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im Freilauf – zum Spielen.

      Band sie einer aus Versehen oder aus Mitleid los, war sie wieder weg. Irgendwann brachten sie Leute vom zweihundertfünfzig Meter entfernt liegenden Marktplatz zurück, dort traf man sie an, nur mit einer Windel und Schlüpfer bekleidet. Sie war wieder mal ausgebüxt. Derweil war sie als Ausreißerin bekannt und man wusste, woher sie kam.

      Je älter, umso furchtloser wurden ihre Fluchtaktionen. Selbst hohe Zäune waren für sie kein wirkliches Hindernis. Unser Garten war in südliche Richtung mit einem etwa zwei Meter hohen, schön satt mit altem Motorenöl schwarz getünchten Holzlattenzaun versehen. Jede einzelne Latte war oben angespitzt, sollte ja niemanden dazu einladen, von außen her drüberzuklettern. Die einzelnen Abschnitte wurden durch dicke Granitsäulen gehalten.

      Eines Tages hörte mein Opa, der sich auf dem Gemüsebeet seinen Anpflanzungen widmete, ihre Rufe: „Oooopaaaaa – ich häääänge!“

      Tatsächlich, er traute seinen Augen kaum, beim Versuch, diesen Zaun zu überwinden, rutschte sie ab und eine Holzlatte durchbohrte – zum Glück nur – ihr dünnes Sommerkleidchen in Brusthöhe und sie hing kopfüber im Zaunfeld! Horror!

      Sie war als Kind immer der quirligere Teil der Familie. Damit wenigstens beim Essen Ruhe einkehrte, hatte mein Vater ein ganz profanes Mittel: Um sich anbahnende Unruhen bereits im Keim zu ersticken, legte er wortlos neben seinen Teller mit dem üblichen Besteck einen Holzkochlöffel ab. Dieser hatte tatsächlich beruhigende Wirkung.

       DER STAAT – SEINE ORGANE UND ICH – TEIL 1

      Bereits mit vier Jahren hatte die Staatsmacht auf mich einen ersten, prägenden – negativen Eindruck hinterlassen.

      Ich weiß noch: Eine kurze Zeit lang musste ich den örtlichen Kindergarten besuchen. Kindergarten! Das war für mich wie Gefängnis mit Außenschläfer oder wie man das nennt. Ich und Kindergarten, die härteste Strafe überhaupt! Noch weit vor Stubenarrest. Ich habe absolut keine guten Erinnerungen an diesen Ort, habe fast alles schnell aus meinem Erinnerungsvermögen gestrichen.

      Nur ein paar Fragmente blieben hängen: Es gab große Volieren mit Vögeln, Fasanen. Was sonst noch drin flatterte, weiß ich nicht mehr. Die waren mir im wahrsten Sinne des Wortes als dunkle Verschläge im Kopf verblieben, gespenstisch düster und unheimlich.

      Und an noch etwas erinnere ich mich. Eines Tages mussten wir in einer Reihe antreten, als der ABV (ABV heißt „Abschnittsbevollmächtigter“ – welch hirnlose Wortprägung für einen „Volks“-Polizisten, der für einen „Abschnitt“ bevollmächtigt war), so nannte man den Ortspolizisten, uns der Nase nach begutachtete. Einer hatte wohl was ausgefressen, kann mich aber nicht mehr erinnern, wer und was. Wie gesagt, es war im Kindergarten, wir Kinder waren etwa vier Jahre alt!

      Dieses widerwärtige Schnüffelgesicht des ABV erinnert mich im Nachhinein an ein Hausschwein, welches genüsslich mit der Schnauze im Dreck wühlt und vor sich hin grunzt. Uns machte das Angst.

      Dieses Ereignis hat sich mir äußerst negativ eingeprägt. Vielleicht war es ein Ziel dieses Staates, mit der Einschüchterung früh zu beginnen? Ab diesem Moment waren bei mir die „Volks“-Polizisten als „Freunde und Helfer“ unten durch.

      Den Kindergarten hasste ich wie die Pest. Und schließlich hatte meine Methode, während des täglichen Anmarsches so herzzerreißend zu heulen – wie, wenn man jemanden zum Abdecker bringen würde – bei meinem Opa so einen durchschlagenden Erfolg, dass er vor lauter Mitgefühl wieder mit mir nach Hause ging. Zum guten Schluss beschlossen meine Eltern, bei mir auf diese Einrichtung zu verzichten. Und so konnte ich mich wieder dem Spielen mit meinem besten Freund – der ebenfalls nicht in diese Einrichtung gehen musste – und den gemeinsamen Erlebnissen unserer Art der Freiheit widmen.

       MOHN – KANN MAN DAVON EINEN RAUSCH BEKOMMEN?

      Im Grunde genommen waren meine Schwester und ich liebe Geschwister, okay, meistens, na gut – oft. Die meiste Zeit verbrachte ich eh mit meinem Freund. So kamen wir uns selten ins Gehege.

