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keine unangenehme Stille, er erzählte einfach ungern von sich, lauschte dafür aber umso gebannter Pamis Ausführungen über den Alltag – über Kunden, Sonderwünsche, volle Straßen, Supermärkte und Angebote für Kokosmilch in Dosen. Lucrecia stand ihr mit Rat und Tat zur Seite, ihre Brüder stichelten etwas gegen ihre große, selbstständige Schwester, und ich unterhielt mich mit der kleinen Schwester über die Schule. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt geworden und fand Jungs doof.

      »Halt diesen Zustand fest, solange du kannst!« Ich lachte. »Es macht alles sehr viel einfacher.«

      Wie so oft durfte ich nach dem Essen nicht beim Abwasch helfen, sondern ging mit Rhys auf den Balkon, um zu rauchen. Er setzte sich mühsam auf den Plastikstuhl und streckte sein lahmes Bein aus.

      Rhys war fast zwei Meter groß und arbeitete die ganze Woche auf dem Bau, dementsprechend ramponiert war sein Rücken. Seit ein paar Jahren ging er etwas krumm. Nur wenn Lucrecia traurig war, schien er seine Flügel auszubreiten, um ihr darunter Schutz zu gewähren. Vor zehn Jahren wäre er bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen. Ein Rettungssanitäter hatte ihn ins Leben zurückgeholt, ihm bei der Herzdruckmassage aber zwei Rippen gebrochen. Überdies war ein Stück Metall in seinem Bein stecken geblieben, das dann im Krankenhaus entfernt worden war. Seitdem hatte er chronische Schmerzen. Nachdem er sich wieder erholt hatte, hatte er dennoch darauf beharrt, seine Familie mit seinem Job als Bauarbeiter durchzubringen. Lucrecia arbeitete in einem Secondhandladen, als Übersetzerin und seit Rhys’ Unfall ehrenamtlich für das Deutsche Rote Kreuz. Pamis älterer Bruder war Kfz-Mechaniker, der jüngere machte eine Ausbildung zum Drogisten. Der Löwenanteil des Startguthabens für unser Unternehmen kam von den Crusqs.

      Wie immer redeten Rhys und ich in den paar Minuten auf dem Balkon über unser Lieblingsthema: Pami.

      »Isst sie auch gut? Ist sie glücklich?«, fragte er.

      »Sie isst viel gesünder als ich, und sie ist gerade verliebt.«

      »Schön, das ist gut! Kennst du den jungen Mann?«

      »Ich habe ihn ein paarmal getroffen. Ich glaube, er ist sehr nett.«

      »Pamela mit einem Netten?«

      Ich lachte und zog an meiner Zigarette, bevor ich erwiderte: »Wär doch mal was!«

      »Verdient er sein eigenes Geld?«

      »Wenig, aber ja. Er ist etwas jünger als wir.«

      »Wie lange geht das schon?«

      »Seit einem Monat, und sie telefonieren fast jeden Tag. Scheint was Ernstes zu werden. Aber Pami hält sich wie immer alles offen.«

      »Mag Lina ihn denn?«

      »Sie hat ihn erst einmal getroffen. Sie ist aber ganz angetan von ihm, glaube ich.«

      »Wer ist Linas Vater?«, fragte Rhys unvermittelt.

      »Das darf ich dir immer noch nicht sagen, Rhys«, antwortete ich.

      Nicht einmal die kleine Lina kannte den Namen ihres Vaters.

      Am Abend hatte Pami mal wieder ein Date. Seit Lina auf der Welt war, hatte Pami die eine oder andere kürzere Beziehung und einige Affären gehabt. Derzeit war sie aber Single und konzentrierte sich wie ich ganz auf unser Unternehmen. Doch ab und an gönnte sie sich etwas Spaß, wie sie es nannte.

      Gegen achtzehn Uhr gingen Pami, Lina und ich in meine Wohnung. Mutter und Tochter übten noch ein paar Verteidigungsgriffe auf dem Boden des Lagerraums, der früher das Wohnzimmer gewesen war, während ich Linas Bett vorbereitete. Denn wenn ihre Mutter unterwegs war, übernachtete sie stets bei mir.

      Mein Zimmer war das einzige, das noch als Wohnraum verwendet wurde. Ich besaß ein französisches Bett, einen Kleiderschrank und ein Sofa – mehr brauchte ich an Möbeln nicht. Neben meinem Schlafzimmer befand sich das Büro, in dem wir auch das Verpackungsmaterial und die Schachteln für die Lieferungen aufbewahrten. Es war dort meist ziemlich unordentlich. Doch wie sagte Einstein? Wenn ein aufgeräumter Schreibtisch für einen aufgeräumten Verstand spricht, wofür spricht dann ein leerer Schreibtisch?

      Dunkles, pflegeleichtes Linoleum lag in der ganzen Wohnung aus, außer in meinem Zimmer – dort hatte ich mir einen flauschigen Teppich gegönnt. Da wir jeden Tag buken, roch die Wohnung immer nach Keksen und kühlte auch im Winter nicht schnell aus.

