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ich beginne, meine liebe junge Dame und mein verehrter betagter Herr Schwager!“ Sie räuspert sich einmal. „Ich glaube, dass mir noch ein Krümelchen Brot im Hals stecken geblieben ist.“ Sie räuspert sich zum zweiten Male. Dieser Räusperer hallt noch lautstarker durch den Raum als sein Vorgänger und scheint dem Quälgeist im Hals endgültig den Garaus machen zu wollen. „Ich vermute, dass sich ein Teil des Quittengehäuses in meinem Schlund verfangen hält!“ Dame Ethel holt einmal tief Luft, lässt ihre Hand sich vorne fest um den Hals krallen und bittet, kläglich nach Luft schnappend: „Klopft bitte … hierhin!“, und zeigt dabei auf ihren Rücken.

      „Erst einen Schluck Tee nehmen! Ethel! Dann rutschen die Kernlein auch dorthin, wo sie hingehören!“ Nachdem der alte Herr über Jahre gelernt hat, seinen Tatterich als einen freundschaftlichen Lehrmeister des sich näher und näher heranschleichenden Gevatter Tods zu akzeptieren, so stört es ihn auch wenig, dass nicht alle Tröpfchen dorthin fließen, wo sie eigentlich hingehören, nämlich aus der Wedgwood-Tasse, die Mrs. Smith in ihrer flinken Weise bereitgestellt hat, in seinen Schlund. Großmutter, mit erhobenen Händen die befreienden Rückenschläge ihrer Enkelin erwartend, kehrt sich jetzt reichlich wenig um die braunen Spritzer auf der Spitzendecke, zu sehr ersehnt sie aus dem Zusammenspiel der beiden Akteure am Tisch, dass sie den Störenfried in ihrem Hals endlich los wird. Und – oh, Wunder – Adelaines Bemühungen scheinen doch von Erfolg gekrönt zu werden. „Fort ist er, fort, tatsächlich fort, dieser Eindringling!“ Großmutter klatscht in die Hände, vernehmlich nach oben gewandt spricht sie: „Lieber Herrgott! Danke! Danke! Wie schön ist das Leben, wenn ein Mensch wieder zum Leben notwendige Luft schnuppern darf! Oder …“, die alte Dame stützt ihren Kopf auf ihre Finger, „… liegt das Luftwegbleiben sogar an einem schrecklichen Gedanken, der mich gerade überfallen hat, als ich an Paul dachte, an den Freund unseres Vorfahren? Aber jetzt lese ich erst einmal den Brief vor, diesmal, so hoffe ich wenigstens, ohne diesen Quälgeist! – Lieber Freund! Jetzt möchte ich aber nicht länger verweilen und Dir auf Deinen Brief antworten. Mein aufrichtiges Mitgefühl bringe ich Dir hiermit entgegen. Du hast Dich mit zu viel Unbill herumzuschlagen, wie allerorts Kunde gegeben wird. Dass Du mit tiefster Trauer erleben musst, wie Deine zweimalige, mit unzähligen Mühen erstellte Kirchenordnung den Wirren des Landes zum Opfer gefallen ist, das rührt mich zutiefst. Gerade kommen mir die Worte vom Luther in den Sinn: ‚Nehmen Sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben!‘ Jesus Christus wird für uns und den rechten Glauben streiten. Daran lasst uns mit allen unseren Kräften festhalten! Es tut mir aufrichtig Leid, dass Du nur halb so viel Lohn erhältst, wie es Dir versprochen worden war. Du musst so viele Mäuler stopfen und außerdem dafür Sorge tragen, dass Deinen Söhnen eine gute Gelehrsamkeit zu Teil wird und Deine Töchter eine stattliche Mitgift aufweisen können. Wie gekränkt musst Du Dich gefühlt haben, dass Du die Geringschätzung eines Ochsenknechtes ertragen musstest! In Rostock läuft alles ohne besondere Schwierigkeiten. Meinen Studenten versuche ich den lieben Reformatoren Flacius nahezubringen, um bei ihnen die wahre lutherische Lehre zu stärken. Von meinem Eheweib und den sechs Kindern ist nichts Schändliches zu berichten. Nur meine Margarethe, jetzt in dem schwierigen Alter des Übergangs vom Mädchen zur Frau, erweist sich manches Mal als ziemlich störrisch. Sie ist kein so hübsches Mägdelein wie die andere Tochter, eher klein und von gedrungener Statur. In allen Dingen, die uns hier auf Erden nicht so sehr behagen, in allem Kampf lasst uns wie Luthern beten: ‚Ach, Gott, vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen!‘ In freundschaftlicher Verbundenheit von Haus zu Haus verbleibe ich Dein Dir stets verbundener Paul.“

