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      Louis Sinn für Mode sorgte mindestens einmal die Woche für freundlichen Spott im Büro. Marissa, Tanners Sekretärin, fasste es als persönliche Beleidigung auf, dass Louis mehr Schuhe besaß als sie.

      »Bitte höflichst um Verzeihung.« Louis gab sich Mühe, streng dreinzuschauen, und glättete seine Krawatte. »Aber in dem Fall sage ich: Lang lebe ein unabhängiges Hessenberg!«

      »Es ist so unglaublich bewegend, wie sehr Ihnen die politische und wirtschaftliche Zukunft unseres Landes am Herzen liegt, Louis. Vielen Dank.« Tanner ging zu einem Teewagen am anderen Ende des Eckbüros. Hinter den Bogenfenstern hatte sich der Nieselregen zu einem richtigen Guss gemausert.

      »Warum hatten Sie mich angerufen?« Tanner hob den Deckel der Teekanne hoch und schnupperte. Stark und bitter, genau, wie er ihn mochte. Aber der Tee war kalt, und ihm war auch nicht danach. Er stellte die Kanne zurück auf den Wagen. In der Mittagspause würde er sich eine heiße Tasse holen. »Sie sagten im Flur, Sie hätten mich angerufen.«

      »Ja, richtig.« Louis erhob sich und klemmte sich sein Tablet unter den Arm. »Der König und sein Assistent sind gemeinsam mit dem Premierminister von Brighton auf dem Weg hierher.«

      »Hierher?« Panik bohrte sich in Tanners Brust. »Und da haben Sie diese Information bis jetzt für sich behalten, Louis?« Tanner drehte eine kleine Runde, krempelte die Ärmel wieder runter und besah prüfend das Zimmer. Warum hatten die Modegötter nur vorgegeben, dass die Knopflöcher kleiner sein sollten als die passenden Knöpfe?

      Die Wände seines Büros … Er hatte sie noch nicht mit moderner oder klassischer Kunst oder irgendwelchen anderen geschmackvollen Accessoires dekoriert. Nein, bisher hatte er nur seine Rugbypokale und ein gerahmtes Poster von Hessenberg Union mit den Autogrammen der kompletten Mannschaft von zu Hause mitgebracht. Obendrein tummelten sich Wollmäuse auf dem dicken blauen Teppich, und die Bretter der Walnussregale würden wohl kaum einer Staubinspektion standhalten. Nicht zuletzt befanden sich die Reste des gestrigen Abendessens noch immer in seinem Papierkorb.

      Tanner ging um den Kreis aus Lederstühlen herum, der die Mitte des Raumes dominierte, kickte den Rucksack mit seinen Sportsachen in den kleinen Toilettenraum nebenan und schloss die Tür.

      »Jonathan sagte nur, sie seien unterwegs. Er rief an, als sie gerade ins Flugzeug stiegen.«

      »Dann wird er gleich hier sein.« Der Flug von Brighton nach Hessenberg dauerte weniger als eine halbe Stunde. »Weiß der Gouverneur, dass der König kommt?« Gouverneur Fitzsimmons‘ Büro und die seiner Angestellten nahmen die gesamte erste Etage von Wettin Manor ein. Er würde wissen wollen, dass der König unterwegs war.

      »Ja, und ich habe auch den Sicherheitsdienst in Bereitschaft versetzt.«

      »Sind Sie sicher, dass er mich besuchen will und nicht den Gouverneur?«

      »Jonathan hat ausdrücklich von Ihnen gesprochen.«

      »Bestellen Sie die Putzkolonne hierher«, sagte Tanner und machte sich daran, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu schaffen. Er stapelte seine Notizen und Unterlagen und verstaute sie in der untersten Schublade. »Und lassen Sie eine frische Kanne Tee herbringen. Sagen Sie Marissa, sie soll frisches Gebäck von Loudermilks Bäckerei bringen lassen. Richten Sie ihr aus, sie soll ihnen sagen, dass es für Seine Majestät ist. Ich glaube, Krapfen mag er am liebsten.«

      Louis hatte das Telefon schon am Ohr. »Ja, das stimmt. Ich habe den gleichen Artikel in der Liberty Press gelesen. Manfred, hier ist Louis. Wir brauchen Reinigungskräfte hier oben.« Er war auf dem Weg nach draußen. »Ja, das ist mir klar, aber der König kommt ins Büro des Kulturministers.«

      Tanner zog seine Anzugjacke an. Zum hundertsten Mal in der letzten Minute fragte er sich, was der König wohl von ihm wollte.

