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auf meinem Dekolleté, in Richtung Nachtschrank, wo meine Tasse stand, nahm sie und trank einen Schluck Tee. Das Kind war völlig still und lauschte, wie die Flüssigkeit durch meine Kehle rann. »So arbeiteten sie denn stumm nebeneinanderher. Doch dabei ging so viel schief, dass sie notgedrungen miteinander reden und zusammenarbeiten mussten«, fuhr ich dann fort.

      »H-Haben sie sich d-da scho-schon verliebt?«, unterbrach Lina mich.

      »Vielleicht der Prinz, die Prinzessin war noch zu zornig.«

      »W-Warum w-war sie zornig?«, fragte Lina und hielt den Atem an.

      Ich wusste genau, dass sie viel mehr verstand, als sie vorgab. »Weil er ihr früher oft wehgetan hatte. Sie hatten immer viel Streit.«

      »Aber s-s-sie h-hat es sich n-n-nich’ gefallen lassen!«

      »Nein, das hat sie nicht. Sie hatte nie Bange, ihm die Nase zu brechen. Dreimal oder so. Seine Nase war schrecklich schief.«

      »War er tr-trotzdem h-hübsch?«

      »Leider ja, er war ein wahrer Schönling. Und bald lernte ihn die Prinzessin auch von einer anderen Seite kennen. Als er sie das erste Mal anlächelte, spürte sie, dass er sie ganz tief im Herzen eigentlich mochte.«

      »Und dann?«, fragte Lina gespannt, obwohl sie die Geschichte schon so oft gehört hatte.

      »Als beide wieder in die Schule gingen und in ihre eigenen Königreiche zurückgekehrt waren, verschwand das Lächeln des Prinzen. Er schien alles vergessen zu haben. Und doch merkte die Prinzessin, wie oft sie an ihn dachte. Sie litt ganz furchtbar und vertraute sich ihrer Freundin an, die aber reagierte böse. Sie hatte kein Verständnis für den Kummer der Prinzessin, denn sie war noch nie verliebt gewesen. Der Gedanke, dass ihre Prinzessin diesen dummen, bösen Prinzen liebte, schürte ihre Wut und bereitete ihr Angst. Sie sah sich umso mehr bemüßigt, die Prinzessin von ihm fernzuhalten und ihn zu beobachten. Doch dann bemerkte sie, dass er der Prinzessin ebenso verstohlene Blicke schenkte, dass sich etwas an ihm verändert hatte. Aber er verließ sein Königreich niemals.«

      Lina atmete aufgeregt.

      »Die Prinzessin hütete ihre Liebe wie ein Geheimnis, liebte und hasste den Prinzen gleichzeitig – und sich selbst auch, weil sie immerzu an ihn denken musste. Nie mehr vertraute sie sich ihrer Freundin oder irgendjemand anderem an, weil sie wusste, dass sie nur harte Worte ernten würde. Die Jahre vergingen, und als die Kinder die Schule verließen, hoffte die Prinzessin, endlich von dem Prinzen loszukommen, weil sie ihn von nun an nie wiedersehen würde. Beide würden in ihren Königreichen bleiben, und sie würde in einem anderen Land einen Prinzen finden, der sie verdiente, dachte sie sich. Doch eines Tages stand der Naziprinz plötzlich vor ihr.«

      Das Wort Nazi war mir rausgerutscht. Ich hoffte, Lina würde denken, dass ich es nur mit dem Wort Narzisst verwechselt hätte. Aber natürlich war mir klar, dass sie keinesfalls so blöd sein konnte. Ich tat, als wäre nichts geschehen, und fuhr, ohne zu unterbrechen, fort.

      »Sie hatte Todesangst, aber dann sah sie, dass er allein gekommen war. Er trug auch keine Rüstung. Er sagte ihr, wie sehr er sie liebe, wie schön er sie schon immer gefunden habe und wie leid ihm alles täte. Sie machte den Fehler, ihm auch zu gestehen, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Dabei hätte sie wissen müssen, dass er nicht bereit war, sein Königreich zu verlassen. Doch sie war geblendet von ihrer Liebe und traf sich von da an heimlich mit ihm. Waren sie allein, so war alles anders. Er machte ihr Versprechungen, flüsterte ihr liebe Worte zu, und sie begehrte ihn, obwohl sie wusste, dass er nach ihrem Treffen wieder seine Rüstung anlegen würde, um ihresgleichen zu bekämpfen. Die Prinzessin war so verliebt – und so allein mit diesem Geheimnis. Irgendwann spürte sie, dass sie ein Kind des Prinzen unter ihrem Herzen trug. Nun konnte sie nicht anders, als panisch ihre Freundin anzurufen, die von allem zwar nichts wusste, aber dennoch ahnte, dass sich die Prinzessin verändert hatte. Sie ging zu der Prinzessin, und trotz ihrer Angst nahm sie sie in die Arme und tröstete sie. Nie wieder sagte sie ein böses Wort über die Liebe der Prinzessin für den dummen Prinzen. Immer wollte sie bei ihr sein und alles tun, damit ihr Herz genese. Die Prinzessin entschied, das Kind zu bekommen, und in dem Moment, als ihre Freundin ihr versprach, immer an ihrer Seite zu bleiben, verflog all ihre Angst. Sie entschied auch, dass sie den Prinzen nicht wiedersehen wollte. Er war so dumm. Er hatte weder sie noch das Kind verdient.«

      »Aber es ist doch a-auch s-sein Kind«, sagte Lina.

