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ins Ruhrgebiet ein und stellten dort binnen weniger Jahrzehnte rund 15 Prozent der Bevölkerung. Zwar kam es, wie bei jeder Einwanderung größerer Gruppen, auch hier zu Verwerfungen und Konflikten, aber nach zwei Generationen waren sie bestens integriert. An die Geschichte der polnischen Einwanderung ins Ruhrgebiet erinnern heute nur noch die deutschen Orlowskis, Schimanskis und Kowalskis. Sie waren gekommen, weil sie ein besseres Leben suchten, und die meisten von ihnen waren dem Land gegenüber positiv eingestellt.

      Das scheint für einen nicht unerheblichen Teil der Einwanderer aus islamischen Ländern, auch im Unterschied zu anderen aktuellen Einwanderungsgruppen, aber nicht der Fall zu sein, denn im Gegensatz zu diesen bringen viele von ihnen eine Ideologie mit, die in Widerspruch zu der Gesellschaft steht, in die sie einwandern. Wie sollen wir auf Menschen reagieren, die zwar in europäischen Ländern leben wollen, aber die westliche Gesellschaft als unmoralisch und sündhaft verachten und als Gefahr für ihre Kinder betrachten? Was bedeutet die steigende Zuwanderung aus kollektivistischen Gesellschaften jener Länder, die von islamistischen Vorstellungen geprägt sind und in denen der Einzelne und seine Würde eine untergeordnete Rolle spielen, für Europa? Es ist illusorisch, anzunehmen, die Neuankömmlinge würden der Strahlkraft von Freiheit und Selbstbestimmung erliegen, wenn sie ihnen nur gut genug erklärt würde. Das ist nicht nur eine sträfliche Unterschätzung der Macht von Ideologien, es nimmt auch andere und ihre Überzeugungen vom „guten und richtigen Leben“ nicht für voll, sondern hält diese für bloß vorübergehende Erscheinungen.

      Der politische Islam ist angetreten, die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Von den Veränderungen, die er für unsere Gesellschaft mit sich bringt, handelt dieses Buch. Darüber hinaus gibt es einen Überblick über die wichtigsten Akteure und ihre Strategien. Die alte Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, stellt sich angesichts eines neuen religiösen Totalitarismus mit aktueller Dringlichkeit. Es geht um nichts Geringeres als einen Gesellschaftsvertrag, der das friedliche und den individuellen und voraussetzungslosen Menschenrechten verpflichtete Zusammenleben der Menschen weiterhin gewährleisten kann.

       DIE ISLAMISTISCHE HERAUSFORDERUNG

       „Nicht der Koran muss mit der Demokratie verträglich sein, sondern umgekehrt, die Demokratie muss mit dem Koran vereinbar sein.“

      Der Imam einer Moschee der Türkischen Föderation in Wien, 20175

      In den vergangenen 40 Jahren ist es fundamentalistischen Strömungen in nahezu allen mehrheitlich islamischen Ländern gelungen, ihre Auslegung der Religion in die Mitte dieser Gesellschaften zu tragen und diese Lesart zum Mainstream zu machen. Diese Veränderung hat auch Auswirkungen auf muslimische Communitys in Europa. Während diese Entwicklung bis vor wenigen Jahren nur in kleinen Zirkeln zur Kenntnis genommen wurde, sprechen inzwischen auch Politik und Medien immer häufiger vom „politischen Islam“. Der Begriff hat sogar Eingang in das Regierungsprogramm der türkis-blauen Koalition in Österreich gefunden. Unter der Überschrift „Kampf dem politischen Islam“ findet sich dort ein eigenes Kapitel, das unter anderem strafgesetzliche Bestimmungen gegen den politischen Islam ankündigt.6

      Man gewinnt jedoch den Eindruck, dass weder Politik (quer durch alle Parteien) noch Medien eine adäquate Vorstellung vom Phänomen politischer Islam oder Islamismus haben. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass es sich hierbei um eine für Europa vergleichsweise neue Gegebenheit handelt. Analyse und Faktenwissen hinken den Ereignissen und der öffentlichen Debatte hinterher. Nicht nur der islamistische Terror, sondern die vielen, dem alltäglichen Islamismus geschuldeten sichtbaren Veränderungen treiben heute immer mehr Menschen in europäischen Ländern um, ohne dass die Politik bislang eine hinreichende Antwort auf diese Herausforderung gefunden hätte.