      Stille! Der alte Herr und Adelaine, seine Großnichte, sitzen auf ihren vier Buchstaben angenagelt wie auf Kirchenbänken, andächtig, so aufmerksam, als ob sie des Herrn Pastors Auslegungen Silbe für Silbe inhalierten. Ihre Hände halten sie brav über dem Schoß verschränkt, als Lady Ethel sich als erste zu Wort meldet: „Ob es jetzt das Krümelchen Brot oder Teilchen vom Kerngehäuse der Quitten gewesen ist, das mir die Luft zum Atmen nahm, ist jetzt einerlei. Oder sollte es etwa doch die Schauergeschichte gewesen sein, die hier …“, und dabei zeigt sie, den Brief noch auf ihrem Schoß haltend, auf diese Seite ganz unten, auf der in Form einer Notiz, in einer anderen Schrift, mit Griffel gemalt, etwas angefügt worden steht. „Hier liest man schwarz auf weiß: ‚Die jüngste Tochter Paulus von Eitzens, namentlich Margarethe, wurde zusammen mit ihrem Gatten, dem Amtsschreiber, anno 1610, hingerichtet. Das Urteil erfolgte wegen Mitschuld an der Ermordung des Schwiegersohnes aus Apenrade. Dies fügt unter Berücksichtigung aller Nachforschungen in Gemeindeämtern der Ururenkel des Sohnes vom Superintendenten Paul von Eitzen, anno 1730, hinzu.‘ Unterschrieben ist mit Magnus von Eitzen, Domherr zu Lübeck.“

      Stille – die beiden Zuhörer verharren in Schockstarre, bis die alte Dame erneut das Wort ergreift – sehr still und traurig klingt das nun, was sie jetzt zu sagen hat: „Da hat der Herrgott aber noch ein Einsehen mit dem Paulus gehabt, dass er diese Schmach nicht mehr selbst erleben musste. Die eigene Tochter! In einer Familie, in der Gottesfurcht und Gottesliebe zuhause gewesen sind – solch’ ein Verhängnis! Unglaublich!“ Adelaines Seufzer durchbricht die sekundenlange Stille, die nach Ethels Wehklage eingetreten war, bis sie erleichtert feststellt: „Wie gut, dass ich heute leben darf!“

      Der Großonkel zuckt augenblicklich seine Schultern, während sich seine Nasenflügel zum tiefen Luftholen rüsten und dabei noch verschrumpelter aussehen als im gelockerten Zustand sowieso schon. „Mich deucht, hier duftet es nach Schweinebraten! Sogar nach einem besonders saftigen in kross gebratener Ummantelung! Adelaine, würdest du mir bitte aufhelfen?“

      Und die Folgsame springt schnurstracks aus ihrem Sessel auf, um ihre Hand um das Armgelenk des Hungerleiders zu legen und diesen wahrlich nicht ausgehungert wirkenden Mann zum Genuss versprechenden Mahl zu führen – und jetzt heißt es: Schritt für Schritt dem dampfenden Schwein entgegen.

      KAPITEL NEUN

      „Hier siehst du, Adelaine, das sind die Kinder vom Franz; ein in jeder Hinsicht fleißiger Mann – als da sind zehn Stück an der Zahl! Zwei Frauen waren an der Hervorbringung nicht unmaßgeblich beteiligt. Das hier ist die Magdalene und die zweite Frau hier hieß Margarita.“ Er zeigt dabei auf zwei rechteckige kleine schwarz umrandete Rechtecke. „Da stehen nun wie bei all den vielen anderen nur zwei Zahlen, manchmal ist aber nur ein Name angegeben, in zackigerer, weich, ästhetischer oder auch linkischer Weise verewigt, von unterschiedlichen Schreibern verfasst“, resümiert die aufgeweckte junge Dame, die das philosophische Nachsinnen wohl mit in die Wiege gelegt bekommen haben muss.

      „Jede der unscheinbar wirkenden Figuren steht für ein Leben, wie lang oder kurz, wie sinnvoll oder auch unbedeutend es auch gewesen sein mag. Aber immerhin ist das Kästchen, in dem ein Kind, das mit wenigen Tagen, Wochen oder Monaten die Erde schon wieder verlassen musste, genauso groß wie die Tintenbilder, in denen ein langes Leben festgehalten wird. Mein Gott, besteht ein Menschenleben denn nur aus zwei waagerechten und zwei senkrechten Linien, die mal mit Kantel, mal mit freier Hand aufs Papier gebracht werden? Guck’ mal hier, da macht die schwarze Linie einen klitzekleinen Schwenker nach oben!“

      „Ja, warum denn nicht?“, unterbricht der Großonkel das junge Mädchen. „Vielleicht war einem Vorfahren beim Schreiben, so auch wie bei mir eben gerade, der köstliche Geruch von Schweinebraten in die Nase geweht oder der Betreffende hatte zu tief ins Weinglas geguckt! Wer weiß das alles schon? Denen war auch nichts Menschliches fremd!“

      Die alte Dame muss lächeln. Der kurzen Anmerkung, an die Adresse des Schwagers gerichtet: „Ach, ihr Männer immer … mit euren oft so unpassenden Kommentaren!“, folgt ein verständnisvoller Blick auf ihre Enkelin, die im gleichen Moment ihre Großmutter ins Visier nimmt und die Ohren dabei besonders spitzt, als diese sie in fürsorglichem Ton ins Gebet nimmt. „Mein liebes Kind, beachte bitte, was ich dir jetzt zu sagen habe! Ich spürte schon wenige Jahre, nachdem du unsere Erdenbühne betreten hattest, dass du mit einer besonderen Empfindlichkeit ausgestattet worden bist. So edel dieserart Veranlagung auch sein mag, so führt sie doch andererseits allzu leicht zur Melancholie. Ich weiß um diese Trübsinnigkeiten und ich habe nach besten Kräften versucht, diese Unglückshäher zu vertreiben. Sieh’ mal, diesen Blumenzauber hier …, dieser betörende Duft …, diese filigranen Blütenblätter …, sieh mal, diese hier, rosarot

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