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was in Stein gemeißelt noch heute dransteht. Ein schöner gelber Klinkerbau mit großen Doppelfenstern und einer Turnhalle.

      Es gab auch schon eine bunte Zuckertüte mit Inhalt. Auch eine kleine Feier, bei welcher die Schuldirektorin, ein Fräulein, uns Kinder beglückwünschte, dass wir jetzt in den Kreis der Schulkinder aufgenommen würden. Danach stellte sie den Neulingen ihre zukünftige Klassenlehrerin vor, ein Fräulein … Damals waren viele Lehrerinnen aus alten Zeiten, wo diese noch unverheiratet sein mussten, angestellt. Jedenfalls war die Klassenlehrerin Konrads sehr freundlich. Auch sie redete ein paar Worte und die Feier war beendet. Am kommenden Montag sollte es losgehen, der erste Schultag.

      Vorerst ließ sich Konrad erst einmal den Inhalt der Zuckertüte schmecken. Im engsten Familienkreis fand dann auch eine kleine Feier statt. Oma und Opa väterlicherseits waren auch aus der Nachbarstadt, der Geburtsstadt von Konrads Vater, rübergekommen. Meist war es umgekehrt, Konrads Familie besuchte regelmäßig, meist an Sonntagen die Großeltern. Diese wohnten in einem der dreckigsten Orte Deutschlands, einem Industriemoloch. Hier war fast die gesamte Chemieindustrie der DDR ansässig, welche natürlich aus der Vorkriegszeit stammte, nach Kriegsende von den Russen demontiert und anschließend unter russischer Führung wieder aufgebaut wurde.

      Wenn man mit dem Zug in diesem Ort ankam, empfing einen eine gestankgeschwängerte dicke Luft. Kleine Kohlepartikel flogen durch die Luft und vor allem in die Augen der Menschen. Diese Partikel sorgten dafür, dass die ganze Stadt schwarz war. Alle Häuser, Straßen, Plätze – alles war schwarz, einschließlich der Menschen, die dort lebten, wie Konrads Großeltern. Sein Vater wurde hier geboren, in der Wohnung, wo die Großeltern noch wohnten. Die Wohnung befand sich in einem hässlichen Nebengebäude auf dem Hof eines an der Straße stehenden, recht ansehnlichen Wohn- und Geschäftshauses, in welchem die Grundstückseigentümer, die auch ein Ladengeschäft betrieben, wohnten.

      Eine steile Treppe, mehr Hühnerleiter als Treppe, führte zu dieser Wohnung. Sie bestand aus einem winzigen Korridor, einer kleinen Küche von zirka sechs Quadratmetern, einem Wohnzimmer von zirka vierzehn Quadratmetern und einer Schlafkammer, in welcher die Betten der Großeltern hintereinander standen, so schmal war das Zimmer. Die gesamte Wohnung hatte vielleicht eine Grundfläche von dreißig Quadratmetern. Zu dieser Zeit wohnte noch die jüngste Schwester von Konrads Vater bei ihren Eltern. Der Großvater war Schichtarbeiter im Kraftwerk, sodass seine Tochter abwechselnd in seinem Bett oder auf dem alten Sofa schlafen musste.

      Auch sie war im Schichtbetrieb in der Chemie beschäftigt. Die Oma war behindert, sie hatte eine schwere Verletzung am Bein erlitten und hinkte jetzt ziemlich stark. Sie war Hausfrau und damit die wichtigste Person in der Familie, alles hörte auf ihr Kommando, auch ihr Ehemann. Obwohl sie kaum aus ihrer Wohnung kam, war sie auf dem Hof, wo nur arme Arbeiter wohnten, eine Respektsperson. Die Kommunikation wurde über das Küchenfenster geführt, irgendeiner war immer bereit, entweder einzukaufen, sonstige Wege zu erledigen oder Kohlen hochzutragen. Die jüngste Tochter machte nicht viel, sie saß bloß immer da und rauchte, dabei stieß sie den Qualm immer aus den Nasenlöchern aus, wie ein schnaubendes Pferd. Das empfand Konrad als richtig eklig. Auch sonst fürchtete er sich vor ihr. Sie schaute immer böse und sprach mit Konrad kaum ein Wort, wenn er zu Besuch bei der Oma war. Die ersten Jahre mit Eltern und Geschwistern, später dann allein.

      Zu Familienfeiern fanden sich auch die übrigen Verwandten, das heißt Konrads weitere Tante mit ihrem Ehemann und deren zwei Söhnen, also Konrads Cousins. Einer war schon fast erwachsen, der andere war etwas jünger als Konrad. Am Tisch herrschte Disziplin, da wurde nicht gequatscht oder rumgealbert beim Essen. Nur die Erwachsenen durften manchmal etwas sagen. Es war ja meist der Kaffeetisch an dem man saß. Erst wenn der trockene Streuselkuchen aufgegessen und der Malzkaffee ausgetrunken war, durften die Kinder aufstehen und hinunter auf den Hof gehen. Nur hier konnten sie sich etwas lockerer bewegen und unterhalten.

      Auf dem Hof befanden sich auch die Klosetts für die Bewohner der Nebengebäude. Es gab schon Wasserklosetts, allerdings mit dem Eimer, den man an dem einzigen Wasserhahn füllen musste.