      Mit dem Begriff Islamismus verbinden die meisten vermutlich in erster Linie Bilder von Terroranschlägen aus New York, Madrid, Istanbul, Paris, London, Berlin und unzähligen anderen Städten der Welt; Berichte über die Gräueltaten des „Islamischen Staats“, von Sklavenmärkten, auf denen jesidische Frauen und andere Gefangene verkauft werden, und von bärtigen Männern, die schwer bewaffnet und die schwarzen Flaggen mit weißem Aufdruck des Glaubensbekenntnisses schwenkend laut Allahu Akbar („Gott ist am größten“) in die Kameras schreien. Der gewalttätige Islamismus, oft auch mit dem Begriff Dschihadismus beschrieben, stellt jedoch nur die sichtbare Spitze des Eisberges dar.

       › Längst haben sich gewaltfrei und legalistisch vorgehende Islamisten auf den Weg gemacht, die Gesellschaft zu transformieren.

      Während der Dschihadismus in Europa in Gestalt sogenannter Gefährder und ihrer Sympathisanten ein sicherheitspolitisches Problem darstellt, ist die Herausforderung durch legalistische islamistische Kräfte eine mindestens ebenso große, wenn nicht größere gesellschaftspolitische Aufgabe. Neben der dschihadistischen Szene hat sich eine vielfältige Bewegung etabliert, die Propaganda in islamische Communitys hineintragen will und damit durchaus erfolgreich ist. Auch wenn Letztere den dschihadistischen Weg als fehlgeleitet betrachten, stellen ihre politischen Ziele eine Gefahr für Demokratie und Pluralismus dar, ähnlich wie andere gewaltfreie extremistische Vorstellungen auch. Als warnendes Beispiel für den islamistischen Gang durch die Institutionen und eine Islamisierung von Staat und Gesellschaft unter Ausnutzung des demokratischen Rechtsstaats kann die Türkei gelten, wie im folgenden Kapitel noch ausgeführt wird.

       POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS

      Als Islamismus im eigentlichen Sinne wird eine moderne politische Strömung innerhalb des Islam bezeichnet, die 1928 mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten die Bühne betrat. Politischer Islam und Islamismus sind Begriffe, die in der wissenschaftlichen wie allgemeinen Debatte meist synonym verwendet werden. Mit ihnen wird das Phänomen einer auf dem Islam basierenden politischen Ideologie bezeichnet. Dieses Phänomen ist keine Erfindung von „Islamfeinden“, wie von manchen ins Feld geführt wird. Es waren vielmehr die Väter des Islamismus selbst, die den Islam als eigenständiges politisches Konzept definierten.

      Für den Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā (1906–1949), war der Weg des Westens von ökonomischen Krisen und aufsteigenden Diktaturen geprägt. Damit meinte er sowohl die westlichen Demokratien als auch Faschismus und Kommunismus. Dem gegenüber sah er im Weg des Islam eine historisch bewährte und eigenständige politische Alternative. Al-Bannā begriff den Islam keineswegs als rein spirituellen Rahmen, sondern definierte ihn, islamischer Ideengeschichte folgend, als politisch-religiöses Konzept, das die Grundlage der idealen Gesellschaft und des idealen Staates bilden und alle Bereiche derselben umfassen müsste. Um sich von ihren säkular eingestellten Gegnern abzugrenzen, haben in der Folge verschiedenste Gruppen sich selbst als „Islamisten“ (islamiyun) bezeichnet7 und von der islamischen Erweckung (Sahwa) gesprochen.

      Einen einheitlichen Islamismus gibt es nicht, aber wie bei anderen Phänomenen gibt es natürlich bedeutungsunterscheidende Merkmale, die es uns erlauben, sie von anderen abzugrenzen und ihr Wesen zu erfassen und zu definieren. Wir haben es beim Islamismus, wie bei jeder anderen größeren politisch-ideologischen Bewegung auch, mit einem Spektrum von verschiedensten Organisationen zu tun. Dazu zählen staatlich-islamische Akteure ebenso wie transnationale und nationale Organisationen, die bei all ihren Unterschieden eine Idee eint: die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln. Das islamistische Spektrum reicht von dschihadistischen Organisationen wie dem IS oder al-Qaida, die sich als internationale Organisationen begreifen und teilweise weltweit als eine Art Franchisesystem funktionieren, bis hin zu legalistischen, also sich im Rahmen der jeweiligen staatlichen Gesetze bewegenden Organisationen. Zu Letzteren zählt etwa die DMG („Deutsche Muslimische Gemeinschaft“) – ehemals IGD („Islamische Gemeinschaft in Deutschland) –, die nach Einschätzung des deutschen Verfassungsschutzes als wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft gilt, die versuche, im gesellschaftlichen und politischen Bereich Einfluss zu nehmen.8

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