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einmal die Oberliga wird als Ziel reklamiert. »Keiner will arrogant wirken«. Der Kursleiter ist stolz »auf den Charakter der jungen Männer«, auf die »Mischung aus Bescheidenheit und Höflichkeit«. Einem 21-Jährigen, in seinem Kreis zum »Schiedsrichter des Jahres« gewählt, schärft der Kursleiter beiläufig ein: »Geh vernünftig mit der Ehrung um.«

      Ob beim Aufbaulehrgang B jemand anwesend ist, der es jemals zum »Schiedsrichter des Jahres« gebracht hat, habe ich mich zu erkundigen versäumt. Wir sind inzwischen bei strahlendem Sonnenschein rausgefahren zum Sportplatz, jeder außer mir hat den Cooper-Test und ein paar Sprints mit Zeitlimit hinter sich gebracht. Das Wetter ist so verführerisch, dass ich während des Ausflugs träge lediglich eine einzige Bemerkung notiere: »Für die Bonbons quält man sich hier«. Tage später erst suche ich wenigstens die Fakten, Fakten, Fakten der Leistungsprüfung heraus. Bei dem nach Aerobic-Guru Dr. Kenneth Cooper benannten Test sind 2700 Meter in 12 Minuten zu laufen, 200 Meter in 32 Sekunden und 50 Meter unter 7 Sekunden zu schaffen.

      »Wer langsamer ist, kann seine Sachen packen und, zwei Stunden nachdem er angekommen ist, wieder nach Hause fahren«, werde ich in der Zeit über die Atmosphäre beim Förderlehrgang lesen. So genau, scheint mir, wird es beim Aufbaulehrgang nicht genommen. Auf ein paar Meter oder Sekunden kommt es nicht an. Wer scheitert, darf demnächst nachbessern.

      Zurück im Seminarraum widmen wir uns endlich der Regel 12. Herr Kopf lässt erstmal Gruppen bilden. Es geht um die Unterrichtseinheit »Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen«, ich sagte das bereits. Gruppenarbeit also. Ich schlendere von Tisch zu Tisch, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, schaue, höre und staune, wie die Gruppen sich dem Diskurs über die Regel 12 widmen, über das feingewebte Spezialvokabular, bei dem sich jeder des Jargons nicht Mächtige töricht vorkommt, staune, wie kompliziert die Materie ist, anschließend Vorstellung der Arbeitsergebnisse, Flipchart, Folien, Powerpoint sind einsatzbereit, logo. Ich erwähne jetzt nur das Stichwort »Kontaktvergehen« und die Frage, wann aus »gefährlichem Spiel« ein »verbotenes Spiel« wird, und gebe zu bedenken, dass bis vor einiger Zeit »Einleitungsvergehen« und »Kontaktvergehen« unterschieden wurden, jetzt aber nicht mehr, so jedenfalls hab ich es notiert. Zwei Blockseiten weiter stoße endlich wieder auf das gute alte »Fingerspitzengefühl« und lese, dass es, so der Schiedsrichter es als Argument verwendet, mit einer »Regelbeugung« gleichzusetzen ist, besser sei, es durch »Ermessensspielraum« zu ersetzen, »ein sehr guter Vorschlag«, sagt Seminarleiter Kopf. Er sagt auch, wer im Spielbericht den Begriff »Absicht« benutzt, ohne dass es um ein »Handspiel« geht, »der begibt sich juristisch auf dünnes Eis«, und zwischen »Ermahnung« und »Aufforderung« muss man differenzieren, die »Ermahnung« zählt nicht zu den »persönlichen Strafen«, also jetzt »von der Begrifflichkeit her«, und »scharfes Ansprechen bei der Mauerbildung« sei noch keine »Ermahnung«, sondern eine »Aufforderung«, oder umgekehrt – die Zeile ist unleserlich – und »wenn du jemanden aufforderst, auf Distanz zu gehen und er macht das nicht, dann musst du unweigerlich die gelbe Karte zeigen«. – So oder so ähnlich ist es gewesen.

      Am Abend dann der Vortrag von Thorsten Schriever, der natürlich keinen Vortrag hält, sondern zurückhaltend plaudert in einer Mischung aus Bescheidenheit und Höflichkeit, keine Spur arrogant, so wie es gewünscht wird, mich verlassen leider die letzten Reste des Konzentrationsvermögens, bin müde, schreibe pflichtschuldigst ein paar Satzfesten auf, dazu langt es noch, Schriever erzählt von dem Spiel, als Reimann ihn anging, davon, wie »die Medien« auf ihn einstürmten, ihn drangsalierten, wie anstrengend das war, eigentlich habe man ja dann das Bedürfnis, »dass man dich in Ruhe lässt«, aber man absolviere ja auch »Verhaltensschulung«, erzählt vom »Stress« und davon, »auf wieviel Feldern man angreifbar« sei. Bei einigen Teilnehmern ist eine Spur Verehrung oder Stolz zu spüren gegenüber einem, der es geschafft hat, aber man duzt sich selbstverständlich, Sportskameraden, man ist aus demselben Holz, man gehört gewissermaßen zusammen, ist eine Solidargemeinschaft, der mediale Glanz strahlt bis hierher, man tut ja das gleiche. – Ob Schriever ein Vorbild hat? Es gebe »Leute, die siehst du gern, du kannst aber keinen kopieren, du musst deine eigene Linie finden«, Sätze, die wie formatiert klingen, aufgesagt, weitere Sätze bleiben hängen, »wie kann ich Situationen lösen, dass sie jeder versteht und ich gut dabei herauskomme« und »die Konzentration sei ja da, dass du da sauber rauskommst, dass der Schiedsrichter kein Thema ist hinterher«. Die Coaches erwähnt Schriever und wie man nachher die Videokassette von Premiere anschaut und das Spiel analysiert. Wie man die höheren Stufen erklimmt, muss etwas von einem Dressurakt haben, denke ich später, sowas muss man mögen, brauche ich vielleicht auch einen Coach?