      Sonst war der Hof der blanke Kohlenhof, völlig schwarze Erde, kein Pflaster. Wehe es fiel einer beim Haschespielen hin, der musste anschließend in die Vollreinigung an den Wasserhahn im Klo. Da kamen auch dauernd andere, die mal mussten. Dementsprechend waren auch die Düfte in diesem Haus. Als Kind sieht man das alles nicht so verbissen. Alle waren froh, dass sie den Fittichen der gestrengen Oma für eine Weile entgangen waren. Wenn die Abendbrotzeit heran war, hieß es wieder strammsitzen. Konrad war immer froh, wenn die Familienfeiern vorbei waren und alle nach Hause fuhren.

      Die Zugstrecke führte an dem riesigen Kohletagebau entlang und das war für Konrad wahnsinnig interessant. Es war auf der Heimfahrt meist schon dunkel, auch im Zug gab es kein Licht, somit konnte man das Schauspiel der tausend Lichter im Tagebau sehen, wie es blitzte, wenn die Züge der Grubenbahn fuhren, wie die riesigen Kettenbagger arbeiteten, eine andere Welt tat sich auf. Viel zu schnell war der Zug an dem Schauspiel vorbeigefahren, bis zum nächsten Mal, freute sich Konrad, dann wurde es finster, draußen und drinnen im Waggon. Erst die spärlichen Lampen am Bahnsteig des Heimatbahnhofs brachten wieder etwas Licht. Der Zug hielt und sie waren wieder zu Hause.

      Als Konrad sechs Jahre alt war, fuhr er das erste Mal allein nach Bitterfeld. Mit den entsprechenden Unterweisungen und etwas Geld, entließ die Mutter Konrad zu seiner ersten großen Reise. In der Bahnhofsvorhalle waren immer viele Leute versammelt, die entweder zur Arbeit oder zum Einkaufen in die nahegelegene Bezirkshauptstadt fahren wollten. Konrad wollte in die andere Richtung, in den Industriemoloch. Um eine Fahrkarte zu kaufen, musste er sich in eine Schlange einreihen, denn ohne Anstellen ging in der DDR überhaupt nichts. Nachdem er seine Hin- und Rückfahrkarte erworben hatte, war noch viel Zeit, bis der Zug abfahren sollte. Immer mehr Leute versammelten sich in der Bahnhofshallte. Es roch verstärkt nach Chemie, ein Geruch, den die Chemiearbeiter niemals loswurden. Alles stank nach Chemie: die Menschen, die Bahnhöfe, die Züge und auch die Wohnungen, wie auch die von Konrads Großeltern.

      Konrad hatte Zeit, die Menschen zu betrachten. Die meisten Chemiearbeiter konnte man nicht nur am Geruch, sondern auch an ihren grauen Gesichtern erkennen, die genauso waren wie ihre Klamotten. Die Männer trugen meist eine sogenannte Joppe, ein Zwischending zwischen Mantel und Jacke. Sie hatte schräge Taschen, in die die Männer ihre Hände verpacken konnten und gleichzeitig ihre zusammengefaltete Essentasche unter den Arm klemmen konnten. Auf dem Kopf trugen sie meist eine Schirmmütze, die sogenannte „Ernst-Thälmann-Mütze“. Das war die Einheitskleidung der Arbeiter in der DDR und alle waren Arbeiter, auch die Intelligenzler, so nannte man die Studierten.

      Plötzlich erschien ein Eisenbahner auf der Bildfläche, begab sich in eins der Häuschen der Sperre und ließ, bei Kontrolle der Fahrkarten, jeden Einzelnen den Bahnsteig betreten. Und das dauerte, wieder eine Schlange, dachte Konrad, dessen Aufregung sich immer mehr steigerte. ‚Der Zug fährt auf Bahnsteig zwei‘, hatte die Mutter gesagt. Da konnte nichts schiefgehen, die Zeit für den Zug ab Bahnsteig zwei in Richtung Industriemoloch war ran und er fuhr auch ein. Die stark aus dem Schornstein qualmende Dampflok empfand Konrad als riesengroß. Konrad stand in entsprechendem Abstand von der Bahnsteinkante und ließ Lokomotive und die ersten Waggons an sich vorbeirollen, bis der Zug zum Stehen kam. Die Türen flogen auf und die Ankommenden, die ihr Ziel erreicht hatten, verließen ihn.

      Die Eisenbahnwaggons waren noch aus Kaisers Zeiten, sogenannte Abteilwagen, wo in jedes Abteil von außen einzusteigen war. Drinnen nur Holzbänke, alles nur dritte Klasse – wie Arbeiterklasse, kaum beleuchtet und beheizt. Außen befanden sich lange Trittbretter, auf denen die Menschen, direkt nach dem Krieg, während der Fahrt standen, da alle Züge wahnsinnig überfüllt waren; auch auf den Dächern und dem Tender der Lokomotive saßen sie. Konrad konnte das immer vom Klofenster seines Hauses beobachten, wenn so ein dichtbesetzter Personenzug Richtung Westen vorbeifuhr. Damals wusste er noch nicht, dass dies meist aus ihrer Heimat vertriebene Deutsche waren.

      Konrad war ins Zugabteil geklettert und hatte sich einen günstigen Stehplatz an einem Fenster gesichert. Das Abteil war voll, die Türen knallten zu und der Zug fuhr ab. Die Lokomotive schnaufte, dicke Qualmwolken zogen an Konrads Fenster vorbei und der Zug wurde immer schneller. Die Welt bewegte sich vor dem Fenster, ähnlich wie wenn er auf dem Gepäckträger von Mutters Fahrrad saß, nur viel schneller.

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