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und zugleich kein Detail übersehen. Hans Blickensdörfer imaginierte ihn immer als General, der einst auf dem Feldherrrnhügel thronte und das Gemetzel choreografierte. Damals, als der Überblick noch ein Vorrecht der Mächtigen, der Autoritäten war. Das Privileg der Herrscher, Minister, Priester und Richter, derjenigen »die sich auf das ›Auge des Gesetzes‹ berufen« (Macho). Sie wollten alles sehen, aber möglichst nicht gesehen werden. Pessimisten meinen, in der demokratischen Tiefebene und auf dem Fußballplatz sei es gerade umgekehrt.

      Einen Optimisten wie Volker Roth ficht das nicht an. Der Vorsitzende des DFB-Schiedrichterausschusses schwebt grundsätzlich über den Wolken. Jüngst hat er den Unparteiischen zum »Piloten« befördert, der dafür sorgt, dass seine Passagiere, sprich die Mannschaften, sicher »ans Ziel gelangen«. Im richtigen Leben fliegt eine Boeing allerdings meist mit Autopilot. Solange man den Referee nicht auf denselben schalten, also quasi zum »Robocop« umrüsten kann, bleibt er fehlbar und furchtbar einsam. Eben nur ein »Mensch, dem Übermenschliches aufgegeben ist«. Manchmal gelingt seine Mission, dann sehen wir ein tolles Match, manchmal nicht. Dann entschädigt den Referee die Prominenz für all den Unrat, mit dem er auch in diesem Kapitel wieder beworfen wurde.

      Well, you wonder why I always dress in black

      Why you never see bright colors on my back

      And why does my appearance seem to have a somber tone

      Well, there’s a reason for the things that I have on

       Johnny Cash: Man in Black

      »Hefte raus! Klassenarbeit!«– Eben nicht. Matthias Kopf schlägt einen sportskameradschaftlichen Ton an, wie es sich geziemt, wenn man im Vortragsraum der Sportschule Barsinghausen versammelt ist. Sportskameraden aus Gifhorn, Leer, Bad Bentheim, Göttingen, aus allen Teilen Niedersachsens, sind angereist, um einen Aufbaulehrgang für Schiedsrichter zu absolvieren. Was ich hier mache? Es nennt sich Recherche. Ein Ausdruck, der auf Thomas Kapielskis Vorschlag hin auf der ersten Silbe zu betonen ist: Wie »Nickerchen« muss man »Recherchen« sprechen. Ausgerüstet bin ich mit Schreibblock und Kugelschreiber, vorbereitet bin ich nicht. Als Kopf mich vorstellt, sage ich die Wahrheit: Ich sammle Eindrücke für ein Buch über Fußball-Schiedsrichter und beeile mich hinzuzufügen, dass die Idee zu dem Buch lange vor der Affäre Hoyzer entstanden ist.

      Locker erledigt Kopf, Lehrwart aus dem Bezirk Lüneburg, die notwendigen, selbstredend lästigen Formalitäten, ruft Namen für Namen von der Anmeldeliste auf. Bis auf einen sind alle erschienen.

      Ein Aufbaulehrgang ist, wenn ich das richtig verstehe, für jeden Schiedsrichter auf Bezirksebene im Abstand von zwei bis drei Jahren Pflicht. Ein Wochenende muss dafür herhalten. Soweit ist die Ausgangslage sogar für einen Laien wie mich überschaubar. Sobald man die Schulungssystematik des DFB genauer betrachtet, die im übrigen jeder der 21 Landesverbände etwas unterschiedlich gestaltet, gerät der Laie, selbst der recherchierende, in ein Getriebe hinein, das wie ein Paradies für bürokratisch veranlagte Funktionäre wirkt. Ein Paradies der Notwendigkeit? Ja doch, ja, eine Massenorganisation wie das deutsche Schiedsrichterwesen will organisiert sein, es muss alles seine Ordnung haben. Allein in Niedersachsen sind ungefähr 10.000 Schiedsrichter registriert. Sie belegen Anwärterlehrgänge, Jungschiedsrichterlehrgänge, Aufbaulehrgänge A, Aufbaulehrgänge B, Talentlehrgänge, Förderlehrgänge, Leistungslehrgänge oder Spitzenschiedsrichterlehrgänge auf Kreisebene, Bezirksebene oder Verbandsebene. Außerdem veranstaltet der DFB selbst natürlich weitere zahllose Lehrgänge, die er denjenigen angedeihen lässt, die zu Höherem berufen sind.

      Zurück zur Basis-Station. Lehrgangsleiter Kopf bittet die Teilnehmer, sich kurz vorzustellen. In dieser Vorstellungsrunde scheint es üblich, wenn nicht obligatorisch zu sein, das ist mein Eindruck, den Pegelstand, die höchste Klasse zu nennen, in der man Spiele leitet oder als Assistent dabei ist.

