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(„Nationale Sicht“), die in Deutschland ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird.9 Sie arbeitet eng mit der Muslimbruderschaft zusammen. Aus der Millî-Görüş-Bewegung stammt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er vertritt als politischer Ziehsohn des Gründers Necmettin Erbakan (1926–2011) nach wie vor die Ideologie der Bewegung. Von Beginn seiner politischen Karriere an verfolgte er einen Islamisierungskurs entgegen dem in der Türkei herrschenden Kemalismus. Dieser Kurs zeichnete sich schon nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul (1994 bis 1998) ab, als er verlautbarte, man könne nicht gleichzeitig laizistisch und Muslim sein. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt wurde der Alkoholausschank in städtischen Gastronomiebetrieben eingestellt. Seine Absicht, gesonderte Badezonen für Frauen und nach Geschlechtern getrennte Schulbusse einzuführen, stieß jedoch auf zu großen Widerstand. Erdoğan hat aus seiner Einstellung und seinen Zielen nie einen Hehl gemacht und sie bei aller notwendigen Taktik konsequent verfolgt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollten und ihn aus verschiedenen Motiven als demokratischen Erneuerer begrüßten. Daher verwundert es nicht, dass sich unter seiner Ägide nach und nach auch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet mit ihren Ablegern in sämtlichen Ländern, in die türkische Musliminnen und Muslime ausgewandert sind (in Österreich unter dem Namen ATIB, in Deutschland unter DITIB bekannt), zu einer islamistischen Organisation entwickelt hat.

       › Dschihadismus und gewaltfreier legalistischer Islamismus unterscheiden sich in erster Linie in ihren Methoden und in der konkreten Ausformulierung ihrer Ziele und nicht so sehr in den Grundzügen ihrer Ideologie.

      Während die einen zur Waffe greifen, um ihre Utopie gewaltsam herbeizuzwingen, haben sich die anderen auf den berühmten „Marsch durch die Institutionen“ begeben. Sie sind heute in politischen Parteien und NGOs vertreten, arbeiten in den europäischen Ländern, in denen sie leben, mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen zusammen und beginnen, sich in eigenen politischen Parteien zu organisieren.

      Ein zentrales Anliegen islamistischer Organisationen ist eine gesellschaftliche Sonderstellung des Islam, die mit einer Teilhabe am demokratischen System bei gleichzeitiger Segregation von der Mehrheitsgesellschaft einhergeht. Was auf den ersten Blick verwirrend erscheint, macht aus islamistischer Logik durchaus Sinn. Freiräume für konservativ-islamische Communitys, innerhalb derer nach islamischen Regeln gelebt werden kann, lassen sich in einem demokratischen System zunächst nur nach demokratischen Regeln erreichen, in der Hoffnung, irgendwann über jene politischen Mehrheiten zu verfügen, die es erlauben, die Regeln selbst zu ändern. Erdoğan hat diese Strategie in einer Wahlkampfrede im Jahr 1998 mit einem Zitat aus dem mittlerweile berühmten Gedicht des türkischen Dichters und Politikers Ziya Gökalp (1876–1924) auf den Punkt gebracht: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

      Die verschiedenen islamistischen Strömungen weisen neben unterschiedlichen Methoden, wie dieses Ziel zu erreichen sei, natürlich auch eine ganze Menge ideologischer Differenzen auf. Selbst innerhalb einer Organisation treten immer wieder Richtungskämpfe zutage. Dieses Phänomen ist allen größeren politischen Bewegungen eigen, wenn man etwa an die Bolschewiki und ihre internen Richtungskämpfe nach Lenins Tod denkt.

      Ein Brief an den IS

      Unabhängig von ihrer Einstellung zu Gewalt und Terror eint alle islamistischen Organisationen der Wunsch, Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln umzugestalten und eine ideale islamische Weltgemeinschaft zu errichten. Im sunnitischen Islam ist diese Utopie eng mit jener der Wiedererrichtung des Kalifats als Führung der islamischen Gemeinschaft verbunden. Die schiitisch-iranischen Islamisten hingegen glauben an die Wiederkehr des seit über 1000 Jahren in der Verborgenheit lebenden 12. legitimen Imams, Muhammad ibn al-Hasan al-Mahdī, der schon jetzt offizielles Staatsoberhaupt im Iran ist. Die Mullahs begreifen sich als seine Stellvertreter, bis zu dem Tag, an dem er wiederkehrt und die Weltherrschaft antritt.