      Ich zog für Lina einen frischen Bezug auf das Kissen und suchte eine leichte Decke heraus. Mutter und Tochter hatten ihre Kabbeleien beendet, drückten sich fest zum Abschied und wünschten sich eine gute Nacht.

      »Worauf hast du Lust?«, fragte ich die Kleine, als es um eine Abendbeschäftigung ging.

      »DVD und P-Popcorn!«

      Ich schmierte auch noch ein paar Schnitten, verzierte sie mit Gurken und Möhrchen und kochte eine große Kanne Früchtetee. Wir nahmen alles mit zu dem kleinen Sofa in meinem Schlafzimmer, ich legte ihren Lieblingsfilm Merida in den Laptop, und dann lümmelten wir fröhlich vor uns hin. Lina verschlang mehr von den belegten Broten als ich. Sie hatte die Verzierung mit »Du k-kannst es ni-nich’ lassen, was?« kommentiert. Zuerst dachte ich, sie mochte sie nicht, doch an Appetit mangelte es dem Kind nicht. Schon bei den Crusqs hatte sie ordentlich reingehauen, nun labte sie sich am Popcorn und den Häppchen.

      Als der Film zu Ende war, bekam ich eine Standortmitteilung von Pami, was zugleich eine Bestätigung war, dass alles gut verlief. Der Typ hatte sie ins Hotel Kastanienhof in Prenzlauer Berg eingeladen. Sofort schrillten meine Alarmglocken. Warum ging er mit ihr nicht zu sich? Hatte er etwas zu verbergen, eine feste Freundin und fünf uneheliche Kinder, die zu Hause auf ihn warteten, zum Beispiel? Ich zwang mich zur Ruhe. Gewiss wohnte er in einer WG und wollte Pami und sich die nötige Privatsphäre gönnen. Ach ja, es musste schön sein, so begehrt zu werden!

      Lina kam im Schlafanzug und mit geputzten Zähnen aus dem Bad und fragte schüchtern: »Du, A-Aili, d-darf ich n-n-n-nicht lieber b-bei dir schlafen?«

      »Wenn du möchtest. Aber ich dachte, du kommst jetzt in das Alter, wo das uncool wird«, antwortete ich mit einem Lächeln.

      »Ich s-s-sag d-dir, w-wenn es u-uncool wird!«, erwiderte Lina trotz des Stotterns gekonnt schnippisch und nahm sich ihr Bettzeug von der Lehne des Sofas, um es neben meines zu legen. Dann kletterte sie hinterher.

      »Ich muss noch mal ins Büro, ich komme später kuscheln!«, sagte ich und hob den Laptop hoch.

      »W-Warte! B-bleibst du ein bisschen u-und erzählst mir ’n-ne G-Gutenachtgeschichte?«

      Oh, dachte ich, es wird wohl wirklich noch dauern, bis meine Gesellschaft uncool wird. Ich setzte den Laptop wieder ab, löschte das Licht, schlüpfte zu Lina ins Bett und strich ihr über die Stirn. Aus dem Büro schien die Schreibtischlampe schwach bis zu uns, ansonsten lag der Raum im Düstern. Lina legte ihren Kopf auf meine Brust und ich den Arm um ihren zierlichen Körper. Wie zerbrechlich sie mir in dem Moment vorkam! Ganz anders, als wenn ich sie dabei beobachtete, wie sie den Sprungkick übte oder ohne Probleme die große Kletterspinne am Bürgerpark Marzahn erklomm.

      Wir schwiegen eine Weile, ehe ich sie leise in die Dunkelheit hinein fragte: »Welche Geschichte denn?«

      »Die von dem Narzissten und der Prinzessin.«

      Ich glaube, ihr selbst war nicht aufgefallen, dass sie nicht gestottert hatte. Ich schluckte unmerklich, das Kind sollte meine Beklemmung nicht mitbekommen.

      »Es gab einmal eine tapfere Prinzessin. Sie war klug, witzig und treu, und alle hatten sie lieb. Doch das benachbarte Königreich war voller Dummköpfe, die immer blöde Fragen stellten, ohne die Antworten abzuwarten. Der Prinz dieses Landes war ebenso ein Dummkopf, geblendet durch jahrelange Reden, die seinen Hass auf das schürten, was er nicht kannte. Doch die beiden Königreiche hatten eines gemeinsam: Für ein paar Wochen im Jahr schickten sie ihre Kinder nicht in die Schule, sondern zu einer Arbeit in einem fernen Land, auf dass sie den Ernst des Lebens kennenlernten. Auch die Prinzessin und der Prinz waren davor nicht gefeit, und sie freuten sich schon darauf. Bald erfuhren sie jedoch, dass sie beide zur selben Arbeitsstätte geschickt wurden. Ihre dortige Betreuerin

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