      Louis erschien wieder auf der Bildfläche. Er war immer noch am Telefon und hielt Tanner einen dünnen Leinenumschlag hin. »Das ist gekommen, als Sie unterwegs waren«, sagte er, während er mit einem Ohr dem zuhörte, was Manfred am anderen Ende zu sagen hatte. »Hören Sie, wollen Sie, dass der König einen schmutzigen Teppich in Tanners Büro vorfindet? Was glauben Sie, auf wen das zurückfallen wird?« Louis Stimme wurde leiser, als er hinausging. »Dann bis in zwei Minuten. Vielen Dank.«

      Tanner betrachtete den Umschlag und runzelte die Stirn. Sein Name war in einer extravaganten Schreibmaschinenschrift aufgedruckt. Aber von wem kam er? Er drehte ihn um und las die Absenderadresse, während er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen ließ.

       Estes Estate

       2, Horsely Hill Road,

       Strauberg, Hessenberg 93-E15

      Der Name, die Adresse weckten all das Gestern, das er mit aller Kraft versucht hatte, wegzuschieben und zu vergessen. Weckten die Erinnerung an sein Versagen.

      Seine Kehle wurde eng, und sein Puls raste. Mit steifer, eiskalter Hand strich er sein Haar glatt. Warum in aller Welt sollte Barbara »Babs« Estes ihm einen Brief schreiben? Noch dazu eine Einladung? Seit der verhängnisvollen Nacht vor acht Jahren war er nicht mehr in ihrer Villa auf dem Hügel gewesen. Aber er brauchte nicht einmal seinen investigativen Rechtsanwaltsverstand zu bemühen, um zu erraten, was wohl der Inhalt des Briefes sein könnte. Einige Details und Erinnerungen weigerten sich einfach, in den Tiefen des Vergessens zu verschwinden.

      Die Zwillinge würden in wenigen Wochen zehn Jahre alt werden. Am fünften Oktober, um genau zu sein.

      Tanner griff nach dem Brieföffner und debattierte noch mit sich selbst, was wohl besser wäre – hineinzuschauen oder das verflixte Ding einfach in den Papierkorb zu werfen.

      Er hatte es geschafft. Er war wieder auf die Füße gekommen. Hatte seinen Jura-Abschluss gemacht. War Mitarbeiter des Gouverneurs geworden, bevor er dem König aufgefallen und zum Kulturminister ernannt worden war.

      Dann hatte er seinen Wert bewiesen, indem er sich an einen seiner ehemaligen Professoren, den guten alten Yardley Pritchard, erinnert hatte, der eine Verbindung zu dem lange verlorenen Erben des hessenbergischen Throns haben könnte.

      Und wenn sich Tanners Instinkte als richtig erwiesen, was das Wissen des Professors über den Verbleib der Erbin anging, dann wäre Hessenberg auf dem besten Weg, wieder eine unabhängige Nation zu werden.

      Warum also sollte Tanner ausgerechnet heute, wo der König doch tatsächlich auf dem Weg zu seinem Büro war, eine Einladung von Trudes Mutter bekommen? War seine Vergangenheit so stark, dass sie einfach in seine Gegenwart einmarschieren konnte, wenn ihr der Sinn danach stand? Nun, er würde zusehen, dass es nicht dazu kam.

      Tanner riss die mittlere Schublade auf, warf den Briefumschlag hinein und schob ihn ganz nach hinten. Aus den Augen, aus dem Sinn.

      Eine Technik, die er nahezu perfektioniert hatte.

      DREI

      Vor seiner Tür erklangen Stimmen, und Louis‘ Bariton kündete von der Ankunft des Königs.

      »Guten Tag, Ihre Majestät.«

      Tanner begrüßte den König, Nathaniel II., und seinen Assistenten Jonathan an der Tür und lud sie ein, sich auf eine Tasse Tee zu setzen. Gouverneur Seamus Fitzsimmons, Tanners ehemaliger Chef, folgte ihnen auf dem Fuße.

      Die Unterhaltung plätscherte leicht dahin, sie sprachen über Sport und das Wetter. So verbrachten sie zwanzig Minuten, am Tee nippend und Gebäck knabbernd.

      Tanner saß auf der Kante seines Ohrensessels an der Seite des Königs. Sein Geduldsfaden spulte sich mit rasender Geschwindigkeit ab.

       Was will der König?

      Neben Tanner erging sich Gouverneur Fitzsimmons in einem Redeschwall über seine Errungenschaften

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