      »Es ist auch sein Kind, das stimmt.«

      »Es ist u-ungerecht.«

      »Das mag sein.«

      »W-Weiß der Prinz v-von dem Kind?« Ich hörte Linas Herz schlagen.

      »Nein«, antwortete ich, »aber die Prinzessin kam mit der Hilfe ihrer eigenen Untertanen, ihrer Mutter und ihrer Freundin ohne den Prinzen zurecht und wollte es auch dabei belassen. Sie alle gaben dem Kind so viel Liebe, wie sie konnten, und schirmten es gegen das feindliche Königreich ab, bis es stark genug wurde, selbst Nasen zu brechen. Denn das Wichtigste war, dass das Kind ein Kind der Liebe war, in Liebe empfangen und geboren und von Liebe umgeben.«

      »U-Und die Prinzessin h-hat den Pr-Prinzen nie w-wieder gesehen?«

      »Von seiner hundertsten Schlacht kam er nicht wieder nach Hause. Die Prinzessin hörte, dass er eingesperrt worden war, und seitdem hat sie ihn nicht mehr gesehen.«

      »Vielleicht k-kommt er w-wieder, um das Kind zu holen«, murmelte Lina ängstlich.

      »Bestimmt nicht. Außerdem werden es alle beschützen!«

      »Alle?«

      »Ja …«, antwortete ich und drückte Lina ganz fest an mich, »… alle!«

      Am folgenden Sonntag pellte ich mich schon um sieben Uhr aus dem Bett, vorsichtig, ohne Lina zu wecken. Dann schlüpfte ich in meine schweinchenrosa Jogginghose mit dem Berlin-Schriftzug und in ein besonderes Shirt.

      In der Küche rührte ich für Lina ein Frühstück aus Müsli, Nüssen und Quark an, in das ich noch Bananen- und Erdbeerwürfel schnippelte, bevor ich es für sie in unserem Privatkühlschrank bereitstellte. Für mich gab es nur Kaffee und ein weiches Toast, während ich die Platten mit den veganen Fruchttörtchen aus dem großen Kühlschrank holte und all mein kreatives Können aufwandte, um sie zu verzieren. Sie sahen so toll aus, dass ich ein Foto für unsere Website machte. Dann verstaute ich die Platten in unsere Transportboxen, stellte sie vorsichtig auf unser Vehikel und rollerte damit langsam zum Auto, einem weinroten Kastenwagen, etwas angestoßen und mit kleinen Rostflecken, aber mit der schönsten Beschriftung, die es gab. Lina hatte einen ganzen Nachmittag gebraucht, um den Namen unseres Unternehmens mit Telefonnummer und E-Mail-Adresse in kunterbunter Schnörkelschrift auf den Schiebetüren zu verewigen.

      Ich hatte eine lange Fahrt vor mir und wollte sachte fahren – die Törtchen mussten aus persönlichen Gründen unversehrt ankommen und perfekt aussehen. Meine Route verlief über die Allee der Kosmonauten zur Märkischen Allee, dann quer durch die Innenstadt, vorbei am Großen Stern, und über die Heerstraße, bis es um mich herum wieder grün wurde. Im Seitenfach klemmte eine halbvolle Flasche Club Mate. Die von der Nacht eiskalte Flüssigkeit rann meine Kehle hinunter und entfachte in meinem Magen ihre aufputschende Zauberkraft. Die ganze Fahrt über war ich hellwach und euphorisch. Die Havel glitzerte in der Morgensonne, und der Tag versprach, für Ende September sehr warm zu werden. Ich ließ das Fenster herunter und schnupperte frische Luft. Gatow hatte wirklich wunderschöne Ecken. Vorsichtig kroch ich mit dem Auto über die engen Straßen mit Kopfsteinpflaster. In der Innenstadt hatte ich vornehmlich Klubheimkehrer angetroffen und laut Musik gehört. Hier waren schon die ersten Siebzig-plus-Spaziergänger unterwegs, ich stellte die Mucke komplett ab. Die Hände auf dem Rücken verschränkt und meist in eine beigefarbene Jacke gekleidet, traten die Leutchen an den Straßenrand, um meinen Wagen durchzulassen. Ich nickte zum Dank. Endlich bog ich in meinen Zielweg ein und fuhr fast bis zum Ende. Ich stellte mich rückwärts vor eine Einfahrt und stieg aus.

      Zuallererst öffnete ich die Ladetür und sah nach den Törtchen: Alles perfekt. In mir glomm ein Gefühl von Genugtuung auf, dann hörte

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