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Und diese schwebenden Schleier passen auch zu ihrer Umgebung, die behutsam und friedlich ist, nicht spektakulär und kalt oder harsch und abweisend. Sie ist gut fürs Gemüt, und das Spektakuläre ist nicht weit weg. Ich mache einige Fotos und lausche dann auf dem Bootssteg der Stille und dem zaghaften Plätschern der winzigen Wellen, wenn sie sich von der Uferlinie gestört fühlen. Und mitten in diese Träumerei hinein dringen unverhofft die Schreie eines „Loon“, und erstmals ist er mir auch so ganz nahe. Mir läuft es eiskalt über den Rücken, aber für das Herz fühlt es sich an wie Sehnsucht und Wärme zugleich. Sein Ruf ist wie ein Urschrei der Natur, kräftig, laut und einfühlsam klagend. Das Repertoire dieser Seetaucher an Rufen, ein extrem lautes, melodisches Heulen, das sich weit trägt, ist erheblich, doch dienen die wenigsten Rufe dem Gesang, sondern der Suche nach dem Partner oder der Revierbeanspruchung. Wer diese großen und schönen Schwimmer, die bis zu 8 Minuten tauchen können, nicht kennt und sie nachts überraschend hört, wenn sie mit ihren Warnrufen kreischend lachen oder krächzen, dem dürfte so mancher Schreck in die Glieder fahren. Mit ihren weit am hinteren Körper angebrachten Beinen können sie kaum laufen, nisten unmittelbar am Wasser und kommen in Westkanada als Eis-, Stern-, Pracht- oder Pazifiktaucher vor. Im Sommer tragen sie alle ihr prächtiges Brautkleid, das auf der Oberseite größtenteils schachbrettartig schwarz-weiß gefärbt ist und der weißen Unterseite den Rang abläuft. Ihr langer Hals ist mit gelben, weißen oder roten Ringen farbenprächtig abgesetzt, und aus dem oft schwarzen Kopf leuchten große, rote Augen mit dunklen Pupillen. Wenn die Wälder mit der Ankunft des Frühlings zu neuem Leben erwachen, dann sind auch diese eleganten Wasservögel, die 30 Lebensjahre erreichen können, wieder zu ihren Seen unterwegs und dulden dort mit ihrem schaurig schönen Gesang keinen Nebenbuhler. Ende März, wenn das Eis schmilzt, trifft der erste Loon ein und nimmt sein altes Revier wieder in Besitz, während sein Partner etwas später von der Küste nachkommt, um fünf gemeinsame Monate zu verbringen. Im Juni beginnt der Nestbau ganz nahe am Wasser, denn nur dort fühlen sich die rasanten Unterwasserjäger sicher, die bis zu achtzig Meter tief tauchen und dabei Luft aus Federn und Luftsäcken ablassen können. Wenn die Küken schlüpfen, folgen sie ihren Eltern sofort ins Wasser und kehren anschließend für zwei bis drei Tage ins Nest zurück. Danach kommen sie erst wieder an Land, wenn sie selbst brüten. Geschwisterliebe kennt der Nachwuchs nicht, denn der Ältere hackt die Jüngeren von den Eltern weg, um selbst den Platz auf deren Rücken zu erobern. Bei diesem Kampf um Leben oder Tod greifen die Eltern nicht ein, und die Verlierer sterben an Hunger und Unterkühlung. Vielleicht, weil das Gesetz der Natur es erfordert, dass nur einer, der Stärkere, überlebt? Anfang September versammeln sich die Loons auf großen Seen und verhalten sich dabei neutral, weil diese Gewässer keine Territorien darstellen. Hier machen sie Bekanntschaft mit anderen ihrer Gattung und bilden Paare, danach gehen sie wieder eigene Wege. Erst, wenn der Winter zum Flug in den Süden mahnt, finden sie sich in großen Schwärmen bis zu einhundert Vögeln zusammen, brechen aber einzeln oder in Paaren auf. Danach wird es an den Tausenden von Seen wieder still, bis das urzeitliche Heulen dieser Überlebenskünstler, das seit mehr als zwanzig Millionen Jahren ertönt, im Frühjahr wieder zu vernehmen ist. Diese Loons haben mich tief berührt, und sie tun das immer wieder, wenn ihr uriger Gesang mein Ohr erreicht. Und es sind wohl diese Laute, diese unterscheidbare tiefe, einsame, zu Herzen gehende Melodie, die das Innere aufwühlt, die man mit dem Ruf der Wildnis Kanadas gleichsetzen kann, vielleicht sogar muss. Man fühlt dabei alles, Freiheit, Unendlichkeit, Weite, gewaltige Natur, unser kleines, vergängliches Menschenleben, Überlebenskampf und Wildnis. Und in den Minuten am Clearwater Lake, als ich „meinem“ Loon lausche, muss ich an einen Indianerspruch denken, den ich irgendwo gelesen habe: „Das Sonnenlicht hinterlässt keine Spuren im Gras, halten auch wir uns daran, und gehen mit der Natur genau so behutsam um.“ In diesem Moment des Erlebens kann ich verstehen, was damit gemeint ist. Den Ruf des Loons werde ich nie wieder vergessen, und auch das indianische Sprichwort nicht, dass das dazu sagt: „Der Eistaucher schreit, weil ihm jemand zuhören soll, und seine Augen sind rot vom Weinen.“ Ja, auch so hört es sich an.

