacht, sondern das, was sie heute alles erlebt und überlebt hatte. Erschöpft ließ sie sich auf die Felle sinken und zog den Umhang noch enger um sich. Basko legte sich neben sie.

      Trotz ihrer Erschöpfung traute Aviva sich nicht, einzuschlafen. Ihre Gedanken wanderten wieder zur letzten Nacht und dem schwarzen Raubtier. Wo ist sie wohl jetzt, die schöne große Katze?

      Aviva fühlte sich wie in einem Traum. Unfassbar, was alles an diesem Tag geschehen war. Wie ist es möglich, so viele und so verschiedene Abenteuer an einem Tag zu durchleben? In ihr wirbelten die Gefühle durcheinander. Sie empfand große Freude, denn sie war frei – frei von Rapo, frei von der Unterdrückung und frei davon, nichts wert zu sein. Dann jedoch musste sie an die Verurteilung und die Misshandlungen denken. Sie hatte die Schläge der Männer nicht wirklich gespürt. Umso mehr jetzt, wo es still um sie war. Ihr ganzer Körper tat weh. Bei der kleinsten Bewegung durchzuckte sie ein Schmerz, der ihr den Atem nahm. Ihr Rücken war sicher voller blauer Flecken und Striemen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie endlich eine erträgliche Liegeposition eingenommen hatte.

      Als Nächstes kamen ihr ihre Geschwister in den Sinn. Eine tiefe Traurigkeit holte sie ein, als sie an Gora, Jada und Salin dachte. Sie hatte niemanden, an den sie sich halten konnte, niemanden, der für sie sorgte oder für den sie sorgen konnte. Der Kummer wurde immer stärker und drückte heftig gegen ihren Brustkorb, sodass sie einen schmerzhaften Riss in ihrem Herzen verspürte. Die Hitze im Brustkorb breitete sich aus, es brannte, tief im Inneren spürte sie einen fast unerträglichen Schmerz, als wenn ihr ein Glied abgerissen worden wäre. So war es auch, der letzte Faden ihrer Bindung zur Sippe war gerissen. Avivas Finger krallten sich in den Umhang, als ein heftiges Schluchzen

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