      Bald ist ein juveniles Trio an der Reihe. Die Drei eint der Wille, die Leiter noch ein paar Sprossen emporzusteigen. Hinauf bis zur Regionalliga? Oder noch weiter? »Mal seh’n, was noch kommt!«, sagt einer von ihnen kampfeslustig. Er ist 26. Sein Nachbar sagt: »Ich versuche selber weiterzukommen.« Der dritte ist zwanzig: »Habe Einiges vor. Jetzt wird angegriffen.« Den Kontrast verkörpert der Kollege, der jetzt seine Koordinaten bekannt gibt: »Ich bin 36 Jahre alt, Landesliga, ohne Perspektive, höher zu kommen.« Wehmut schwingt mit, ein Hauch Fatalismus. Drei, vier weitere Teilnehmer beschreiben ihren Status mit ähnlichen Worten. Eine unsichtbare Linie, das meint der sensible Reporterdarsteller hautnah zu spüren, trennt die Anwesenden: in diejenigen, die einer verheißungsvollen Zukunft entgegensehen, und diejenigen, denen die Beförderung versagt bleiben wird. Gleicht man die Spielklasse, in der einer pfeift, mit dem Lebensalter ab, kommt das Ergebnis einem Urteil in letzter Instanz gleich, einer Einzelfalldiagnose, deren Ergebnis so eindeutig ist wie ein 5 : 1 oder ein 0 : 4: Pfeil nach oben oder unten. Du hast noch Chancen aufzusteigen oder hast deinen Zenit erreicht. Der eine im Schatten grämt sich, der nächste nimmt’s gelassen.

      Kopf erläutert den Ablauf bis Sonntag. Mit Regel 12 wird man sich näher befassen –»Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen«–, mit den Begriffen »Fingerspitzengefühl« und »Ermessensspielraum«. Später Stehkaffee und danach raus auf den Platz zum Cooper-Test. Im Anschluss ans Abendessen wird Thorsten Schriever erwartet, ein Zweitliga-Schiedsrichter Ende 20, der »von den Leistungen her ganz oben dabei« ist, einer auf dem Sprung, einer, der den Traum von vielen lebt. Ich habe keinen blassen Schimmer, warum jemand in diesem Moment »Reimann!« ruft. Bis ich erfahre, dass Willi Reimann, seinerzeit Trainer von Eintracht Frankfurt, während eines Bundesligaspiels Schriever, den vierten Unparteiischen, umrempelte. Legendäre Geschichte. »Gelten im bezahlten Fußball andere Spielregeln?« ist das Thema, über das Schriever sprechen wird.

      Morgen am Samstag dann der theoretische Test und Fahrt nach Wunstorf, um gemeinsam ein Landesligaspiel zu beobachten. Die Abende werden »bei einer gepflegten Hopfenkaltschale« ausklingen. Und wenn Zeit übrig ist am Sonntag, wird es noch einen »Gesprächskreis zum Thema Gewaltprävention« geben: »Je nach dem, kucken wir mal.«

      Über die Maßgaben einer Schiedsrichter-Karriere habe ich im Internet-Archiv der Pinneberger Zeitung gelesen, der man eine prophetische Gabe attestieren muss. Das Blatt antizipierte den Hoyzer-Skandal, als es im Mai 2004 unter der Überschrift »Verdirbt Geld die Schiedsrichter?« ein Interview mit Wilfried Diekert aus Appen druckte, dem Vorsitzenden des Verbands-Schiedsrichter-Ausschusses in Hamburg.

      Ob denn der Konkurrenzkampf unter den Schiedsrichtern, fragt der Journalist, »genauso erbarmungslos« sei wie der unter den Fußballern: »Zwischen den ehrgeizigen Jungen, die ganz nach oben wollen, auf jeden Fall«, lautet die Antwort. Ob es stimme, dass »unerfahrene, ehrgeizige Streber bei den Amateuren«, die »an die Fleischtöpfe in den Eliteklassen« wollen, für »immer mehr Zoff und Ärger« sorgten? Das bekomme er in der Tat immer häufiger zu hören, stimmt Diekert zu: »Aber man kann wirklich nicht sagen, das Geld verderbe die Schiedsrichter.«

      Nein, das kann man gewiss nicht. Die Verlockung, reich zu werden, wird es nicht sein, wenn jemand sich einreiht in die Phalanx der Gipfelstürmer. Und wenn es allein der unstillbare Ehrgeiz wäre, ganz nach oben zu kommen, dann ist das eine milde Form des Größenwahns. Die Wahrscheinlichkeit, als Unparteiischer die höchsten Weihen zu empfangen sowie pro Einsatz 3069 Euro plus Anfahrt- und Übernachtungskosten, ist nicht gerade überwältigend hoch. Für die meisten bleibt es bei vier Euro (Schülerspiel) bis 150 Euro (Regionalliga).

      Rund 75 000 sind in Deutschland Woche für Woche im Einsatz. 20 pfeifen in der Ersten Liga. Um so höher ist der Druck, dem man sich aussetzt, wenn man dorthin gelangen will. Tempo, Tempo, Tempo, so wie sich das Spiel selbst um etliche Grade beschleunigt hat: Mit 17 oder spätestens 18 Jahren müsse einer schon Kreis- und Bezirksligaspiele pfeifen, sagt Dickert. »Mit 20 sollte er dann Landes- und Verbandsligaspiele leiten und mit 23 oder 24 Jahren in die Oberliga aufgerückt sein. Spätestens mit 28 muss man in die Bundesliga aufrücken, sonst hat man keine Chance mehr.«

      Von einem Förderlehrgang, passgenau auf diese Klientel zugeschnitten, hat Nicol Ljubic in der Zeit berichtet. Die

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