      Nach dem Frühstück am nächsten Morgen verabschieden wir uns von den Kalbhenns und sind der Meinung, dass wir wiederkommen werden. Ein letztes Winken, dann brummt unser Gefährt den Berg hinauf zum Highway 20, wo wir nach links, Richtung Bella Coola, einbiegen. Der Asphalt zieht jetzt nordwärts, es wird wieder grüner, und am Wegesrand blüht die Indian Paint Brush in vielen Farben. Kleine Seen und Koppeln mit Rindern und Pferden begleiten uns nach Nimpo- und Anahim Lake, wo der Highway wieder nach Westen abknickt und nach weiteren 150 Kilometer zu Bella Coola, am North Bentinck Arm des Burke Channels, sein Ende findet. Nimpo Lake, die „Hauptstadt der Wasserflugzeuge von British Columbia“, verweist im Wesentlichen auf Bäckerei, Post, Café, Motel, Laden, Lodge, See und die „Tweedsmuir Air“, die 1988 gegründet wurde, pauschale Ausflüge und Charterflüge anbietet, aber auch alle Eigenkreationen der Touristen mit ihren „Buschfliegern“ „Beaver und Cessna“ erfüllt. Ob es dabei zu abgelegenen Wanderzielen, Seen, Anglerzielen wie dem Blackwater- oder Dean River geht, oder Flüge in den Regenbogenberge, zu den Hunlen Falls, Eisfeldern, Gletschern oder Transferflüge zu verschiedenen Orten gewünscht werden, hier ist so ziemlich alles möglich, auch morgens zum Wunschziel hinfliegen, und abends wieder abholen lassen. Und das Wichtigste dabei, für europäische Ohren klingen die Preise sehr zivil, obwohl stets die komplette Maschine bezahlt werden muss. Wer im Dreisitzer nur mit dem Piloten unterwegs ist, zahlt allein, ansonsten wird der Gesamtpreis entsprechend geteilt. Mit diesen Fliegern werden wir auch noch Bekanntschaft machen, doch kam das eher unerwartet.

      Neunzehn Kilometer weiter, und 330 Kilometer von Williams Lake entfernt, erreichen wir die Weiler und die Ansiedlung, die sich Anahim Lake nennt. Der kleine Ort ist einer jener „Gateways“, die die Kanadier als Ausgangspunkte ins „Backcountry“ bezeichnen, und die in der Regel schon selbst weit ab und als idyllisch gelegen Oasen der Ruhe vom geschäftigen Alltag zu finden sind. Anahim Lake ist vor allem das Tor zum Tweedsmuir Park und den Itcha-Ilgachuz Bergen, aber auch in die restliche großartige Landschaft, denn die Buschflieger landen und starten hier direkt hinter der Haustür auf dem gleichnamigen See. Reine Angler können auf deren Dienste aber auch verzichten, denn der Anahim Lake ist fischreich, und der Dean River, der den See verlässt und zum Ozean zieht, gilt als einer der allerbesten Stealhead-Flüsse des Kontinents, doch ist er auch voller Lachse und Regenbogenforellen. Aber nicht nur er, sondern auch die anderen großen, wilden Flüsse der Cabrio-Chilcotin-Küste – Atnarko, Bella Coola, Kwatna, Chilck, Taseko, Chilcotin, Quesnel oder Blackwater – sind Weltklasse-Fischgewäs-ser. Anahim Lake ist aber auch eine Ausgangsbasis für Wanderer, die, mit oder ohne Buschflieger, zu Fuß oder Pferd unterwegs sein möchten, während der wirkliche Städter in dieser Gegend alles vermisst, was er schätzt.

      Das unmittelbare Juwel ist hier der 981.000 Hektar große Tweedsmuir Provincial Park mit seinen farbenprächtigen Rainbow Mountains. In den 1990er Jahren wurden ihm im Nordwesten die Kitlope Heritage mit dem gleichnamigen Regenwald-Tal, und inzwischen auch der neu geformte Entiako Park im Osten zugeordnet, um den Wildtieren genügend Überlebensraum garantieren zu können. Das Backcountry im Park ist isolierte Wildnis mit Grizzlys und Schwarzbären, die sich zur Laichzeit besonders an den Flüssen Dean, Atnarko, der ein äußerst gefährliches Gewässer ist, und Bella Coola konzentrieren. Während in der Bergregion in jedem Monat des Jahres mit Schneefällen gerechnet werden muss, gelten Juni, September und Oktober als die regenreichsten im Schutzgebiet, und der Juli kann auch mit 30 Grad aufwarten. Straßen und Wege gibt es im Schutzgebiet ebenso wenig wie andere Einrichtungen. Wer hier marschiert, muss nicht nur absolut fit und mit speziellen Karten ausgerüstet sein, sondern auch alles im Rucksack haben, was er auf seiner Tour braucht. Und wer sich nicht auskennt, der braucht unbedingt einen Guide! Viel einfacher lässt sich diese Wildnis aber zu Pferd erkunden, und ein solches Abenteuer, ein achttägiger Trailritt, wartet morgen auf uns. Und das ist auch der Grund, weswegen wir nach weiteren acht Kilometern vom Highway nach rechts abbiegen, denn unser Treffpunkt ist „Eagles Nest“, ein kleines Juwel, das man mitten „im Busch“ so nicht unbedingt erwartet. Haupthaus, Blockhütten, Pool und Duschanlagen überschauen hier auf einer kleinen Erhöhung das Seeufer, gegenüber Wald, dahinter leuchten verschneite Bergspitzen. Und das Adlernest, nachdem diese Einkehr benannt ist, das gibt es auch. Als wir um die letzte Ecke biegen, werden wir schon erwartet, und alles was hier an Zweibeinern umherläuft steht vor der Tür und winkt. Dem kurzen Hallo folgen ein paar Worte und ein Willkommensdrink, dann wird erst das Wohnmobil an seinen Platz rangiert,

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