      Seit Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 im Zuge der Konstituierung der Türkei als moderner Nationalstaat das Kalifat abschaffte, ist dessen Wiedererrichtung das Ziel sunnitischer islamistischer Bewegungen jeglicher Couleur. Schon der Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā, hatte eben dieses Ziel vor Augen, als er vier Jahre nach der Abschaffung des Kalifats die Bewegung gründete. Auf die Schriften al-Bannās beziehen sich sunnitische Islamisten weltweit. Darin wird nichts Geringeres behauptet als eine im Koran festgeschriebene Vorherrschaft und Souveränität der Muslime über die ganze Welt. Diese postulierte Weltherrschaft wird zur edlen Vormundschaft idealisiert. Pflicht jedes einzelnen Muslims sei es, für den Islam in den Dschihad zu ziehen.10

      Dass diese Haltung weitgehend Konsens unter islamischen Gelehrten ist, zeigt nicht zuletzt der berühmte offene Brief, mit dem sich 2014 über 120 der führenden sunnitischen Gelehrten an den Anführer des IS und selbst ernannten Kalifen, Abu Bakr al-Baghdadi, gewandt hatten. Die der IS-Ideologie zugrundeliegende theologische Position zum Dschihad wird darin nicht grundsätzlich zurückgewiesen, der kriegerische Dschihad nicht infrage gestellt. So heißt es zunächst: „Tatsächlich ist es so, dass du und deine Kämpfer furchtlos seid und ihr bereit seid, euch mit der Absicht des Dschihad zu opfern. Keine aufrichtige Person, welche die Geschehen beobachtet – ob Freund oder Feind –, kann dies ablehnen.“ Der Dschihad sei allerdings nur berechtigt, wenn „die rechten Gründe, die rechten Ziele“ und „das rechte Benehmen“ dafür gegeben seien und er sich nicht gegen Muslime richte. 11 Der IS wird abgelehnt, weil diese Voraussetzungen nicht vorlägen und es sich daher nicht um Dschihad, sondern lediglich um „Kriegstreiberei und Kriminalität“ handele. In der Auseinandersetzung geht es also nur darum, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt das Vorgehen richtig wäre.

      Der Brief dieser Gelehrten wurde von Vertretern europäischer Islamverbände als wichtiges innerislamisches Zeichen gegen den Terror gepriesen. Auf der Website der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“ (jetzt DMG) etwa war zu lesen: „Gelehrte der ganzen Welt haben inzwischen in aller Deutlichkeit die Machenschaften von ISIS verurteilt und mit Belegen aus der Lehre des Islam untermauert. Selten gab es so eine einhellige Meinung.“12 Ein Redakteur der ZEIT, Yassin Musharbash, lobte in einem Artikel die „islamischen Argumente gegen den Islamischen Staat“.13 Der Brief ist jedoch vor allem ein eindrucksvoller Beleg für die Übereinstimmung von legalistischen und dschihadistischen islamischen Gruppen und Gelehrten in Bezug auf die Grundlagen des Glaubens und die grundsätzliche Verbindung von Islam und Politik.

      Der Brief befasst sich aus aktueller islamischer Perspektive mit zahlreichen weiteren Details. Zur Veranschaulichung mögen noch zwei Beispiele dienen: Körperstrafen werden nicht abgelehnt, sie seien vielmehr „gemäß islamischem Recht zweifellose Pflichten“, die allerdings an ein „klares Prozedere“ gebunden seien. Dem IS wird vorgeworfen, sich nicht daran zu halten. Die Gelehrten kritisieren ihn dafür, dass er grundlos Muslime zu Nichtmuslimen und damit zu Abtrünnigen erkläre und daraus für sich das Recht ableite, sie zu töten. Man könne Muslime nur zu Nichtmuslimen erklären, wenn diese „offenkundig den Unglauben kundgetan haben“. Das bedeutet letztendlich, dass ein Muslim, der beschließt, dem Islam den Rücken zu kehren, zu konvertieren oder nicht mehr an Gott zu glauben und das öffentlich kundtut, auch nach Meinung dieser 120 Gelehrten verfolgt und hingerichtet werden kann. In den Ländern, in denen Scharia-Recht gilt, ist genau das auch der Fall. Wir haben hier also einen innerislamischen Streit um den Weg, nicht aber um das Ziel vor uns.

      Der aufgeschlossene frühere kuwaitische Kommunikationsminister Saad bin Tafla al Ajami schrieb 2014 in einem kritischen Artikel mit dem Titel „Wir alle sind ISIS“, der IS sei das Produkt eines fundamentalistischen Diskurses, der die islamische Welt seit Jahrzehnten dominiere und Intoleranz bis hin zum Hass gegenüber allem predige, was anders sei. „Die Wahrheit, die wir nicht leugnen können“, schreibt er, „lautet, dass ISIS in unseren Schulen gelernt, in unseren Moscheen gebetet, unsere Medien und religiösen Plattformen gehört, unsere Bücher und Texte gelesen hat. Sie folgen den Fatwas, die wir produziert haben.“ Der IS steigere lediglich die Ideologie des politischen Islam ins Extreme, während sich

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