      Wir zwei Jungs waren viel unterwegs, falls wir uns nicht gerade gegenseitig mit Hacken drangsalierten und aufgrund dessen zwangsgetrennt wurden. Ob es regnete oder schneite, interessierte uns nicht im Geringsten. Hauptsache draußen.

      Die schlimmste Strafe für uns war Stubenarrest. Damit könnte man der heutigen Computergeneration einen Riesengefallen tun. Für mich und ihn war es das blanke Elend, zu Hause eingesperrt zu sein. Wir hatten ja auch traumhafte Bedingungen zum Ausgehen.

      Auf unseren Touren wurde permanent nach Essbarem geforscht. So entdeckten wir beispielsweise den Mohn als schmackhaften „Snack“. Der Mohnanbau war im Osten, so weit ich weiß, nicht verboten. Das Produkt Mohn sollte auf dem Kuchen landen und nicht in der Spritze.

      Zu jener Zeit hatte ich zwei Arten der Begegnung mit dieser Kapselfrucht. Die eine, die ich fürchterlich fand, wenn meine Mutter auf die Idee kam, Mohnkuchen zu backen oder Pflaumenklöße herzustellen und ich dazu den Mohn mahlen musste. Dazu diente die Mohnmühle, eine hölzerne Handmühle, ähnlich einer alten Kaffeemühle, in die man oben die Mohnsamen reinschüttete und dann die Kurbel drehen und drehen und drehen musste, es ging kaum was durch. Reinste Strafarbeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Ich erinnere mich, zwölf bis fünfzehn Minuten benötigte ich für ein Döschen zerquetschten Mohns, welchen man dann unten rauszog. Die drei- oder vierfache Menge wurde für die Pflaumenklöße benötigt, für den Kuchen noch mal das Doppelte. Die Resultate aber waren einfach köstlich.

      Mohn – natur! Frisch vom Feld, das war die zweite Variante, eher was für uns Jungs. Mein Opa hatte auf einem seiner Äcker ein Teilstück mit Mohn bestellt, hellblau blühender Mohn (Schlafmohn) war es. Im Sommer auf dem Weg zu unserem Lieblingsziel, dem Steinbruch, nutzten wir die Gelegenheit, um uns hier erst einmal richtig zu stärken. Am besten schmeckte uns der Mohn, wenn er noch unreif war, innen helle, weiße Samen hatte. Nun ja …

      Warum man später keinen Mohn mehr anbauen durfte, muss man nicht verstehen, uns hat’s geschmeckt und es ist uns gut gegangen, vorher und danach. Dass wir davon „high“ geworden wären, kann ich nicht behaupten, abgesehen mal davon, dass wir diesen Zustand als solchen nicht kannten. Eher wohl nicht, denn der Sauerampfer (der wuchs besonders gut auf den naturgedüngten Kuhwiesen, also Bio vom Feinsten), den wir ebenfalls frisch geerntet verzehrten, hat diesen Effekt bestimmt neutralisiert.

      Wir tranken auch das Wasser aus den kleinen Bächen. War es klar – war es (für uns) sauber und trinkbar. Krank wurden wir davon nie. Wir hatten auch niemals einen Bandwurm oder so ein Zeug.

       IM PARADIES

      Regelmäßigstes Ziel in der warmen Jahreszeit war unser Steinbruch, etwa fünfundzwanzig Kinder-Gehminuten vom Haus entfernt – eine wirklich traumhafte, natürliche, wunderschöne Idylle. Ich kenne keinen anderen Ort meiner Kindheit, der mir so im Hirn festgeschrieben blieb wie dieser kristallklare, dunkelblaue See, gesäumt von einem Grün, wie man es nur im Paradies noch schöner hätte finden können. Na ja, so in etwa.

      Man muss sich das so vorstellen: Von innen betrachtet sah es dort aus wie in einem kleinen, erloschenen Vulkan, mit etwa zwanzig Meter hohen, schräg aufsteigenden Granitfelsen und zum Teil mit sattem Grün, Bäumen und Sträuchern bewachsenen Wänden, an denen man als sportlicher Junge relativ gefahrlos hochklettern konnte. In Richtung Süden war dieser vulkanähnliche Kegel aufgeschnitten. An dieser Stelle konnte man in den Steinbruch hineinlaufen oder hineinfahren. Hier war das Wasser auch sehr flach und fiel Richtung Mitte weiter steil ab. Um den See herum, er hatte etwa vierzig bis fünfzig Meter Durchmesser, konnte man im Kreis laufen.

      Bis nach der Mittagszeit waren wir zwei fast immer alleine vor Ort. Oft sind wir dort schon so zwischen neun und halb zehn Uhr eingetroffen. Später, nachmittags, kamen dann die Älteren, die sich ein Blockhaus auf einem Vorsprung am Wasser gebaut hatten. Sie grillten dort, machten Lagerfeuer, tranken und badeten im

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