      Abends in der Sportschulenwirtschaft. Hopfenkaltschale. Das Fernsehen in der Ecke überträgt irgend ein Pokalspiel. Ich bin wirklich groggy, möchte los, ein Bier kann ich mir vor der Rückfahrt erlauben. Um morgen wiederzukommen? Übermorgen dem »Gesprächskreis zur Gewaltprävention« lauschen? Ich erlaube mir ein zweites Bier, lausche im Halbdämmer, notiere dies und das, Bruchstücke. Als ich mich auf den Weg machen will, sind noch zwei Tische besetzt. An dem einen bleibe ich hängen. Matt genug, um plötzlich tollkühn zu werden, die Vorsicht schlummert längst, frage ich, was sie von dem Titel des Buches halten, den der Verleger favorisiert: »Die schwarze Sau«? – Der eine gähnt, der nächste sagt, das habe sein Opa immer gerufen. Der dritte sagt: »Okay, kann man machen. Aber korrekt müsste es heißen ›Die kunterbunte Sau und zweiundzwanzig Betrüger‹!« Darüber werde ich nachdenken. Aber nicht mehr heute. Der Recherchenmacher ist erledigt. Ich fahre nach Hause. Nickerchen machen.

      »Das beharrlichste Merkmal im Niedergang befindlicher Zivilisationen ist ihre Tendenz zur Standardisierung und Uniformität.«

       Historiker Arnold J. Toynbee (1889 – 1975)

      »Das Schiedsrichterwesen wartet noch auf seinen Historiker oder seine Historikerin. Denn auf jeden Fall besitzt es eine Geschichte.«

       FIFA 1904 – 2004. 100 Jahre Weltfußball

      Gelegentlich etwas Kugelförmiges zu werfen, zu schlagen, dagegen zu treten, zu fangen oder zu jonglieren – dies Gebaren scheint eine Konstante in der Menschheitsgeschichte zu sein. Solche Konstanten, wie verlässlich rekonstruiert auch immer, sieht der Homo sapiens sapiens gern. Sie vermitteln ihm ein behagliches Gefühl, den Tiefenglanz der Vergangenheit, betten ihn ein in Traditionen. Im Falle des Balls kann man sich unter andren auf die Ägypter, Mayas, Chinesen, Japaner, Azteken, Griechen oder Römer berufen. Wenn sie einen runden oder nahezu runden Gegenstand bewegten, war’s ein Spiel, ein Vergnügen, war’s Ritual oder kultische Handlung, zumeist bestimmten sozialen Gruppen zugeordnet, beschränkt auf lokale Gemeinschaften. Wieviel das mit dem Fußball zu tun hat, so wie wir ihn kennen, sei dahingestellt, ist die falsche Frage.

      Deshalb lassen wir sie auf der Suche nach den Schiedsrichtern beiseite. Wir verzichten auf die folkloristische Visite, erwähnen nur im Vorbeigehen jene mit Federn und Haaren gefüllte Lederkugel, die vor mehr als 2000 Jahren in China mit dem Fuß in ein Netz getreten wird; schlagen einen Bogen um die japanischen Tempelbezirke, wo bei der Kemari-Zeremonie der Ball nicht den Boden berühren darf; wir überspringen das Kalagut, das die Eskimos spielen, das Lapta in Russland und das Hornussen in der Schweiz. Wo bleibt der Schiedsrichter?

      Im Nu überblenden wir zu einem Erinnerungsbild aus der Kindheit. Wer vermisst den Schiedsrichter beim Kick auf der Straße, im Drahtverhau eines Bolzplatzes, auf der Wiese (» ... nicht gestattet«)? »Letzter Mann hält« oder »Fliegender Torwart«? »Drei Ecken ein Elfer« oder ohne Aus an der Torlinie? Man einigt sich rasch, ein paar Absprachen, es kann losgehen. Prallen dennoch zwei Ansichten aufeinander, weil zum Beispiel das Tor nicht durch Pfosten und Querlatte, sondern einen Haufen Kleider gekennzeichnet ist, entscheiden meist die Älteren, ob der Ball drin war oder nicht. Wenn das nichts hilft, wird es laut. Manchmal steigert sich der Streit bis zur Rauferei, die mit blaugeschlagenen Augen, zerdellten Nasen, gebrochenen Schienbeinen, blutenden ... Wo bleibt der Schiedsrichter?

      Zunächst begegnen wir dem Maestro di Campo! Einem Mann im schwarzen Rock und mit Halskrause. Er trägt als Zeichen seiner Würde ein Schwert und wacht über den Calcio fiorentino,

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